Dass wir Science-Fiction zum Thema der Dezember-Ausgabe von archithese gemacht haben, war egoistisch und berechnend. Das Genre und die in ihm entworfenen räumlichen Welten haben auf uns eine magische Anziehungskraft – und wir haben gehofft, auch auf Sie. Nach dem geschäftigen Jahresende in den Büros bietet die Zeit «zwischen den Jahren» hoffentlich Freiräume zum Lesen. Vielleicht wollen Sie sich von einer etwas anderen Debatte um Architektur und Planung beflügeln lassen und zugleich die Möglichkeit zum Schwelgen und Fantasieren haben? Insgeheim haben wir darauf spekuliert, dass Sie (falls Sie nicht bereits einer unserer treuen oder neuen Abonnenten sind) sich selber, einem Kollegen oder einer Freundin unser Science-Fiction-Heft zu Weihnachten schenken und damit die stetig steigenden Verkaufszahlen in unserem Webshop weiter nach oben schnellen lassen. Wir sind zuversichtlich; schliesslich halten Sie die druckfrische Ausgabe in den Händen.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wir müssen noch ein zweites Geständnis machen: Dieses Heft ist ein Trojaner. Mag es vordergründig Unterhaltung versprechen, haben wir darin eine grundlegende gesellschaftliche Debatte leicht verpackt und mehr oder minder direkt die Aufforderung zu mehr Fiktion in der Architektur in Stellung gebracht. Fiktion wird gemeinhin als Antonym zur Realität verstanden und häufig mit dem Unechten, Unrealistischen oder gar dem Fantastischen assoziiert. Doch sind diese beiden Sphären enger miteinander verwoben, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Fiktion ist vielfach Spiegel von Verhältnissen, Agenden, Wünschen oder Unsicherheiten der Gegenwart. Über viele Jahrzehnte wurde unser Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischem Fortschritt von den in Science-Fiction (vor-) formulierten Trajekten beeinflusst – seien sie positiver oder negativer Natur. In Büchern, Comics, Computerspielen oder Filmen kamen der Architektur – oder besser gesagt: dem Entwerfen visionärer oder utopischer Welten – handlungstragende Rollen zu. Das Genre war und ist ein Labor für zukunftswirksame Ideen; von der Biologie über die Mechanik, die Politik, Gesellschaft und Ethik. Wir werfen Holz ins Feuer.
Doch offensichtlich ist das derzeit nicht opportun, sondern beinahe anachronistisch. Fiktionen scheinen rar geworden zu sein. Eine neue Sinus-Studie will just herausgefunden haben, dass die heutigen Jugendlichen neo-konventionell sind. «Sie versuchen sich nicht gegenüber Erwachsenen abzugrenzen und bilden keine Subkulturen. Zum ‹Mainstream› zu gehören [wird] nicht als Schande empfunden. Junge Menschen wollen auffallend unauffällig sein.» Das stösst selbst bei der Neuen Zürcher Zeitung auf Kritik, obwohl das Blatt selbst gerade vom liberalen Kurs in ein neokonservatives Fahrwasser schwenkt. Bisher hat diese Entwicklung in der Architekturdebatte noch keine grössere Krise ausgelöst, doch in der Redaktion werden wir zunehmend unruhig. Wir sind überzeugt davon, dass sich unsere Disziplin permanent den gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen, kurz, allen gesellschaftlichen Entwicklungen stellen und auf sie reagieren muss; oder noch besser: sie bewusst formen sollte. Kann eine Schriftenreihe zum Gegensteuern beitragen? Als wir bereits vor genau einem Jahr nach Innovationen in der Architektur fragten, stellten wir dem Axiomatischen noch klar das Mimetische anheim. Doch dieses Heft ist allein der Fiktion gewidmet. Wir fragen nach ihrer (möglichen) Rolle für Entwurf, Wissenschaft und Ausbildung und zeigen Zukunftsvisionen und Utopien – bewusst mit einer Prise Exotik und einer gewissen Radikalität.