Das aktuelle Heft: Spiegel
Spätestens seit sich Spiegelglas industriell herstellen lässt, sind Spiegel zum Alltagsgegenstand geworden. Unscheinbar wirken sie dennoch nicht; der optische Trick mit der Reflexion des Lichts bleibt ein Faszinosum, das mal entzückt, mal erschreckt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der europäischen Kulturgeschichte: Prudentia (Lat. Klugheit), Superbia (Stolz) und Vanitas (Vergänglichkeit) werden gleichermassen mit Spiegeln assoziiert. Spiegel können zur Selbsterkenntnis führen oder auch virtuelle Welten eröffnen. Stets zeigen sie einen Ausschnitt der Wirklichkeit, der mitunter nur kurzfristig oder beiläufig aufscheint. Spezielle Spiegel verzerren die Realität – oder sie arrangieren die Fragmente neu, wie ein Kaleidoskop. In der Literatur (Lewis Carroll, Through The Looking-Glass, and What Alice Found There, 1871) oder im Film (Jean Cocteau, Orphée, 1950) wird die Vorstellung anschaulich, dass sich hinter dem Spiegel eine andere Welt verbergen könnte. In einer Inszenierung von Händels Alcina (Stuttgart 1998, Uraufführung London 1735) verwendete Anna Viebrock einen gewaltigen Rahmen, der wie ein Spiegel wirkte, tatsächlich aber Einblicke in einen realen, dahinterliegenden Raum bot: Die Titelfigur ist eine Zauberin. Theater der Illusionen: Wir sehen Spiegel selbst dort, wo keine sind.
Wie facettenreich das Thema Spiegel ist, zeigt auch dieses Heft. Es besteht aus kürzeren Texten, die sich einzelnen kulturellen Aspekten des Spiegels und seiner Verwendung widmen, und längeren, in denen es um architektonische, künstlerische oder philosophische Positionen geht. Die kürzeren Beiträge sind alphabetisch, die längeren im weitesten Sinne chronologisch sortiert. Durch die Verschränkungen beider Gliederungssysteme ergeben sich Zufallsbekanntschaften. Immer wieder nehmen die Texte aufeinander Bezug: Schlüsselbegriffe, die andernorts aufgegriffen werden, sind hervorgehoben, was zu einer nicht-linearen Lektüre ermutigt. Die Grafik unterstützt diese Idee, sodass beim Lesen das Heft immer wieder gedreht werden muss. Schliesslich spiegelt es sich in sich selbst. Die Kurzform von Spie(ge)l ist das Spiel.
Die Redaktion
> Die aktuelle archithese Spiegel ist ab heute im Onlineshop erhältlich.