Nachdem
archithese vor vier Jahren als erstes deutschsprachiges Architekturmagazin das Problem von «zu wenig Frauen in Führungspositionen in der Architektur» mit einem
Sonderheft angegriffen hat, gähnten uns weitere schwarze Löcher im Diskurs und Ungerechtigkeiten in der Disziplin immer unverhohlener an. Deren Gravitation mag geringer sein, aber dafür sind sie umso tiefer und dunkler. So entschieden wir uns, die anderen grossen Gruppen, die in der Architektur benachteiligt sind, ebenfalls mit der
schriftenreihe nach und nach ins Zentrum zu rücken: LSBT*QI+, Ausländer*innen und Migrant*innen sowie Menschen mit körperlichen und psychischen Abweichungen von der «Norm». Das vorliegende Heft ist für uns damit das zweite Kapitel einer Gruppe, die hoffentlich in den nächsten Jahren zu einem emanzipatorischen Quartett heran wachsen wird.
Das
Queer-Heft stellt nun LSBT*QI+ ins Rampenlicht. Es spricht ihre Probleme an, erhebt Forderungen und will damit zuallererst als Statement verstanden werden; es prangert Ungerechtigkeiten gegenüber queeren Menschen weltweit an – von Gewalt und Kriminialisierung als ärgster Form der Diskriminierung ganz allgemein bis hin zu alltäglichen Erfahrungen von Homo- und Transphobie, Lohnungleichheit und fehlender Parität in der Architektur im Besonderen.
Weltweit gehören geschätzt 1,2 Milliarden Menschen der Gruppe der LSBT*QI+ an, was einem Bevölkerungsanteil von 14 Prozent entspricht – die reale Zahl wird vermutlich noch höher sein. Nehme ich mein eigenes Umfeld als Massstab, dann arbeiten in der Architektur überproportional viele Schwule und Lesben. Doch in den Chefetagen und bei den Professuren ist ihr Anteil erstaunlich gering – oder sie sind da, verstecken aber ihre Sexualität vor der Öffentlichkeit? Wenn ja, warum ist das (noch immer) so? Warum outen sie sich nach wie vor nur zögerlich in ihrem Berufsumfeld? Schliesslich rühmt sich die Architektenschaft meist als liberal und weltoffen. Offensichtlich herrscht dann doch kein Klima, in dem man sich unbekümmert als queer zu erkennen gibt und schon gar nicht in einer breiteren Öffentlichkeit exponieren würde. Doch das sind nur «gefühlte Fakten», denn bis heute hat ausser dem
Architects’ Journal niemand überhaupt erst versucht, Zahlen zur Situation der LSBT*QI+ in der Architektur zu ermitteln. Das allein spricht Bände. Im deutschsprachigen Architekturdiskurs ist zu Queerness auch fast nichts zu lesen – weder von noch über LSBT*QI+. Auch die Queers in den Architekturredaktionen verharren in irritierendem Schweigen.
Doch es geht nicht nur um die Architektur als Arbeitsumfeld. Wir müssen dringend unsere gebaute Umwelt hinterfragen: Nimmt sie queere Bedürfnisse ernst? Kaum – Städtebau und Wohnungsbau werden meist von Heteros gemacht. Sie stülpen – bewusst oder unbewusst – ihre normativen Vorstellungen über alles. Es ist Zeit, zu fragen, welche gebaute Umwelt die mehr als 14 queeren Prozent der Bevölkerung wünschen.
Doch das Thema ist nicht bloss Politikum und Forderung nach mehr und geeigneteren Räumen für Queers. Queering kann abstrahierter betrachtet als kreative Methode verstanden werden und einen reichen methodischen Werkzeugkasten für den Entwurf ganz allgemein bereitstellen. Daher fokussiert das neue Heft inhaltlich vor allem auf Potenziale für die Architektur, die der Diskurs rund um Gender, die von der heterosexuellen Norm abweichen, entfalten kann.
Im englischen Sprachraum wurde in den 1990er-Jahren bereits einiges dazu formuliert. Diesen Diskurs reflektieren wir, fragen aber zugleich nach der Gegenwart der Debatte. Auf den ersten Blick steht Queering für Beliebigkeit und Exzess. Sobald tiefer geschürft wird, finden sich andere, fruchtbare Aspekte: Beim Lösen aus normativen Fesseln geht es um Spielräume, Mehrfachlesbarkeiten, Nischen und das Verschieben von Grenzen. Queering kann helfen, Architektur nicht mehr als statisches Konstrukt, sondern als performativen Akt zu verstehen. Soweit für den Anfang – Umfangreiches dazu bieten die neun Essays unserer (beinahe ausschliesslich queeren) Autor*innen. Nun heisst es: Vorhang auf für eine queere(re) Architektur!