Wider die göttliche Eingebung
In der Architekturpraxis gilt das Entwerfen als Königsdisziplin. Sie trennt das Gute vom gut Gemeinten. In jahrelanger Forschung an der ETH Zürich setzte sich Simon Kretz theoretisch mit dieser Praxis auseinander. In einem nun erschienenen Buch bündelt er seine äusserst erhellenden Erkenntnisse über eine Tätigkeit, der ein Grossteil des Berufsstandes bisher eher unbewusst nachgeht.
Text: Christoph Ramisch – 5. März 2021
Er scheint ihre letzte Bastion zu sein. Entgegen der anhaltenden Spezialisierung ihres Berufsstands behauptet sich der «geniale» Entwurf als unangefochtene Domäne der Architektinnen und Architekten. Deren Kreativität ermöglicht erst, dass Einzigartiges entstehen kann. Michelangelos Deckenfresko Die Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle wurde zum Sinnbild solcher Genialität. Nicht nur zeigt es den allerersten, den biblischen Schöpfungsakt, mehr noch stehen die weltberühmten, sich beinahe berührenden, Fingerspitzen für jenen Moment der göttlichen Eingabe, welcher sämtlichen Schöpfungen des Menschen zugrunde liegt – soweit der Mythos. Für Architektinnen und Architekten, die nicht täglich auf eine solche Eingebung warten können, bleibt das Entwerfen harte Arbeit. Unermüdlich gehen sie einer Tätigkeit nach, deren Abläufe meist unterbewusst, wenn nicht gar unbewusst geschehen. Diese Prozesse in einer systematischen Darstellung zugänglich zu machen, versucht Simon Kretz in seinem 2020 erschienenen Büchlein Der Kosmos des Entwerfens. Wer am Mythos festhalten mag, sollte das Buch mit Vorsicht geniessen, denn auf knapp hundert Seiten wird darin der Entwurf als methodisches Werkzeug untersucht, welches gezielt aus einer Synthese von Theorie und Praxis schöpft – jener Transdisziplinarität also, von der sich schon Michelangelo beflügeln liess.
Methodengleiche
Diese Einheit aus Kunst und Wissenschaft bleibt dabei keinesfalls dem uomo universale der Renaissance vorbehalten. Prägten die geometrischen Erkenntnisse zur Perspektive die damalige Malerei und Baukunst, so erkannte Sigfried Giedion (1888-1968) auch im modernen Raum-Zeit-Begriff der Mathematik und dem sich zeitgleich entwickelnden Kubismus jenen Gleichschritt der Disziplinen, in welchem die «wissenschaftlichen Errungenschaften» mit einer «Erschütterung im Bereich der Gefühle» einhergehen. «Denken und Fühlen» könnten nur dann «vollkommen getrennt werden, wenn man den Mensch in zwei Teile spaltet.»1 Es scheint gerade diese Dualität zu sein, welche das Einzigartige heraufbeschwört. In ihrem Vorgehen sind sich die Disziplinen dabei überraschend nah: Beide eint die Methodik eines iterativen Erkenntnisgewinns – das Experiment! Im wissenschaftlichen Versuch wie auch im architektonischen Entwurf erkannte Marcel Meili (1953-2019) einen artverwandten Prozess, der durchaus auf «‹unsaubere›, unsystematische und letztlich auch zufällige Weise» zustande kommen kann.2 In seiner Publikation wagt Simon Kretz die Gegenthese, indem er diesem Prozess seine Systematik und wiederkehrende Logik entlockt.
Entwerfendes Denken
Statt über Entwerfen schreibt Simon Kretz über entwerfendes Denken. Dieses erfüllt den von ihm beschriebenen Kosmos und weist weit über eine simple Formfindung hinaus. In drei Dimensionen – Verändern, Untersuchen und Ordnen – wird dieses entwerfende Denken zum Mittel investigativer Wissensgenese. Heuristische und empirische Zugänge generieren parallele Erkenntnisse, welche die iterativen Schlaufen des Entwurfsprozess speisen. Dieses Wechselspiel aus Empirie und Heuristik erklärt Simon Kretz zur «unerschöpflichen Quelle für das Ausloten des Möglichkeitsraums»3. Mit dem entwerfenden Denken verändern wir also das Entwerfen selbst. Und dies nicht auf ein singuläres Projekt beschränkt, denn die wiederkehrenden Iterationsschlaufen führen zur sukzessiven Ablagerung des erlangten Wissens. Dieses Wissen sortiert sich zu Mustern, welche den Modus Operandi projektübergreifend befruchten und durch die dritte – die ordnende Dimension des entwerfenden Denkens von innen heraus zu einer Theorie verdichtet werden. Anders als eine wissenschaftliche, also unabhängige Theorie zielt diese aber klar auf das Primat der Umsetzung architektonischer Projekte ab. Darin folgt Kretz Werner Oechslin, der in der «Theorie von Innen» immer auch eine Theorie der Praxis erkennt, da diese ausschliesslich «aus der Sicht und mit Bezug auf das, was Architektur leisten kann und soll, nämlich Gebäude zu erstellen, […] gewonnen werden kann.»4 Dieser unbedingte Praxisbezug der theoretischen Erkenntnisse verankert die Transdisziplinarität fest in Kretz’ Kosmos des entwerfenden Denkens. In diesem Kosmos entspringt selbst der genialste Entwurf einer ausdauernden, transdisziplinären und mehrdimensionalen Denkarbeit – und nicht dem gnädigen Moment der göttlichen Eingebung. Keine Blasphemie, sondern ein eindringliches Plädoyer für die letzte Bastion der Architektinnen und Architekten.
Klein aber nicht leicht
Die inhärente Systematik der Entwurfsprozesse derart aufzuschlüsseln, entpuppt sich als komplexe Aufgabe. Der Umfang des Büchleins kann darüber nicht hinwegtäuschen: Es ist zwar klein, aber nicht leicht. Basierend auf seiner Dissertation an der ETH Zürich komprimierte Kretz die Erkenntnisse in ein verdaulicheres Format, welches den Lesenden dennoch einiges abverlangt. Anschauliche Diagramme und nachvollziehbare Fallbeispiele helfen beim Verständnis, doch allein die Fussnotendichte des Textes deutet die Tiefe des Stoffs an. Die abschliessende Synopsis seiner vier Kapitel liefert eine willkommene Zusammenfassung. Die Erkenntnisse des Autors sind dabei ebenso anspruchsvoll wie interessant, liefern sie doch wertvolle Einblicke in ein nur selten besprochenes Thema. Das Wissen um die Vielschichtigkeit des Entwurfsprozesses soll helfen, diesen bewusster «auszuschöpfen». Simon Kretz geht es dabei nicht um eine Rezeptur für einen erfolgreichen Entwurf. Eher ist sein Buch eine Einladung, das Potenzial und die Verantwortung des Entwerfens «intellektuell und emotional zu erschließen, somit auch selbstbewusst einzusetzen und nicht zuletzt auch zu genießen».5
1 Sigfried Giedion, Raum Zeit Architektur, Basel / Boston / Berlin 1976, S.41.
2 Marcel Meili, «Die Wahrnehmung des Zufalls», in: archithese 26, 02.2012, S.44-49, hier S. 47.
3 Simon Kretz, Der Kosmos des Entwerfens. Untersuchungen zum entwerfenden Denken, Köln 2020, S. 40.
4 Werner Oechslin, «Der Architekt als Theoretiker», in: Winfried Nerdinger (Hg.), Der Architekt, München 2012, S. 576-601, hier S. 591.
5 Simon Kretz, Der Kosmos des Entwerfens. Untersuchungen zum entwerfenden Denken, Köln 2020, S. 107.
Das Buch Kosmos des Entwerfens. Untersuchungen zum entwerfenden Denken von Simon Kretz ist 2020 im Verlag Walther König erschienen. Auf 120 Seiten seziert der Autor von kreativem Experimentieren bis zum spekulativen Denken Methoden des Entwerfens.
Am 29. März präsentiert der Autor sein Buch im Online-Symposium zum «Kosmos» des forschenden Entwerfens der ZHAW. Die Veranstaltung wird per Livestream öffentlich übertragen.