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Wieder kritisch sein

Aus ehemaligen Industriemetropolen sind in den letzten Jahrzehnten Zentren einer neoliberalen Netzwerk-Gesellschaft geworden. Doch wirkliche Antworten auf geopolitische Entwicklungen gibt es im Architekturdiskurs heute nur mehr wenige. Statt mit Systemkritik aufzufallen ist, das Feld der Architektur, das sich stets als Hebel in der Welt sieht, mittendrin in Selbstvermarktung und Individualisierung. Mit seinem neuen Werk attackiert Douglas Spencer verschiedene «post-kritische» Ansätze, die derzeit besonders in der Architektur en vogue sind, und legt gekonnt den Grundstein für ein Neuaufleben der Architekturtheorie. Die Lektüre empfiehlt sich für alle, die schon von Manfredo Tafuri inspiriert waren.

 

Text und Bild: Martin Kohlberger – 25. Februar 2021

 

Seit dem Ende des Wirtschaftswunders hat sich in der Welt einiges verändert – unter dem Mantra des Sparzwangs sind grossmassstäbliche Projekte und Zukunftsvisionen fast nicht mehr möglich. Das Bild, dass Architektur und Gestaltung die Welt verändern können, besteht zwar in den Architekturschulen weiter, aber im grossen Kontext der Geopolitik erscheint die Architektur schnell klein und unbedeutsam. – Es ist auch wahrlich kein Leichtes, mit einzelnen Planungen die Welt zu verändern. Ein grosses gemeinsames Projekt, wie das Lösen der Wohnungskrise, gibt es in der Architektur nicht mehr. In diesem Klima ist nach und nach das Politische in der Architektur in den Hintergrund gerückt. So heisst es heute vor allem: «Wenn nicht ich das Projekt ausführe, bekommt den Auftrag einfach das nächste Architekturbüro».
Einem derartigen Verständnis stellt der britische Architekturtheoretiker und Autor von The Architecture of Neoliberalism,Douglas Spencer, mit seinem neuen Werk Critique of Architecture: Essays on Theory, Autonomy, and Political Economy,seine Kritik entgegen. Er fordert darin eine positive Wertung der Kritik der Architektur. Formulierte Spencer die theoretischen Bezüge in seinen vorausgegangenen Publikationen eher verklausuliert, bekennt er sich nun offen zu historisch-materialistischen Theorien von Karl Marx über Michel Foucault bis hin zu Manfredo Tafuri. Das Buch ist in der Reihe Bauwelt Fundamente auf Englisch erschienen. Neben bereits älteren Essays enthält es weitere neu verfasste Aufsätze, die sich gemeinsam zu einer Theorie fügen.

 

Post-Kritische Wende
Die Beschäftigung mit der Wirkmächtigkeit und den Auswirkungen des eigenen Handelns findet – geht es nach Douglas Spencer – in der Architektur viel zu wenig statt. Wenn auch in der Schweiz, Deutschland und Österreich weniger als in englischsprachigen Ländern, rechtfertigen Architekt*innen im aktuellen Diskurs das eigene Handeln gerne mit philosophischen Theorien, die dieses in einen komplexen Rahmen setzt. Für Spencer hinterfragen Gestaltende viel zu selten das eigene Handeln.
Bei diesem Verhalten stellt der Autor eine post-kritische Wende in der Architektur fest, die sich seit den Neunzigern vollzieht. Diese Wende kennzeichnet sich durch die Rezeption des Philosophen Gilles Deleuze und anderen wie Reyner Banham und Marshall McLuhan, mit denen das Narrativ einer komplexen und nicht charakterisierbaren Welt einhergehe. Anstatt offensiv systemische Problematiken in der Welt zu ergründen, die zu Ungleichheit oder der Klimakatastrophe führen, wendet sich die Architekturwelt der Computer-Modellierung und -Berechnung zu, die allgemein als unvoreingenommen, das heisst objektiv, und rational gesehen werden. Dass dabei ebenso Subjekte hinter Computer-Programmierung stehen, wird vergessen.
Zu dieser Gruppe rechnet Douglas Spencer auch eine Vielzahl an Architekt*innen und grossen Architekturbüros, allen voran Patrik Schumacher, Greg Lynn oder Foreign Office Architects. Diese beziehen sich, ebenso wie der bekannte französische Philosoph Bruno Latour, auf die sogenannte Systemtheorie. Zentral dabei ist, so die kritische Analyse des Autors, dass gesellschaftliche und ökonomische Zusammenhänge in der Welt als sich erneuernd, selbsterhaltend und nicht ideologisch geprägt wahrgenommen werden – ähnlich der unsichtbaren Hand des Marktes –, weshalb in der gängigen Logik dieser Theorieströmung auch keine kritische Gegenposition zu den bestehenden ökonomischen und politischen Verhältnissen formuliert wird. Schuld an Klimakatastrophen ist demnach in dem Kontext nicht das ökonomische System, in denen diese entstehen, sondern ein Ungleichgewicht ebenjenes Systems, in welches die Menschen besser nicht eingreifen sollten.

 

Produzierte Produzenten
Bereits der italienische Architekturtheoretiker Manfredo Tafuri forderte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Kritik von Architektur und Kunst aus einer klassentheoretischen Perspektive. Das nimmt Douglas Spencer auf und übt ebenso scharfe Kritik an der der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour oder den als «Neuer Materialismus» bezeichneten Theorien. Diese sind unvereinbar mit einer materialistischen Kritik, die Klassen und die damit einhergehenden ökonomischen Zwänge, Arbeit und Kapital als Kategorien unterscheidet, da die Urheber*innen der Theorien plädieren, nicht zwischen Subjekten und Objekten zu differenzieren. Der Neue Materialismus und dessen Befürworter*innen sprechen vor allem von Materie, die allem gleichsam zu Grunde liegt. Dem stellt der Autor Douglas Spencer entgegen, dass sich auch in der Architekturproduktion ein dialektisches Verhältnis niederschlägt, das so verschleiert wird: Die Produzenten, das sind in diesem Fall alle Architekt*innen, produzieren nicht nur ihr Produkt, sondern durch ihre Arbeit auch sich selbst als Subjekte.
Das verdeutlicht Spencer anhand des Beispiels der Ford-Werke, die als Sinnbild des Fordismus gelten und neben Autos auch wohlerzogene Subjekte produzierten, die sich brav den Arbeitsbedingungen fügten. In der jetzigen, als Postfordismus bezeichnete Phase des Kapitalismus der westlichen Welt gehört zwar das Bild des männlichen Fabrikarbeiters und Alleinverdieners der Vergangenheit an. Doch auch der neoliberale Postfordismus produziert, ganz dialektisch, wohlgeformte und vereinzelte Subjekte, die sich durch ihre von der körperlichen Arbeit zur Kopfarbeit verschobenen Tätigkeit selbst produzieren und zumeist auch gegenüber anderen repräsentieren wollen. Die Architektur spielt mit und plant vernetze Büros und Lernräume, die schon in den Universitäten studentische Unternehmer und Unternehmerinnen heranziehen.

 

Pessimistisch – optimistisch
In der Moderne war klar, dass die Architektur vor allem zur Erfüllung eines politischen Projektes dient. Architektur sollte die Lebensumstände der Bevölkerung verbessern. – Das Bewusstsein für die politische Bedeutung von Architektur ist seither verloren gegangen. Für Douglas Spencer bedeutet das, dass ein Zusammenschluss der Architekturschaffenden und der Glauben an ein gemeinsames politisches Projekt, das nicht von der Architektur alleine gestemmt wird, notwendig ist. Denn selbst gute Architektur ist alleine keine Lösung – diese könne die Gesellschaft nur erträglicher machen, aber nicht ändern. Ohne die Kritik der ökonomischen Verhältnisse des Status quo, an dem auch alle Planenden als Teil der Produktion der gebauten Umwelt Teil haben, bewirkt das Feld der Architektur und Gestaltung bei allen Bezügen auf philosophische Theorien vor allem eines: die Reproduktion der herrschenden Verhältnisse.
Dabei beschreibt Douglas Spencer den Handlungsraum der Architektur so ernüchternd, wie es klingt. Er gibt uns auch kein optimistisches Bild des derzeitigen Architekturdiskurses, der in seinem Buch vor allem als ein Mittel zur Selbstbestätigung der eigenen Praxis erscheint. Es geht vielmehr darum über die Architekturdisziplin hinaus mit anderen für eine bessere Welt zu kämpfen. In Erinnerung an die elfte Feuerbach-These von Karl Marx, die besagt «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber drauf an sie zu verändern», ermutigt Douglas Spencer beginnend mit einer Kritik am kritiklosen Architekturdiskurs zu einer aktiv-kritischen Architekturtheorie.

 

Das Buch Critique of Architecture: Essays on Theory, Autonomy, and Political Economy von Douglas Spencer ist im Januar 2021 in der Reihe Bauwelt Fundamente des Birkhäuser Verlags erschienen. Mit 12 Aufsätzen auf 228 Seiten hält der Autor ein Plädoyer für eine politische Kritik der Architektur.

 

> Anlässlich des 40. Jubiläums beschäftigte sich archithese in der Ausgabe 4.2011 Architekturkritik eingehend mit der eigenen Disziplin und aktuellen Strömungen.

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> Zur Eröffnung des Podiumsgesprächs zum 50. Jubiläum des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH fragt Philipp Ursprung «Ist die Theorie tot?»

 

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