«Hochschulpolitik» ist nur mittelbar das Thema dieses Heftes; was eigentlich zur Debatte steht, ist die heutige und künftige Stellung und Rolle des Architekten im Baugeschehen der fortgeschrittenen IndustriegeseIIschaft. Die Absicht war, dazu ein Dossier zusammenzustellen. Freilich haben sich die entscheidenden Vorstösse auf dem Gebiet der Theorie und der Praxis des Bauens in der Vergangenheit nur selten im Schosse von Schulen ereignet, und es ist durchaus denkbar, dass es sich auch weiterhin so verhalten wird. Trotzdem ist die Architekturschule der interessanteste Schauplatz der heutigen Identitätskrise der Architektur. Nämlich deshalb, weil die Festlegung von Lehrplänen ganz bestimmte Vorstellungen über die Funktion des Architekten in seiner Gesellschaft und seine spezifische Rolle im Zusammenhang mit der Formung der Umwelt erfordert, und überdies die Notwendigkeit, diese Vorstellungen verbal zu artikulieren. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Reflexion über die Belange der Architektur heute an Architekturschulen bestimmt intensiver ist als im Rahmen der allenthalben üppig florierenden Praxis betrieben wird.
Diese Umfrage wurde von «Aussenstehenden» organisiert, von Leuten, die weder einer Architekturschule angehören noch zum vorneherein das dringende Bedürfnis verspüren, irgendeiner unter den heute gängigen Auffassungen Schützenhilfe zu leisten. Sie sind sich allerdings bewusst, dass «Objektivität» nur in einem sehr allgemeinen Sinne möglich ist, und so erhebt weder die Art der Fragestellung noch die Auswahl der zur Mitarbeit Eingeladenen irgendeinen Anspruch darauf, «objektiv» oder «neutral» zu sein. Die Thematik der Fragestellung richtet sich ganz einfach nach der Thematik der heutigen Diskussion, wie sie – nach unseren eigenen Erfahrungen – in der Schweiz und vor allem an der ETH in Zürich geführt wird. Unsere ursprüngliche Absicht, Antworten einzuholen, die im Hinblick auf jede der angefragten Architekturschulen einerseits den Standpunkt des Lehrkörpers und andererseits den Standpunkt der Studenten «repräsentativ» dokumentieren, war zum vorneherein illusorisch, und so sind denn auch die vorliegenden Antworten repräsentativ nur für ihre jeweiligen Verfasser. Diese wiederum repräsentieren weder eine bestimmte Richtung noch eine bestimmte Berufsgruppe innerhalb der Universität; was sie untereinander verbindet ist einzig die Tatsache, dass sie in irgendeiner Weise beruflich an der Ausbildung von Architekten beteiligt sind und direkt oder indirekt zum Kreis der Mitarbeiter und Freunde von archithese gehören.
Sofern es erlaubt ist, eine Schlussfolgerung aus den vorliegenden Unterlagen zu ziehen, so wäre es die folgende: es besteht heute eine allgemeine Übereinstimmung darüber, dass Bauen soziale, ökonomische und politische Implikationen besitzt, und dass jeder am Bauprozess Beteiligte wissen sollte, wessen Interessen er in diesem Prozess vertritt. Uneinigkeit hingegen besteht unter anderem darüber, in welcher Weise die spezifische Rolle des Architekten an der Gestaltung der sozialen Umwelt zu umschreiben sei, und welche Rolle seinen gestalterischen Fähigkeiten dabei zukommt.
Die Ansichten sind in diesem Punkt derart kontrovers, dass wir in einer späteren Nummer von archithese darauf zurückkommen müssen. Und wenn wir bei der Wahl des Themas und bei der Formulierung der Fragen an einen «idealen Leser» gedacht haben, so ist es am ehesten der Historiker des Jahres 2072, der sich darüber wundert, welches die Probleme gewesen sein mochten, welche den Architekten vor hundert Jahren am dringendsten erschienen; zu einem Zeitpunkt, als die Quantität und die Qualität des Gebauten in einem Grade auseinanderklafften wie kaum je zuvor in der Geschichte.