Warum wir den Pritzker-Preis kritisch hinterfragen sollten
Seit 45 Jahren gibt es ihn. Alle kennen ihn. Die meisten wollen ihn. Die Rede ist vom Pritzker-Preis, der höchsten internationalen Auszeichnung für Architektur. Am 5. März 2024 wurde ein neuer Träger des prestigeträchtigen Awards bekanntgegeben. Riken Yamamoto konnte ihn dieses Jahr für sich entscheiden. Damit reiht er sich ein in eine Reihe bekannter Namen, die zu 90 Prozent männlich und zu 85 Prozent in den USA, Europa oder Japan tätig sind. Es scheint, als habe sich der Pritzker-Preis seit seiner Entstehung 1979 kaum weiterentwickelt. Wie aktuell ist er noch? Und was können wir von ihm erwarten?
Text: Nele Rickmann, 13.03.2024
Nichts sollten wir als gegeben hinnehmen. Das, was da ist, stetig hinterfragen. Denn nur so wächst man und nur so kann mich sich weiterentwickeln. Warum also nicht den Pritzker-Preis kritisch beäugen, statt ihm immer wieder zu verfallen? Ja, diese weltweit bekannte und geschätzte Auszeichnung für herausragende Architektur, von der uns schon im ersten Studiensemester eingebläut wird, man habe es geschafft, wenn man sie erhalten habe, und zwar unter die ganz Grossen. Moment mal – auch ich werde erwachsen, die Studienjahre sind vergangen, und seit einer Weile frage ich mich, was mir als junge Frau der Pritzker-Preis eigentlich sagen, oder besser, vermitteln will.
Für mich hat sich der Eindruck verfestigt, dass das Ganze in der Zeit stillzustehen scheint. Wir haben uns doch schliesslich in den letzten 45 Jahren weiterentwickelt, die Rollen der Frauen in der Architektur anerkannt, gesagt, dass wir unabhängig vom Geschlecht gleichberechtigt sind und dass wir auch gleichermassen wertschätzen können – und, ja, dass wir den western gaze auch gar nicht toll finden, weil das eh alles nur einseitig ist. Oder etwa nicht?
Die Frage ist: Spiegelt der Pritzker-Preis als grosse Auszeichnung die Realität wider, oder geht er an ihr vorbei? Ein Blick auf die 47 Preisträger*innen der letzten Jahre offenbart ein schockierendes Bild. Fangen wir in dem Land an, wo der Pritzker-Preis 1979 vom amerikanischen Unternehmer Jay A. Pritzker – und seiner Frau Cindy – ins Leben gerufen wurde. Die USA zählen insgesamt acht Preisträger (allesamt männlich). Europa mehr als doppelt so viele: davon 20 männlich, zwei ausschliesslich weiblich und zwei als männlich-weibliche Doppelspitze. Japan als Land der Architekturikonen bringt sieben männliche Preisträger und zumindest eine männlich-weibliche Doppelspitze hervor. Lediglich 15 Prozent und damit sieben Preisträger (allesamt männlich) arbeiten in Mittel- und Südamerika, China, Indien, Australien oder Afrika. Weibliche Architektinnen (Doppelspitze mit eingerechnet) machen insgesamt nicht mehr als zehn Prozent der Preisträger*innen aus.
Jetzt kann man in Bezug auf Alter und Geschlecht argumentieren und sagen, dass mit dem Pritzker-Preis herausragende Lebenswerke ausgezeichnet werden sollen. Das ginge einerseits mit einem höheren Lebensalter einher – was die Jury anscheinend ähnlich sieht, denn 2022 lag der Altersdurchschnitt der Preisträger*innen bei circa 64 Jahren. Lediglich Ryue Nishizawa war 44 Jahre alt, als er 2010 gemeinsam mit Kazuyo Sejima die Auszeichnung entgegennahm. Andererseits sei es natürlich so, dass in der Vergangenheit hauptsächlich männliche Architekten aktiv waren, ein eigenes Büro gründen konnten et cetera pp. – dies vor allem, weil wir und die Branche von einer patriarchalen Struktur geprägt sind. Aber heute wäre das alles anders. Wirklich? Dann sollte sich das in der Vergabe des Pritzker-Preises viel eindeutiger widerspiegeln. Tut es aber nicht.
Ich bin natürlich nicht die Erste, die sich solche Gedanken macht. Bereits vor mehr als zehn Jahren hat die Studierendenorganisation Woman in Design der Harvard Universität eine Petition gestartet. Mit dem Ziel, den 1991 an Robert Venturi verliehenen Pritzker-Preis in gleichen Teilen seiner Lebens- und Arbeitspartnerin Denise Scott Brown zuzuschreiben, ist das Vorhaben gescheitert. Die Architektin entgegnete dem Nachrichtensender CNN: «As a woman, I had felt excluded by the elite of architecture throughout my whole career.» Hat sich seit den Neunzigern etwas verändert? Das gleiche Schicksal ereilte Lu Wenyu, deren Partner Wang Shu 2012 den Pritzker-Preis erhielt, sie jedoch nicht.
2020 meint die – grösstenteils männliche – Jury zu reagieren, hielt vielleicht die auf sie einwirkenden Zwänge nicht mehr aus. Den dazumal verliehenen Pritzker-Preis an die irischen Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara begründete sie mit: «They were pioneers in a field that has traditionally been and still is a male-dominated profession [and] beacons to others as they forge their exemplary professional path.» Aha – es gäbe also noch andere Architektinnen, denen (unter anderem) Farrell und McNamara als Vorbilder dienen. Komisch nur, dass seither nur noch Anne Lacaton in Doppelspitze mit Jean-Phillippe Vassal den grossen Preis verliehen bekam.
Ich könnte es auch so sagen: Der Pritzker-Preis scheint den Kritiker*innen immer mal wieder Brotkrümel hinzuwerfen, um den Anschein zu vermitteln, man würde mit dem Zeitgeist gehen. Das geschah wieder 2022 als Diébédo Francis Kéré als erster aus Afrika (Burkina Faso) stammender Architekt die Auszeichnung erhielt. Ein Hoffnungsschimmer, ein Funken, der einen glauben liess: Okay, jetzt haben sie es verstanden. Im darauffolgenden Jahr haben wir daraufhin eine Wette in der Redaktion abgeschlossen, wer den Preis dieses Mal für sich entscheiden wird. Ich habe damals gesagt: «Anupama Kundoo, vielleicht? Ich finde ihre Arbeiten und ihren Lebensweg bemerkenswert.» Am Ende war es David Chipperfield, der den Pritzker-Preis 2023 mit nach Hause nahm. Ob ich überrascht sei? Nein.
Ich möchte und muss letztlich anmerken, dass es mir nicht darum geht, zu sagen, welche Architektur, welcher Architekt oder welche Architektin die oder der Bessere ist. Es geht mir auch nicht darum, die Arbeiten von Chipperfield oder Yamamoto abzuwerten. Und ich wäre auch dagegen, jetzt nur noch Frauen den Preis zu verleihen. Grundlegend geht es mir um eine Balance, das Vermitteln einer angestrebten Ausgewogenheit, und ein zeitgemässes Bewusstsein gegenüber der Wahl, die getroffen wird. Denn derzeit vermittelt der Pritzker-Preis immer noch: Ich bin alt, weiss, männlich. Leider.
Schade ist vor allem auch, dass er so in Zukunft nicht gewinnen wird. Im Gegenteil: Wir sind müde geworden. In diesem Jahr waren wir zum ersten Mal unerwartet überrascht, dass er schon verliehen wurde. Wir haben ihm nicht mehr die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihm gebührt, nicht gespannt das Ergebnis erwartet. Denn eigentlich sehnen wir uns nach einer Auszeichnung, die unterstützend wirkt, fortschrittlich ist, zukunftsweisend, gleichermassen männlich wie auch weiblich, anders und inspirierend, überraschend unbekannt – und noch so vieles mehr.