Keinerlei Proportion
Frankfurt, Düsseldorf, Köln, Stuttgart – mitteleuropäische Städte von einer mit Zürich vergleichbaren Grösse und Bedeutung, wurden durch Bomben entstellt. Zurich existiert noch, einigermassen. Der Traum von 1933, das Niederdorf in eine Pflanzung von Scheibenhäusern verwandeln – er mutet heute wie eine makabre Vorwegnahme von Krieg und Wiederaufbau an – blieb glücklicherweise Phantasie. So bot sich Zürich nach dem zweiten Weltkrieg dar, wie es die Eintragung in der Encyclopedia Britannica, etwas optimistisch, dokumentiert: als eine der schönsten Stadte Europas.
Warum? Weil im Zentrum Zürichs, wie alte Postkarten noch zeigen, Masstab und Charakter einer Stadt zu erkennen war (und sogar noch zu erkennen ist), die eine Geschichte besitzt und in der gewohnt wird.
Das ist im Begriff, sich zu ändern. Der «Fortschritt», die «Prosperität» und der «Stolz» dieser Stadt wollen es so. Das Zentrum wird «saniert»; was das heisst, weiss jeder, der kein Gnom ist und trotzdem dort wohnen möchte. Es wird sogar grosszügig geplant, im Schutze von VerwaItungspraktiken, die selbst grundsätzliche Skepsis gegenüber dem demokratischen Charakter unserer Institutionen noch verblüfft. Es werden überdies von den Ämtern Verkehrskonzepte erarbeitet, die den «Fortschritt» noch rapider in Form von Betonnudeln aller Grösse bis an die Gurgel der Stadt heranzuführen versprechen. Banken, Warenhäuser, Versicherungspaläste, Hotels schiessen aus dem Boden; oft gar nicht so schlecht, und deshalb vom Stadtrat prompt als «gute Architektur» ausgezeichnet. Fürwahr, Aesthetik wird geliefert, sie rentiert sogar, und bedarf demzufolge nicht der Propaganda. (Dass es hier Nuancen gibt, sei doch noch am Rande vermerkt; es lohnt sich, einmal darauf zurückzukommen.)
Aber es ist Sand in das Räderwerk des Fortschritts geraten. Die Stimmbürger machen nicht mehr mit. Genug der glänzenden Vitrinen, der rassigen, in der Form von Pop-Fassaden vorgezeigten Geschäftsreklamen, der musikalisch untermalten Fussgängerpassagen. Kein Wunder, dass die NZZ «besorgt» den Mahnfinger hebt: «Den Zürchern kommt der Stolz abhanden, die Aufgaben ihrer Stadt zu lösen», so wurde am 11. Juni 1972 geklagt, kaum dass einige AbstimmungsresuItate verraten, dass die Stimmbürger nicht mehr einsehen, wieso diese «Prosperität» dauernd mit öffentlichen Geldern und mit einem rapiden Verlust an Lebensqualitat berappt werden muss. «Diese Stadt scheint ihrer selbst überdrüssig, ihrer eigenen Grösse müde geworden zu sein. Eine einseitige Perspektive, in der die Kritik keinerlei Proportionen wahrt, greift um sich.»
Auch unser Heft dokumentiert dieses «Umsichgreifen», das in der Tat, wie die NZZ richtig konstatiert, ein dominierendes Phänomen der gegenwärtigen Zürcher Szene ist; allerdings, wie wir meinen, ein positives und notwendiges. Und was die Kritik betrifft, von der es heisst, dass sie «keinerlei Proportionen wahrt», so wird deren auch hier vorgetragen. Wahrscheinlich ist das viel weniger schlimm, als wenn etwas anderes keinerlei Proportionen wahrt: nämlich eine ganze Stadt und der nackte Erwerbstrieb jener, die sich in den Kopf gesetzt haben, sie zu «sanieren».