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Diffuse Konturen

Die Bausubstanz Europas als einigendes Element des Kontinents: Davon schwärmt der Kunsthistoriker und Architekturkritiker Jürgen Tietz in seinem Buch Monument Europa. Was als flammendes Plädoyer für die Einheit Europas gemeint ist, legt aber hauptsächlich die Vielseitigkeit der Interpretationsmöglichkeiten von Bauwerken offen.

 

Text: Manuel Pestalozzi – 7.11.2017

 

Europa als sich wandelnder Begriff
Wikipedia weiss es: Den Begriff Europa verdanken wir den antiken Griechen. In der Mythologie wird so eine Königstochter, eine Verführerin des Gottes Zeus, genannt. Der Geograf Herodot nannte die Landmasse nördlich des Mittelmeers und des Schwarzen Meers Europa. Er grenzte diese so ab von den Landmassen Asiens und Afrikas, die ebenso zum antiken griechischen Universum gehörten. In den anschliessenden zweitausend Jahren dehnte sich die Begriffsanwendung im Sinne Herodots nach Westen, bis zum Atlantik, nach Norden bis zur Polkappe und nach Osten bis zu Ural und Kaukasus aus, es bezeichnet – eigentlich nicht korrekt – einen Kontinent. In unseren Tagen sagt Bernard-Henri Lévy, Europa sei «kein Ort, sondern eine Idee».

 

Vereintes Europa, gemeinsame Baukultur?
Für Tietz, Deutscher, ist Europa ein Kulturraum, der seinen Bewohnern eine Identität geben soll. Er ist ein Anhänger der Idee, dass die Europäische Union nicht nur ein Staatenverbund, sondern auch ein Bündnisstaat ist, der sich um diese Identität bemühen muss. Und er ist überzeugt, dass die historische Bausubstanz des Kontinents dabei einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Dieser Überzeugung hat er sein Buch gewidmet, das pünktlich zum Europäischen Kulturerbejahr 2018 erschienen ist. Seine Beschwörung der «europäischen Relevanz» des gebauten Erbes erfolgt explizit vor dem Hintergrund der Turbulenzen, durch welche die EU aktuell navigieren muss.

 

Der Geist der Grand Tour
Der Verdacht, dass ein solches Projekt argumentativ zum Scheitern verurteilt ist, bestätigt sich leider bei der Lektüre sehr schnell. Wenn Tietz von seinen Besuchen «europäischer» Stätten berichtet, in denen er sachdienlicher Bausubstanz begegnet, so wirkt er wie ein versierter Feinschmecker, der sich zu kultiviertem Genuss befähigt sieht. Wiederholt erwähnt er als Vorbild die Grand Tour, welche Adlige und Vermögende Nordeuropas im 18. und 19. Jahrhundert in den Mittelmeerraum führte. Die heutigen Städtereisen der Touristenmassen seien in diesem Geiste zu sehen, meint Tietz. Demnach hat sich der Erkenntnis- und Bildungshunger der feudalen Eliten früherer Zeiten in die Breite der Wohlstandsgesellschaften ausgedehnt. Ob diese vermeintlichen Kulturpilgerreisen heute die Massen Europas verbrüdern? Ob die Grand Tour die Oberschicht Nordeuropas einst den Völkern Griechenlands oder Italien wirklich näherbrachte? So gerne man es glauben möchte, Zweifel sind schwer auszuräumen.

 

Unterschiedliche Kontexte
Gotthard-Hospiz, Alhambra, Petersdom, Tuileries, Danziger Werft, Abtei von Cluny, Akropolis, Kloster Lorsch, Rigas Jugendstil – erzählen Sie von europäischen Gemeinsamkeiten? Man kann es so sehen, wenn man will, doch die Sichtweise entbehrt nicht der Willkür und wirkt forciert. Widmet man diesen Stätten, ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einige Gedanken, so erkennt man in ihnen, allen wortreichen Erläuterungen von Tietz zum Trotz, kaum einen Willen zur Einheit. Vielmehr scheinen sie in Erinnerung zu rufen, wie diffus die Grenzen des geografischen und auch des ideellen Europas sind, wie unklar zu erkennen ist, wo es anfängt, wo es aufhört. Diese Monumente zeichnen nicht ein Bild von Einheit, sondern eher eines vom Widerstreit politischer und philosophischer Konzepte, von Machtkämpfen und von sich überlappenden kulturellen Einflusssphären, die in verschiedene Richtungen über Europa hinausreichen. Das ist zwar durchaus erquickend und anregend, doch den europäischen Einheitsgedanken, wie er Tietz vorschwebt, unterstützt es nicht.

 

Jürgen Tietz, Monument Europa. Wie Baukultur europäische Identität stiftet, Zürich 2017.

 

> Mehr zur Architektur Europas erfahren Sie im gleichnamigen Themenheft von archithese, das im Dezember 2014 erschien.

> Ignacio Evangelista zeigt in seiner Fotoserie After Schengen verlassene Grenzposten der EU.

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