«Wir glauben nur an Sexualität.»
Seit 53 Jahren sind Gilbert & George zugleich Künstlerduo und Paar, das die (Kunst-)Welt bis heute mit immer neuen Provokation und Ironie aufwirbelt. In Werken wie der Fuckosophy servieren sie sexuelle Tabus auf dem Silbertablett. Gilbert & George sprachen mit archithese über eine Zeit, in der «queer» ein Schimpfwort war, die Bedeutung von Gefühlen für die Architektur und die Strasse im Londoner Osten, in der sie wohnen. Bis zum 12. Juli 2020 sind zahlreiche ihrer Werke in der Kunsthalle Zürich und Luma Westbau zu sehen. Nach der Covid-bedingten Schliessung, wird die Ausstellung heute wieder eröffnet.
Interview: Leonie Charlotte Wagner – 21.2.2020
Fragen und Redaktion: Jørg Himmelreich
Das verbotene Wort
Leonie Charlotte Wagner Hinter uns hängt das Kunstwerk Queerness aus der Dirty Word Picture Series (1977). Welche Rolle spielt das Wort in diesem Bild?
Gilbert Es war verboten!
George …und mit Gefahr und Bösartigkeit verbunden. Wir habe das Wort im Bild verwendet, um es uns vom «Feind» zurückzuholen. Als «queer» beschimpften sie dich, bevor sie dich schlugen. Wir dachten: Das müssen wir angehen! Und wir waren sehr erfolgreich. Nachdem wir das Bild ausgestellt hatten, sah man plötzlich Menschen mit dem Schriftzug «Queer as Fuck» auf ihren T-Shirts in Nachtclubs tanzen. Heute benutzt es niemand mehr als negativen Ausdruck.
In den 1970er-Jaren waren eure Kunstwerke stark mit der AIDS-Krise und der Emanzipation der LGBTQs verwoben. Die Situation hat sich seitdem – wenn auch längst nicht in allen Gesellschaften – sehr verändert; AIDS kann zwar noch immer nicht geheilt, aber gut behandelt werden und queer zu sein gilt für viele als progressiv.
Gilbert Heute meint man mit queer eine grössere Gruppe sexueller Kategorien. Wir glauben aber nicht an Kategorien. Wir glauben nur an Sexualität. Kategorisierungen in Links und Rechts, Hetero oder Homo oder was auch immer sehen wir nicht. Jeder passt zwar irgendwo rein und trotzdem ist jeder einzigartig.
George Die Welt der Kategorien ist sehr widersprüchlich. Ich verstehe nicht, warum es Ausstellungen ausschliesslich mit schwulen Künstlern geben sollte. Man sieht ja auch nie Ausstellungen über Hetero-Malerei. Es gibt zwar Ausstellungen über Kunst von Frauen, aber nirgends werden explizit männliche Künstler ausgestellt.
Nun, allzulange wurden ausschliesslich männliche Künstler in den Museen gezeigt.
George Das mag sein. Trotzdem sind wir alle Menschen – und das heisst wiederum, dass unsere Gemeinsamkeiten letztlich doch viel grösser als die Unterschiede sind.
Gemeinsamkeiten gibt es bestimmt; aber auch Unterschiede, zum Beispiel in der Geschlechtergerechtigkeit.
Ihr macht es einem schwer, euch zu verorten. Obwohl ihr euch selbst als konservativ bezeichnet, rüttelt ihr mit Bildern wie der Dirty Words Series – mit Worten wie queer, shit, fuck, tart, cunt – an diversen Taboos.
George Konservativ zu sein, heisst ja nicht sich für Uniformität auszusprechen. Für mich heisst konservativ sein, das Individuelle zu verfechten.
Gilbert Wir Menschen sind in der Lage, Vieles und Verschiedenes zur selben Zeit zu sein.
Das heisst ihr seid konservativ und liberal?
Gilbert So einfach ist das nicht. Wir haben auf jeden Fall ein Problem mit den Bobo-Liberalen. Sie wissen immer, was man tun und lassen soll.
George Unsere Kunst stört das Liberale in den Bigotten. Aber sie stört auch das Bigotte in den Liberalen.
Für Euch sind politische Positionen also sehr fluid?
George Es ist wie mit dem Geschlecht: Bevor man geboren wird, ist man biologisch meist entweder männlich oder weiblich.
Gilbert ...aber später musst man dem nicht mehr genau entsprechen.
Geoge Wenn man stirbt, fragt einen auch keiner mehr, ob man männlich oder weiblich war.
Ihr seid bereits für Jahrzehnte ein Paar und arbeitet als Duo. Wie funktioniert das?
George Ich denke, wir können eine gleichberechtigtere Beziehung führen, als traditionelle Hetero-Paare. Bei uns gibt es nicht den Mann, der aus dem Haus geht, um Geld zu verdienen und die Frau, die sich darum sorgt, ob die Dinner-Party gelingt.
Gilbert Und wir kochen nie: Das hilft auch. Kein Einkaufen, keine Planung der Gerichte, kein Kochen, niemand muss Müll runterbringen, keine Gerüche...
Nieder mit der Religion!
«Queer» ist in liberalen Gesellschaften nur noch sehr selten ein Schimpfwort. Doch in vielen Ländern werden LGBTQs noch immer diskriminiert, verfolgt, eingesperrt oder gar getötet.
George Das muss thematisiert werden! Während wir sprechen, liegen in verschiedenen Teilen der Welt junge Menschen auf dem Boden eines Gefängnisses und warten auf ihre Exekution – weil sie Sex hatten!
Gilbert Wir fordern eine De-Kriminalisierung von Sex. Wir alle sollten uns zutiefst schämen, dass wir es bislang nicht geschafft haben, dies weltweit durchzusetzen.
Ihr wollt die Welt zu einem besseren Ort machen. Wo fängt man an?
Gilbert Nichts steht still. Alles muss sich permanent verändern. Die gesamte menschliche Kultur ist eine Geschichte der Veränderungen. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Schon morgen wird eine andere Welt da sein. Lasst uns versuchen, daran zu arbeiten!
George Vor allem die Journalisten stehen da in der Verantwortung. Das gedruckte Wort und auch das Fernsehen haben einen enormen Einfluss.
Die Entscheidung, worüber man als Journalistin schreibt – und auch die Entscheidung welche Themen Ihr als Künstler ansprecht, haben eine politische Wirkung. Wofür fühlt ihr Euch verantwortlich?
George Mehr noch als Sexualität beschäftigt uns Religion. Nieder mit der Religion, für immer! Wenn es uns gelingen könnte, die Menschheit von Religion zu befreien, wäre alles viel, viel besser. Die religiösen Kriege zwischen dem Westen und dem Islam sind schrecklich. Ich mag mir gar nicht vorstellen wohin das noch führt.
Und woran glaubt ihr?
George An die Humanität! An die Magna Charta! Die Engländer vereinbarten sie im 13. Jahrhundert. Es ging darum, wie sich der Mensch ohne Religion verhalten soll. Wir brauchen keinen fake-Gott der uns sagt, was wir zu tun haben. Wir müssen uns selbst ein System entwickeln, das darüber entscheidet, wie wir handeln sollen. Wir brauchen eine neue Magna Charta.
Ihr wollt Religionen loszuwerden, um die Welt gerechter zu machen. Gleichzeitig seid Ihr leidenschaftliche Monarchisten. Ist diese Regierungsform nicht auch längst überholt?
Gilbert Oh ja. Wir haben die Krone immer bewundert.
George Wir denken, die Mischung aus Monarchie und Demokratie im Vereinigten Königreich ist eine sehr kluge Staatsform. Es ist nur bedauerlich, dass Prinz Harry nicht mehr dabei ist.
Frigide Häuser
Hat auch Architektur unterdrückende Momente?
George Ja, ich denke da vor allem an die moderne Architektur. Viele Gebäude in der Schweiz zum Beispiel fühlen sich sehr frigide an, wie starre Panzer. Fette, eckige Dinger – davon ist man hier bisher nicht weggekommen.
Ist das in Grossbritannien anders?
George Ja, ich denke die Architekten sind dort liberaler. Man kann verrücktere Dinge tun, wenn man Lust hat. Es ist nicht so rigide.
Gilbert In Musik, Dichtung oder Malerei ist es einfach, von Form und Inhalt zu sprechen. Architektur wird aber häufig lediglich als Form behandelt. Aber was ist mit dem content?
George In der Architektur wird viel zu selten nach den menschlichen Bedürfnissen und dem Verhalten gefragt. Dabei ist es entscheidend. Würden Architekten das mit einbeziehen, könnten Gebäude ganz anders entworfen werden.
Gilbert Am Anfang unserer Karriere gab es ein ähnliches Problem in der Kunstwelt. Alles war weiss und minimalistisch. Es gab nur Rechtecke und Dreiecke – nichts, was mit Menschsein und Gefühlen zu tun hatte.
George Die Gestalter der Moderne haben versucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch wir finden, dass Kunst gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben muss. Jedes Bild, das wir schaffen, muss diese drei Elemente haben.
George Wenn man die Leute fragt, welche Art der Architektur sie am meisten schätzen, dann sind das historische Gebäude, wie man sie aus Stadtzentren kennt, etwa aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Die Menschen mögen diese Häuser lieber als die moderne Architektur!
Gilbert Das ist die Romanze mit Architektur.
Und was ist eure architektonische Romanze?
George Wir wohnen bereits sehr lange in einer der ältesten Strassen im Londoner Eastend. Unser Haus steht auf einem ehemaligen römischen Friedhof. Als wir Studenten waren, sprach man im Viertel noch häufig jiddisch.
Gilbert Und direkt nebenan steht «Roger ́s Skyscraper», auch «Cheesegrater» genannt. (Rogers Stirk Harbour + Partners, Leadenhall Building, 2013). Das ist ausserordentlich!
Gilbert Im Quartier lebten viele Homosexuelle, die unter der repressiven Politik vor 1967 sehr leiden mussten. Dann erst folgte der Sexual Offences Act, der eine Zeit der De-Kriminalisierung einleitete.
Werdet ihr in der Schweiz noch herumreisen? Schaut ihr neue Bauten an?
Gilbert Nein, wir haben keine Zeit. Wir sehen uns sonst aber gerne Architektur an. Besonders gut hat uns ein Projekt in Südamerika gefallen.
George Du meinst das Haus von Lina Bo Bardi?
Gilbert Nein, ich meine das von Louis Barragán. Sein Haus war öffentlich zugänglich. Dort hingen so viele Portraits von berühmten Damen. Da dachten wir, er muss queer sein. Später haben wir erfahren, dass wir richtig lagen!