Zuckersüsser Brutalismus
Mit Brutalist Playground bringt das Vitra Design Museum eine interaktive Installation im Cross-Over zwischen Architektur und Kunst aufs Festland. Die Rekonstruktionen zerstörter oder heute unzugängliche Spiellandschaften Britischer Grosssiedlungen sind Fotos aus dem Archiv der Britischen Architekten Kammer nachempfunden. Die Installationen sollen Scheuklappen öffnen, eine neue Lesung des Brutalismus ermöglichen und eine Debatte um zeitgenössische städtische Räume für Kinder in Fahrt bringen. Die Ausstellung dreht sich mitunter um das zentrale Thema des Risikos. Denn welche Formen und Materialien sind für einen Spielplatz heute überhaupt noch akzeptabel? Wie weit kann der Architekt bei der Gestaltung noch gehen? Diese und weitere Fragen zum humanistischen Ansatz der modernen Siedlungsarchitektur stellten sich Simon Tirrell bildender Künstler und die Architektinnen Jane Hall und Joe Halligan vom Studio Assemble.
Text: Anne-Dorothée Herbort – 26.1.2017
Betonriesen in Hochkonjunktur
Wohl kaum eine Spielart der Architektur des 20. Jahrhunderts ist so umstritten wie der Brutalismus. Doch mittlerweile werden die kraftvollen Architekturen ob ihren sozialen Ansätzen wiederentdeckt. Diese Siedlungen stecken in einem Gentrifikationsprozess. Denn Architekten und Designer loben ihre gut geschnittenen Grundrisse und mieten sich für teures Geld selbst ein. In der Unité d’habitation in Marseille etwa, die damals als vertikale Stadt mit sozialem und humanistischen Hintergedanken von Le Cobusier entworfen wurde, stehen heute die meisten Wohnungen leer. Denn die prestigeträchtigen Immobilien gelten der High-Society nämlich inzwischen als lukrative Geldanlage. Hierzulande bereiten die sozialen Siedlungen hingegen eher den Denkmalpflegern Kopfzerbrechen. Sind Betonsanierungen doch sehr kostspielig und nur mit grossen Verlusten der Patina möglich. Zudem machen es oft komplexe Eigentumsverhältnisse besonders schwer ein einheitliches Sanierungskonzept zu entwickeln. Die Schau im Vitra Design Museum zeigt also schlussendlich einen Weg auf, wie die Bevölkerung zum Erhalt dieser oft als monströs, abweisend und unsensiblen verschrienen Architekturen, sensibilisiert werden kann. Die Installationen sollen Scheuklappen öffnen und eine neue Lesung des Brutalismus ermöglichen. Indem sie das Archiv- und Fotomaterial der britischen Architekten Kammer neu inszeniert und zerstörte oder heute unzugängliche Spielplätze brutalistischer Wohnsiedlungen wieder zum Leben erweckt. Sie laden alle Museumsbesucher ein, die drei Nachbauten aus recyceltem Verbundschaum selbst zu erkunden.
No Risk no Fun
Das Künstlertrio geht bei der Neuinterpretation nicht wissenschaftlich vor, sondern begibt sich auf eine intuitive Entdeckungsreise architektonischer Objekte, welche sich zwischen skulpturaler Kunst und zweckmässigem Spielplatz bewegen.Eine perfekte Replika der Spiellandschaften zu konstruieren war in keiner Weise das oberste Ziel des Ausstellungsteams. Sie wollen den Fokus von der reinen materiellen Diskussion auf welche der Brutalismus oftmals reduziert wird, mit dieser interaktiven Schau vielmehr auf eine Debatte um die zeitgenössischen Spielformen und die Stellung des sozialen Wohnungsbaus in der heutigen Zeit legen.
Durch die Materialwahl rückt die surreale Wirkung der Objekte ins Rampenlicht und zugleich werden Assoziationen zum Ursprungsmaterial Beton hervorgerufen. Der Schaumstoff ist ein günstiges und industrielles Material, das wie Zement in Form gegossen wird und mit seiner gesprenkelten Oberfläche wie Waschbeton aussieht. Den Künstlern gelingt es durch diesen Kniff, Geschichte mit Neuinterpretation zu verbinden. Natürlich ist eine Rekonstruktion aus Beton für einen musealen Rahmen unmöglich, aber darüber hinaus für die heutige Gesellschaft die sich gegen jegliche Eventualitäten absichern möchte, gar unvorstellbar. Dafür sind die Originale nicht nur viel zu rau, schroff und gefährlich sondern auch zu abstrakt. Heute wollen Eltern ihre Kinder auf weichen, bunten, freundlichen und einladenden Spielplätzen toben sehen. Zudem sollen die Geräte schon gewisse Spielregeln vorgeben – zu viel kreative Freiheit scheint nicht mehr erwünscht. Doch gerade in den abstrakten Formen Spiellandschaften sehen die drei eine besondere Kraft. Denn die zunächst eher abweisenden Welten aus Beton mussten von den Kindern erst ertastet und erkundet werden. Sie regen die Fantasie in besonderer Weise an und erzählen so jeden Tag eine neue Geschichte: mal werden sie zur Ritterburg, dann wieder zum Hexenhaus und wenig später Unterseeboot.
Spielplatz als kondensierter Brutalismus
Während dem Zweiten Weltkrieg wurden in Grossbritannien mehr als zwei Millionen Häuser zerstört. Doch die Labour-Partei sah in den Schäden eine Chance: endlich konnte die in vielen Teilen des Landes herrschenden schlechten Lebensbedingungen angegangen werden. Es herrschte die modernistische Vorstellung, dass frische Luft, Sonne, Bewegung und vor allem das Spielen grundlegend für das Fortkommen in der Gesellschaft seien und, dass mit architektonischen Mitteln viele Probleme der benachteiligten Bevölkerungsschichten gelöst werden könnten. Man sah den grossen Siedlungen mit Optimismus entgegen. Sie sollten kostengünstig hohen Wohnkomfort ermöglichen. Mit der Integration von Pubs, Geschäfte, Kindergärten und Schulen in die Grosssiedlungen wollten Architekten und Politiker ganze Stadtstrukturen schaffen. Durch die dichte Hochhausbebauung konnten zudem Flächen für gemeinschaftliche Zwecke freigeschaufelt werden, die Teil des Gestaltungskonzepts waren. Dazu gehörten auch die Kinderspielplätze. Hier kamen, so wie auch in der Schau im Vitra Design Museum, Architektur, Landschaftsgestaltung und Kunst zusammen. Sie erzählen eine vielschichtige Narration die auch die sozialen Hintergründe der britischen Nachkriegszeit miteinschliesst. Das Künstlertrio spinnt mit der Neuinterpretation die sozialen und architektonischen Ideen des Brutalismus weiter und schafft es, sie in einer interaktiven Schau zu kondensieren und zugleich erleb und begehbar zu machen.
Das britische Architekturstudio Assemble interessiert sich schon länger für das Potenzial verlassener urbaner Flächen und erhoffte sich mit dieser Schau zu stimulieren und neue Impulse für kinderfreundliche öffentliche Räume zu geben. An der Finissage im April, dürften die vom Spieltrieb der Besucher ramponierten Objekte als Erfolgsbeweis gewertet werden. Und das obwohl die Sicherheitsregeln am Eingang strengstens verbieten wild auf den Objekten herum zu kraxeln; mehr noch: «Kinder unter 18 Jahren» hätten die Objekte demnach ohne ihre Eltern gar nicht betreten dürfen. – eine ungewollte Ironie unserer «Vollkasko-Gesellschaft»?
Die Ausstellung tourt seit 2015 in Grossbritannien und ist noch bis zum 16. April im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu sehen.
Weiterführende Literatur zu den Themen Brutalismus und dem städtischen Raum für Kinder finden Sie im Bücherladen der Britischen Architektenkammer.
> #SOS Brutalism. Kann das Brutalismus-Revival herausragende Bauten der 1970er-Jahre retten?