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Nachhaltigkeit benötigt belebtes Grün

Mehr Biodiversität soll unsere Städte und Landschaften langfristig prägen. Doch gerade die Nachhaltigkeit wird in den letzten Jahren häufig auch zum Zerrbild, das sich bei genauerer Betrachtung als Selbstbetrug entpuppt. Gerade für die Architektur ist das ein Scheidepunkt. Denn welcher Ansatz ist gut, welcher greift zu kurz – und was kann ein einzelnes Projekt überhaupt bewirken? Diese Frage haben sich auch die Landschaftsplaner*innen der neuen Siedlung im Stadtteil Reitmen in Schlieren gestellt.

 

Text und Fotos: Martin Kohlberger – 16. Juli 2021

 

Vor dem Hintergrund der globalen Klimakatastrophe, von Erderwärmung und Eisschmelzen, ist die Zerstörung von Lebensraum zu einem zentralen Problem in unserer Welt geworden. Dass dabei das Mass des menschlichen Eingreifens in die Natur überdacht werden muss, ergibt sich von selbst. Denn allzu oft werden damit Biodiversität verringert und Lebensräume zerstört. Doch heisst das, dass menschliche Eingriffe nur alles zum Schlechten verändern? Heisst das, dass Landschaftsräume möglichst unangetastet bleiben sollten? Oder kann der Mensch auch bewusst neue Lebensräume schaffen?

Eindeutig beantworten lassen sich diese Fragen nicht. Es hängt nicht zuletzt von den Akteur*innen und ihren Intentionen ab. Denn kleine Projekte folgen zwangsläufig einer anderen Logik als grosse Stadtplanungen und Siedlungskonzepte. Der Investorenstädtebau, wie er in den Vororten von Städten so oft entsteht, hat als primäres Ziel, rentabel zu bauen. Wenn Ökologie als Verkaufsargument hilfreich ist, wird diese gerne hinzugezogen. Dass ganzheitliche Konzepte dadurch nicht angewandt werden, ist Teil des Problems. Gerade dieses schwierige Verhältnis von Idealen der am Projekt beteiligten Personen auf der einen und den Profit-Interessen von Investoren auf der anderen Seite braucht einen realistischen Blick auf Möglichkeiten und Grenzen von kleinen Projekten und Architekturensembles. In diesen bleibt vom Grün oft nicht mehr als ein Bild übrig, das wie eingerahmt besteht und lediglich als Blickfang der Betrachtenden dient.

Eine ähnliche Frage stellt sich auch bei der im letzten Jahr fertiggestellten Siedlung im Schlierener Stadtteil Reitmen. Dort ist es das Landschaftsarchitekturbüro raderschallpartner, das mit der Nachahmung eines Auengebiets auf Grünflächen der Anlage ein romantisches Bild der Natur absichtlich auf die Spitze treibt. Nach Aussagen des Büros besteht die Intention darin, im Idealfall eine hohe Artenvielfalt zu erzeugen und im schlechtesten Fall im neuen Wohngebiet Natur und Biodiversität zu vermitteln und den Bewohnenden näherzubringen. Folglich ein Experiment, das die eigenen Grenzen im kleinen Massstab ausloten soll.

 

Die Stadt wird erweitert
Die Kleinstadt Schlieren gilt als eines der wichtigsten Entwicklungsgebiete der Agglomeration Zürich. Sie befindet sich im Limmattal, wo sich nach der Eiszeit eine Auenlandschaft entwickelte, und dehnt sich von Zürich ausgehend bandartig aus. Von Zürich aus wird Schlieren per S-Bahn, Strassenbahn und zukünftig der Limmattalbahn erschlossen. Etwa zehn Gehminuten von der Endhaltestelle des Tram in Schlieren Geissweid westwärts, zwischen der geschäftigen Badenerstrasse und der viel befahrenen Eisenbahnstrecke, auf der beinahe im Minutentakt Züge anrollen, erstreckt sich ein schmales Neubaugebiet. Die letzten Kräne stehen noch. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite reihen sich Wohnblöcke aus den 1930er-Jahren. Man kann sich gut vorstellen, dass sich vor wenigen Jahren dort eine Brachfläche befand, die von Autooccasionen, kleinen Containern und informellen Räumen geprägt war. Vernachlässigung und taktgebender Verkehr schimmern noch durch.

Das nun neu errichtete Wohnareal in Reitmen ist der jüngste, durchaus anständige Investorenstädtebau von den Anlagestiftungen Turidomus und Adimora und wird als «Stadtsiedlung» beworben. Beim Wettbewerb für das Gesamtkonzept der Wohnsiedlung setzte sich das Zürcher Büro Haerle Hubacher mit sechs parallel zu Strasse und Bahn angeordneten Baukörpern durch. Die Architekten beschrieben die Anordnung mit der Metapher eines Schwarms. Die zeilenförmigen Bauvolumina schützen vor Lärm – für die exponierte Lage ist das eine gelungener Ansatz, der gleichzeitig eine Offenheit der Siedlung zum übrigen Stadtraum ermöglicht. Um gestalterische Vielfalt zu erzeugen, teilten sich Haerle Hubacher, die auch für das Farbschema verantwortlich waren, die Planung der einzelnen Gebäude mit dem im Wohnungsbau etablierten Büro Steib Gmür Gschwentner Kyburz. Neben herkömmlichen Wohnkonzepten integrierte man in der Siedlung auch für Wohngemeinschaften geeignete Clusterwohnungen und Atelierwohnungen. Im August 2020 zogen die ersten Mieter*innen ein. Und auch die Grünanlagen wachsen bereits.

 

Der Dschungel in der Stadt
Am auffälligsten in den Flächen und Parkarealen am Fuss der Siedlung sind die kleinen, punktuell angeordneten Pflanzinseln des sogenannten «Stadtdschungels». Es gibt Flächen für Spiel, Erholung und individuelles Gärtnern.  Darüber hinaus erzeugte das Team von raderschallpartner mit mineralischem Substrat sowie Totholz, niedrig wachsende Pflanzen und Bäumen mit Schlingpflanzen das Bild eines Mischhains. Für eine echte Auenlandschaft fehlen selbstverständlich der Faktor Zeit, die Tiere und die natürliche Entwicklung der Bepflanzung. Der aus dem Wettbewerb stammende Begriff «Stadtdschungel» ist eine Metapher. Die Bepflanzung erweckt zwar den Anschein einer vom Menschen unabhängigen, sich selbst überlassenen Fläche, doch die Bepflanzung wurde im Gegensatz zur zuvor bestehenden brachliegenden Vegetation mit Bedacht gewählt und die Arten gezielt ausgesucht.

Die – so Roland Radeschall – «ungewohnte Freiraumgestaltung», soll vor allem dazu beitragen, dass die scheinbar wilde Natur in die direkte Umgebung der Menschen einzieht. Quasi ein didaktisches Konzept, das Natur näherbringen und erlebbar machen soll. Für eine wirkliche Wildnis in der Stadt sind die Insel-Flächen mit knapp 1.000 Quadratmetern freilich zu klein und auch und ohne durchgängige Grünzone sind diese nur für Insekten oder kleine Vögel interessant. So werden mit diesem Projekt die Möglichkeiten von ökologischen Ansätzen der Landschaftsarchitektur ausgelotet.

 

Kleine Schritte zum Ziel
Im Gegensatz zum Städtebau der Moderne, wo wenig kontrolliertes Abstandsgrün zwischen den Wohnungsblocks Platz fand, das gepflanzt und sich anschliessend einen grossen Teil des Jahres selbst überlassen wurde, sind die meisten Grünflächen bei Investorenbauten strikt gepflegt und inszeniert. Der Stadtdschungel in Reitmen sollte anders sein. Die plakative, wenn auch teils romantisch anmutende Geste regt zum Nachdenken an, wie eine ökologische Stadtnatur auch im kleinen Massstab möglich ist.

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> Das Büro Animal Aided Design, ausgehend von der TU München, beschäftigt sich in archithese 2.2021 Koexistenz damit, wie für Arten gezielt Lebensräume geschaffen werden können.

> Die Debatte um städtisches Grün ist weit verbreitet – dabei stellt Martin Kohlberger die Frage, ob vor allem vertikale Gebäudebegrünungen nicht auch beim Greenwashing stehen bleiben.

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