Schwierigkeiten mit dem Historismus
Der Begriff «Historismus» stammt aus der Nationalökonomie. Seit den 1930-Jahren ist er in der Geschichtswissenschaft geläufig.1 1929 hielt er in der Architekturgeschichte Einzug: damals erschien er als Stichwort in Wasmuth's Lexikon der Baukunst. Aber er diente hier – im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft – weniger zur Kennzeichnung einer allgemeinen kulturellen Einstellung oder «Gesinnung», vielmehr als Sammelbegriff für die verschiedenen Varianten des Stilpluralismus in der Architektur des 19. Jahrhunderts: «Neugotik», «Neuromanik», «Neo-Renaissance», «Neubarock» und «Neoklassizismus». Kurz, jener Stilformen, die zwischen dem Ende des Klassizismus und dem Beginn des Jugendstils die Szene beherrschten.
Dieser «Historismus» war es bekanntlich, den es in den Augen der modernen Bewegung zu bekämpfen und zu überwinden galt, und so spiegelt sich die geschmacksbedingte und von den Bedürfnissen der Praxis geforderte Ablehnung dieser Stilperiode auch in den architekturgeschichtlichen Untersuchungen einer ganzen Generation von Autoren. Giedion hat den ablehnenden Standpunkt der modernen Bewegung gegenüber diesem Historismus besonders deutlich markiert, indem er ihn mit einem Bild aus der Psychoanalyse auf eine «Spaltung zwischen Denken und Gefühl» zurückführte. Seiner Meinung nach schlummerte die wahre Essenz des 19. Jahrhunderts im «Unterbewusstsein» ihrer Architektur – in der Konstruktion und der damit zusammenhängenden «Raumkonzeption», und diese galt es aus der ästhetischen Verschüttung durch die vergangenen «Stile» zu befreien.2
Inzwischen hat sich die Einstellung gegenüber dem Historismus im 19. Jahrhundert bekanntlich geändert. In den letzten Jahren überstürzten sich die panägyrischen Versuche, diesen anscheinenden Makel der Kunstgeschichte neu und positiv zu sehen: konstruktive und wirklich erhellende, wie derjenige von Vogt3, aber auch konfusere, wie der von Evers.4 Im deutschsprachigen Bereich war es vor allem das Forschungsunternehmen «Neunzehntes Jahrhundert» der Fritz Thyssen Stiftung, das der Erforschung des Historismus als Stilepoche in den letzten Jahren Auftrieb gab. Seit 1965 hat dieses Forschungsunternehmen 13 Bände zur Kunst des 19. Jahrhunderts veröffentlicht, von denen der erste, Historismus und Bildende Kunst,5 in unserem Zusammenhang der interessanteste ist.
Im Rahmen der Referate und Diskussionen, die im Oktober 1963 in München und auf Schloss Anif stattgefunden haben, und die dann in dem Band zusammengestellt wurden, ging es unter anderem darum, klarzustellen, dass das Vorhandensein von Historismus in der Architektur keineswegs auf das 19. Jahrhundert beschränkt ist. Mit «Histonsmus» sei vielmehr ein Verhalten gekennzeichnet, für das fast alle Epochen der Architekturgeschichte Anhaltspunkte liefern; ein Verhalten, das, wie Nikolaus Pevsner zeigte, von Fall zu Fall auf verschiedene Kategorien von Motivationen zurückgeführt werden kann.6 So mag der Rückgriff auf ernen früheren Stil in dem Bedürfnis nach Konformität seinen Ursprung haben - etwa dort, wo bewusst veraltete Bauformen gewählt wurden, um ein früher begonnenes Bauwerk zu vollenden; er kann seinen Grund in der Evokation von bestimmten Inhalten haben (Gotik als kirchlicher Stil vom 16. bis 20. Jahrhundert), oder er kann ganz einfach auf ästhetische Präferenz, archäologische Neugier oder romantischen Historismus zurückgeführt werden. In der Wahl seiner Beispiele geht Pevsner bis ins 15. Jahrhundert zurück – aber in Wirklichkeit hat es natürlich «ein eklektisches Verarbeiten historischer Formvorbilder, ein Zurückgreifen auf alte Stilarten und Stilformen (…) zu allen Zeiten in der abendländischen Kunstgeschichte gegeben».7 Hingegen war die Art und die Motivierung der Sti1rezeption von Epoche zu Epoche verschieden, und so gibt es auch eine reiche Literatur zu der Frage, welche Art von Stilrezeption adäquat mit dem Begriff der «Renaissance», der «Renovatio» (Paatz), des «Klassizismus» oder eben des «Historismus» im engeren Sinne, und so weiter, beschrieben werden kann. Zusätzlich, und vereinfachend, schlug Wolfgang Goetz vor, den Begriff des «Historismus» gegenüber demjenigen des«Eklektizismus» abzugrenzen: «Historismus» bedeute eine bestimmte Gesinnung, «Eklektismus» hingegen sei eine künstlerische Methode, mit deren Hilfe sich historistische Gesinnung veranschauliche.8
Damit ist ein Begriffsvokabular geschaffen, das erlaubt, Stilrezeptionen in der Architektur des 19. Jahrhunderts mit derselben Unvoreingenommenheit zu untersuchen wie das ganz selbstverständlich etwa im Hinblick auf das Mittelalter oder den Barock geschieht. Was indes die Kritik der historistischen und eklektizistischen Phänomene und Tendenzen in der Architektur des 20. Jahrhunderts betrifft, so sind wir – übrigens begründeterweise – offensichtlich noch nicht so weit…
(Diese Fassung ist eine gekürzte Version des Textes.)
1 Vgl. vor allem: Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München-Berlin, 1936.
2 Vgl. Raum, Zeit, Architektur, Ravensburf 1965 (Erstausg. 1941), S. 25 f.; S. 157 ff. und passim.
3 Adolf Max Vogt, 19. Jahrhundert (Belser Kunstgeschichte), München, 1971.
4 Hans Gerhard Evers, Vom Historismus zum Funktionalismus, (Kunst der Welt), Baden-Baden, 1967; vgl. auch: Das pompöse Zeitalter, hrsg. von Jürgen Hansen, Oldenburg und Hamburg, 1970. Dort wird das 19. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt seiner Kuriosität präsentiert.
5 Historismus und Bildende Kunst, hrsg. von Ludwig Grote, München, 1985. Vgl. auch: Problems of the 19th and 20th Centuries. Studies in Western Art. Acts of the twentieth International Congress of the History of Art, Bd. IV, Princeton, 1963.
6 Nikolaus Pevsner, «Möglichkeiten und Aspekte des Historismus. Versuch einer Frühgeschichte und Typologie des Historismus», in Historismus und Bildende Kunst, S. 13–24.
7 Wolfgang Götz, «Historismus. Ein Versuch zur Definition des Begriffes», in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Heft 1–4. 1970. S. 196–212; hier 201.
8 «Die Wiederkehr des Historismus», in: Historismus und Bildende Kunst, S. 116–117.