Mit unseren heutigen Mitteln die Welt lesbar machen
Eine mehrjährige, von Herzog & de Meuron angeregte und zusammen mit Marcel Meili und Roger Diener im Rahmen des neu in Basel eingerichteten ETH-Studios betreute Studie widmet sich der «Stadt Schweiz» als einem Testfall für Urbanisation im Zeitalter der Globalisierung. Ein Gespräch über Urbanität und Identität, die Zusammenarbeit zwischen Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas – und über Anforderungen an eine zukünftige Architektur.
Interview: Jaques Herzog im Gespräch mit Hubertus Adam – erschienen in archithese 1.2000 Herzog & de Meuron, S. 5–9.
H. A.: Das Büro Herzog & de Meuron beschäftigt euch seit einiger Zeit mit Fragen der Identität. Identität ist ein Konstrukt. Man redet erst davon, wenn es sie nicht mehr gibt; man redet auch über Tradition erst dann, wenn die Tradition abgerissen ist oder zumindest abzureissen droht. Die traditionelle Identität der Schweiz ist bestimmt seit der Zeit der frühen Romantik – ich denke an Albrecht von Haller. Aber diese positive Setzung dessen, was die Schweiz gewesen sein soll, die romantische Interpretation, entspricht schwerlich unserer Lebenswirklichkeit. Wenn ich auf den letzten Wahlkampf zurückblicke, wird die Identität der Schweiz vielfach und offenkundig durchaus erfolgreich eher auf negative Weise definiert. Man versucht Einverständnis zu erzielen darüber, was die Schweiz nicht ist; Historiker würden von «negativer Integration» sprechen: Man definiert sich, indem man sich von anderem und anderen abgrenzt. Wie verstehtst du Identität?
J. H.: Die Studie, auf die du anspielst und die wir ein «Portrait» nennen, beschäftigt sich mit dem Bereich der Identität. Man spürt, dass etwas da ist, aber auch, dass etwas fehlt; und ausserdem bemerkt man, dass sich das, was da ist – oder da war –, die Schweiz, bewegt. Ein städtebauliches Portrait der Schweiz im Zeitalter der Globalisierung also. Dass sich mancherlei verändert, registrieren wir nicht nur in unserer Profession, nicht nur in der Wirtschaft, nicht nur in den politischen Verhältnissen. Vor allem fällt auf: Die Dynamik der Veränderung nimmt zu.
Es ist eine Realität, dass wir noch immer in einem Nationalstaat leben und in nationalstaatlichen Grenzen. Die Schweiz, für dich Deutschland, das sind Länder. Aber was bedeutet das eigentlich? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Städten. Früher waren Städte, in der Schweiz vielleicht noch stärker als anderenorts, lokale Einheiten. An einem Ort zu sein und nicht an einem anderen, in einem Kanton zu wohnen und nicht in einem anderen, in einer Sprache beheimatet zu sein und nicht in einer anderen – das waren einmal ldare Unterscheidungskriterien, und die Menschen haben sie auch als solche empfunden.
Ist das aber überhaupt noch so? Kann die Schweiz sich noch durch Abgrenzung definieren? Oder verändert sich etwas? Gibt es mehr networks? Netzwerke zwischen Städten und Regionen beispielsweise? Basel und Zürich empfanden sich gegenseitig als Feindbilder, doch das löst sich mehr und mehr auf. Es gibt sogar Adhäsionskräfte - wo sind diese Adhäsionskräfte und wo fehlen sie? Wir haben im Vorfeld dieser Studie zusammen mit dem Geographen Christian Schmid auch das Verhältnis von Lausanne und Genf untersucht; die Städte haben bisher offenbar nichts miteinander zu tun. Obwohl sie nahe beieinander liegen, existieren derzeit keine Adhäsionskräfte. Zwischen Basel und Zürich hingegen gibt es zahlreiche Verbindungen; uns interessiert, wie diese Verbindungen beschaffen sind, das wollen wir untersuchen: Netzwerke versus traditionelle Abgrenzungen. Wo sind Abgrenzungen, wo sind Grenzen, wo sind Differenzierungen. Was dabei herauskommt, kann ich dir nicht genau sagen, ich kann nur sagen, was wir tun: Wir nehmen die Schweiz als Testfeld, um Urbanisation heute zu studieren, also die Frage, wie sich die Städte im Zeitalter der Globalisierung verändern, wie Urbanisation entsteht.
H. A.: Fragen wie diese liessen sich anhand von Untersuchungen in verschiedenen Ländern exemplifizieren. Warum fiel eure Wahl auf die Schweiz?
J. H.: Die Schweiz wählten wir nicht nur, weil wir hier aufgewachsen sind, sondern auch, weil die Städte sehr nahe beieinander liegen. Während Boston und New York schon aufgrund der Entfernung in Konkurrenz zueinander treten, ist die Schweiz eine urbane Landschaft. Das steht vielleicht im Widerspruch zu der allgemeinen Wahrnehmung, derzufolge es sich um eine ländlich gebliebene Gegend handelt. Aber diese Wahrnehmung ist falsch. Das weist auch schon auf psychologische Seiten der Studie hin, die wir deshalb «Portrait» nennen. Wir können nicht behaupten, dass es sich um eine wissenschaftlich und methodisch abgesicherte Untersuchung handelt – wir wollen uns frei machen von diesem Anspruch, da wir ihn auch nicht erfüllen können. Wir wollen lediglich versuchen, der Beantwortung der Frage einen Schritt näher zu kommen, wo wir sind und was heute passiert, wie Städte entstehen und sich verändern.
H. A.: Wie ist das Prozedere? Vergleicht ihr ausgewählte Orte und Regionen miteinander?
J. H.: Ja. Unsere Vorgehensweise entspricht vielleicht der Analyse von Bohrkernen. Wir haben zwanzig Studenten, die in Zweierteams arbeiten; ausgewählt wurden insgesamt zehn Orte. Basel und Genf beispielsweise, Städte, die mit der Problematik der Grenze konfrontiert sind.
H. A.: Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eure urbanistische Studie «Basel – eine Stadt im Werden».
J. H.: Genau, man kann das jetzige Vorhaben als eine Weiterführung unserer damaligen Arbeit verstehen. De facto ist Basel eine trinationale Stadt mit etwa einer Million Einwohnern in drei Ländern. Nur gilt es zu bedenken, ob sie sich in der Realität auch wirklich als trinational erweist – oder leben die Menschen eher Rücken an Rücken und nicht einander zugewandt. Wahrscheinlich läuft es noch immer viel zu oft gegeneinander. Das Gegenbeispiel: Zürich. Zürich liegt mitten in der Schweiz und hat einen starken Austausch mit seiner Umgebung – schon allein des S-Bahn-Netzes wegen. Allerdings zeigt sich diese Umgebung viel homogener als die von Basel oder Genf. Was man je nach Sichtweise als Vor- oder Nachteil empfinden kann.
Weitere Untersuchungsfelder sind Zürich-Nord als eine neue Stadt ohne Zentrum, aber mit einer ungeheuren Dynamik; der Raum des Zugersees, die «Monacoisierung» der Schweiz; Gros de Vaux und Aargau als periurbane, grosse Räume, die zwar urbanisiert sind, in denen dieses Faktum aber optisch kaschiert wird; dann N1/N2, das Kreuz in der Schweiz, das man sich als Schnittpunkt vorstellen könnte; der Röstigraben als Linie; und schliesslich strange places, Orte der Schweiz, die als Ikonen gelten und auch urbanisiert sind – aber mehr in dem Sinne, dass sie konsumiert werden können. Also Ausflugsziele wie das Matterhorn, der Vierwaldstätter See und die Rigi. Weiter die Stadt in den Alpen – St. Moritz, das uns interessanter schien als Davos, weil die Landschaft des Engadin einer der privilegiertesten Landschaftsräume der Alpen überhaupt ist. Einzelne Orte von diesen werden über die Semester hin immer wieder behandelt, andere werden wir austauschen.
H. A.: Euer Projekt beginnt mit der Untersuchung von Strukturen, also einem analytischen Teil. Wie geht es dann weiter? Was glaubt ihr daraus ableiten zu können? Folgt auf die Analyse die Synthese?
J. H.: Es ist eine Frage, die wir nicht so genau beantworten können. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Basel. Wenn es so ist, dass sich die französischen Nachbarn nach Paris orientieren, gleichzeitig aber 10.000 oder 20.000 Menschen täglich zur Arbeit in die Schweiz pendeln - wie liesse es sich organisieren, dass diese Bewegung Teil der Stadt wird? Gibt es städtebauliche Möglichkeiten, gibt es Schulen, gibt es gemeinsame Projekte, welche die Belange der Architektur transzendieren? Man könnte darüber diskutieren, Dinge, die physisch im Wege stehen, zu eliminieren und durch andere zu ersetzen, an denen Menschen gemeinsam zusammentreffen. Genaueres kann ich dazu noch nicht sagen – wollen wir konkrete städtebauliche Vorschläge einbringen, um offensichtlichen Mängeln entgegenzuwirken, oder sollten wir besser Beobachter bleiben?
Wir haben zunächst die Orte ausgewählt, die nach drei Parametern untersucht werden: dem Begriff der Grenze, dem Begriff der Differenz und dem Begriff des Netzwerks – Christian Schmid hat diese Begriffe, basierend auf Henri Lefebvre, eingeführt. Vor allem der Begriff des Netzwerks scheint uns sehr ergiebig zu sein, um das Phänomen der Stadt zu begreifen – die Stadt als Ort der Differenzen von Sprachen, Ethnien, Stilen usw. Unsere Mittel sind verschiedenartig: wir arbeiten mit Interviews, fotografischen Dokumentationen, Zonenplänen, also mit eher herkömmlichen Methoden. Alles wird fortlaufend dokumentiert - wir wollen nicht erst am Ende lange Essays verfassen. Wir selbst fertigen die Berichte an; die Studenten arbeiten nicht wie gewöhnlich an einem eigenständigen Projekt, sondern sind sozusagen unsere Mitarbeiter.
H. A.: Wenn ich es recht verstehe, unternehmt ihr «Schnitte» – du sprachst von «Bohrkernen» – an den ausgewählten zehn Orten, analysiert die Extrakte anhand der erwähnten Parameter und gewinnt auf diese Weise Folien. Besteht eure Absicht darin, die Folien übereinanderzublenden und zu sehen, was es an Gemeinsamem gibt? Wenn man den Begriff der Identität wieder bemüht und auf das Territorium Schweiz appliziert, so müsste es darum gehen, eben dieses Gemeinsame zu finden. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es das wirklich gibt. Existiert so etwas wie ein «tertium comparationis»? Man könnte natürlich Identität nicht im nationalen Sinne verstehen, sondern regional.
J. H.: Ich denke, wir werden versuchen, «Karten» zu entwickeln, in denen alles zusammengefügt wird. Sonst gäbe es nur Untersuchungen von lokalem Belang. Wir müssen uns allerdings fragen, wie es möglich ist, Schnittstellen bildlich zu verarbeiten. Wir müssen für vieles erst noch Erfahrungen sammeln. Ich denke, nachdem wir, d.h. Pierre und ich, ein erstes Semester hinter uns haben, und anschliessend Roger Diener und Marcel Meili im zweiten Semester nochmals andere Erfahrungen einbringen, werden wir verbindlicher sein können. Dabei ist klar, dass es sich bei unserer Arbeit nur um ein Fragment handelt - ein Fragment zur europäischen Urbanisierung in der Zeit der Globalisierung. Vielleicht ist unsere Situation mit derjenigen am Ende des vorigen Jahrhunderts vergleichbar, als überall in den Städten Industriequartiere entstanden, überall anders ausgeprägt, aber trotzdem sehr ähnlich. So läuft es immer ab, nur merkt man es erst später. Wenn man selbst Teil einer Situation ist, ist man manchmal wie blind.
H. A.: Ernst Bloch sprach vom «Dunkel des gelebten Augenblicks».
J. H.: Ja. Man ist blind für die Dinge, die passieren, für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Und doch ist beides interessant. Mich reizt etwas, das eine allgemeine Gültigkeit besitzt, eine «Haltung». Und unabhängig von diesen allgemeinen Dingen etwas, was für diesen Ort, diese Leute, dieses Budget, diese Zeit gemacht ist – und das stimmt. Und so wollen wir bei dieser Studie analysieren, welchen Kräften das Geschehen unterliegt. Inwiefern kann man vorhandene Kräfte steuern, gegebenenfalls manipulieren. Es geht darum, Entwicklungen, die man vielleicht nicht verändern kann, auf eine sinnvolle Art zu nutzen, anstatt sie einfach geschehen zu lassen. Daher ist es nötig, die Bohrkerne, die Schnitte nicht nur örtlich anzusetzen, sondern sie auch miteinander zu vergleichen. Wir erhoffen uns so gesehen etwas Licht im «Dunkel des gelebten Augenblicks».
H. A.: Ausgangspunkt eurer Studie ist die These, dass das heutige Selbstverständnis der Schweiz nicht mehr der Realität entspricht. Man spricht gerne von Natur, verkennt aber, dass die Natur völlig operationalisiert worden ist. Man redet über distinkte Städte, aber wenn ich von Basel nach Zürich fahre, passiere ich eine suburbane Landschaft, in der Natur eher eine marginale Rolle einnimmt.
J. H.: Genau so ist es. Es gibt Orte, an denen man das eher wahrnimmt, an denen man denkt, es gibt ohnehin keine Landschaft mehr – zum Beispiel in Holland, wo die Künstlichkeit viel prononcierter ist als bei uns. In der Schweiz beruft man sich gerne auf Natürlichkeit. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Denkmuster. Die Holländer – man sieht es in Kunst und Architektur – sind geprägt vom Bewusstsein, dass es sich bei den Niederlanden um einen künstlichen Lebensraum handelt. Und die Leute bei uns sind geprägt durch Abgrenzung – zwischen jedem Dorf ist wieder ein Hügel.
H. A.: Es gibt in Holland keine romantische Tradition.
J. H.: Das ist genau richtig. Wie du eingangs schon anklingen liessest: Die Schweiz ist ein romantisches Konstrukt. Man bemerkt das in den unterschiedlichsten Bereichen. Die Ökobewegung, das Verständnis der Linken unterliegt dem Begriff der Romantik – aber die Leute sind sich dessen wenig bewusst. Das zu sehen und zu verstehen versuchen ist ein wichtiger Teil unseres Lebens- und Arbeitsverständnisses. Wenn wir an unterschiedlichsten Orten arbeiten, so sind wir doch mit einer gewissen Kultur, einer gewissen Herkunft verbunden, und das sollte man auch nicht verleugnen, sondern verstehen. Man versteht es am besten, wenn man sich vergleicht mit anderen.
H. A.: Du sprichst über eure Herkunft, du sprichst über unterschiedliche Wahrnehmungsweisen in der Schweiz und den Niederlanden, du sprichst über die Notwendigkeit des – auch beruflichen – Vergleichs. Vor einiger Zeit schon erwähntest du mir gegenüber die Idee einer Zusammenarbeit mit Rem Koolhaas. Ihr habt unterschiedliche Erfahrungen, kommt aus unterschiedlichen Traditionen – Rem würde vielleicht sogar behaupten, keiner Tradition zu entstammen. Zumindest sagte er unlängst, die Frage der Tradition interessiere ihn überhaupt nicht, er könne mit dem Begriff nichts anfangen. Wenn ich das CEuvre von Herzog & de Meuron vor meinem geistigen Auge Revue passieren lasse, so stelle ich fest, dass ihr mit Solitären angefangen habt – städtebauliche Fragen spielten, von Ausnahmen abgesehen, zunächst eine untergeordnete Rolle. Nun aber handelt es sich bei der Studie um ein Projekt in ganz grossem Massstab – um ein Projekt, bei dem nicht die architektonische Praxis im Mittelpunkt steht, sondern eine soziologisch-städtebauliche Analyse. Ist dieser Wandel eurer Haltung auch durch die Annäherung an Rem Koo!haas geprägt? Konkreter: Wo siehst du die Berührungspunkte zwischen H & de M und OMA, wie sind sie entstanden?
J. H.: Gewiss sind wir irgendwo sehr gegensätzlich und werden auch gemeinhin als gegensätzlich wahrgenommen. Es ist aber eine Realität; dass wir uns gegenseitig seit vielen Jahren für unsere Arbeit interessieren und dass wir auch befreundet sind. Wir haben einen gewissen Respekt voreinander – das ist sicher die Grundvoraussetzung für eine Zusammenarbeit. Und noch mehr als Respekt sind es Wachheit und Neugierde. Ich denke, man kann sagen, im Zentrum der Tätigkeit beider Büros steht das Forschen und das Experimentieren – auf etwas Erarbeitetes zurückzugreifen, das ist für uns wenig reizvoll. Wir, Herzog & de Meuron, suchen nach neuen Lösungen, in Zusammenarbeit mit Künstlern, aber wir haben auch schon mit Naturwissenschaftlern zusammengearbeitet – wobei das allerdings daran scheiterte, dass man Forschung im grösseren Massstab benötigte. Wir empfinden Zusammenarbeit stets als befruchtend – warum also nicht auch die Zusammenarbeit mit einem anderen Architekten? Rem war auf unsere Initiative hin schon beim Hypo-Projekt dabei, und er seinerseits hat bei uns auch schon ein paar Mal angefragt für gemeinsame Projekte; alle diese Anlässe zu Kooperationen sind letztlich nicht zustande gekommen, wobei das nicht an uns und auch nicht an Rem lag; entscheidend waren projektdynamische Entwicklungen. Beide Büros an einem grossen Entwurfsvorhaben zu beteiligen, das ist aber gar nicht unser eigentliches Ziel; uns interessieren seit einigen Jahren Projekte, an denen wir gemeinsam als Autoren auftreten, Projekte folglich, bei denen man nicht mehr sieht, wer für welchen Teil verantwortlich ist. Wir möchten also zusammen wie ein einzelner Architekt arbeiten, um zu sehen, wie wir gemeinsam über ein Projekt reden können, um es dann auch gemeinsam zu realisieren. Kürzlich ergab sich die Chance für ein kleineres Museum in Amerika – aber das Projekt war zu wenig umfangreich. Aus diesem Grunde funktionierte es nicht - es wäre ein zu grosser Aufwand für ein zu bescheidenes Ergebnis gewesen. Jetzt haben wir ein konkretes Projekt in Aussicht, wo wir beide sagten, wir wollen nicht in einen Wettbewerb zueinander treten, sondern es gemeinsam versuchen. Es handelt sich um ein Hotel mit Kinosälen für Ian Schrager am Astor Place in Manhattan – ein Neubau an einem wunderbaren Ort. Das Projekt hat viel Sprengkraft, weil es sehr politisch ist und die Interessen vieler Leute berührt. Es ist ein grosses, medienträchtiges Projekt; demnächst soll sich entscheiden, ob wir es gemeinsam machen können. Und dann gilt es zu überlegen, wie wir vorgehen: arbeiten wir in Basel oder in Rotterdam – oder auch an beiden Orten? Derartiges muss man ganz nüchtern und klar besprechen können, und ich denke, dass uns das auch gelingt. Das Motiv, das uns antreibt, besteht wie gesagt in unserer gegenseitigen Neugierde. Ob das Ergebnis dann besser ist, als wenn Rem Koolhaas oder wir das Gebäude allein realisierten, das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich vermute aber, dass es auch für die Bauherrschaft eine interessante Angelegenheit ist, gerade da es sich um ein Projekt handelt, das vom Marketing lebt oder noch vielmehr vom Markt der Eitelkeiten. Wer die Hotels von Ian Schrager kennt, weiss, dass er nur das Beste und Exklusivste anstrebt, und dabei ist unser Zusammengehen eben auch ein gutes Verkaufsargument.
H. A.: Kannst du dir vorstellen, wie die Arbeitsteilung konkret aussieht? Seid ihr für unterschiedliche Bereiche verantwortlich?
J. H.: Koolhaas sagt immer, er mache den Grundriss und wir machten den Schnitt und die Fassade. Aber so ist es natürlich nicht. Wir werden wohl eher so handeln, als ob er ein Teil unseres Büros wäre und umgekehrt. Ausserdem geht es um Organisation. Wie wird das Projekt ausgeführt, wer organisiert die Ausführung, das Projektmanagement? Das ist dann die nächste Stufe. Wahrscheinlich ist es gar nicht anders, als wenn ich etwas mit Pierre oder Harry oder Christine mache – wir sind schliesslich gewohnt, im Team zu arbeiten.
Im Übrigen sieht man, so denke ich, ganz ldar, dass Rem und wir Ähnlichkeiten haben hinsichtlich unserer medialen Ausrichtung, hinsichtlich unseres Interesses für Kommunikation, hinsichtlich unseres Bedürfnisses, direkt an die Öffentlichkeit zu treten und bewusst Sachverhalte zu formulieren. Aber was man sagt und wie man es sagt, stammt – wie du ja schon zutreffend formuliert hast – von ganz unterschiedlichen Orten und kommt aus unterschiedlichen Kulturen. Für uns war der Begriff der Tradition, den du erwähntest, immer ein wichtiger Begriff, weil wir die traditionellen Kulturen bewundern, weil wir dort etwas begreifen und etwas lernen konnten. Architektur ist der sichtbarste Ausdruck dieser traditionellen Kulturen; und daher wäre es falsch, wenn ich behauptete, das interessiere mich nicht. Was mich tatsächlich nicht interessiert: in einem konservativen Sinn Traditionen heute lebbar zu machen; da bin ich völlig rigoros. Und aus diesem Grund ist die Tabula-rasa-Idee von Rem Koolhaas auch ein sehr wichtiger Teil unserer Strategie - das völlige Neuanfangen, das Bewusstsein davon, dass man hier und jetzt und heute lebt. Mit unseren heutigen Mitteln die Welt lebbar zu machen, das trifft sehr genau unsere Vorstellung und ist letztlich der Beweggrund für unsere Studie.
Es muss eine Möglichkeit geben, heute die Fragen zu stellen: Was ist die Natur? Was ist die Stadt? Wie leben die Menschen? Wie reisen wir? Wie bewegen wir uns? Und bei diesen Fragen lässt sich von der Tradition nichts mehr lernen. Man kann die Stadt nicht mehr ausschliesslich typologisch begreifen, wie es Aldo Rossi versucht hat. Der Gedanke, es hat früher eine typologische Ordnung von Innenhöfen gegeben, also machen wir das heute auch so: das ist ein Denken, das nirgendhin führt. In diesem Sinne teile ich den Befreiungsschlag von der Tradition völlig.
Koolhaas aber ist sicherlich viel ausschliesslicher oder ausschliessender. Unsere Architektur hat eher wohl etwas von einem «sowohl – als auch», denn ich selbst sehe die Welt nicht in einer polaren oder dialektischen Form. Für mich spannend ist die Gleichzeitigkeit von Dingen und Phänomenen.
H. A.: Man könnte den Begriff des Hybrids, der Hybridisierung ins Spiel bringen, also der Überlagerung von Phänomenen und Funktionen. Wenn ich mir eure jüngsten Projekte anschaue, gerade die beiden Museen für San Francisco und Teneriffa, scheint mir ein Gedanke forciert, den ich in euren früheren Entwürfen so explizit nicht formuliert gefunden habe: der Gedanke der Kommunikation, der Verschmelzung von innen und aussen, eben der Überlagerung.
J. H.: Sicher haben wir seit einigen Jahren gelernt, dass das Sich-Zurückziehen auf formale Fragen, wie man es in der Schweizer Architektur der letzten Jahre vielfach sehen konnte, nirgendwohin führt. Wir suchen neue Arten, wie wir einen Ort urban machen können. Städte, gerade Museen, sind Orte, an denen Menschen zusammenkommen, zusammenkommen sollen; gleichzeitig soll jedoch die Konzentration auf die Kunst ermöglicht werden. Für uns sind das keine Widersprüche. OMA beschäftigt sich seit jeher mit Orten, an denen Menschen zusammenkommen – bei ihnen ist das, wie beispielsweise in Lille, Hauptthema. In der Schweiz wird das nicht als drängendes Problem wahrgenommen. Aber es ist ein Problem, es ist eine drängende Frage: überall auf der Welt, auch in der Schweiz. Zürich und Basel haben Museen mit Sammlungen von Weltrang, aber die Museen wirken wie Grüfte – das muss man ändern. Ich postuliere natürlich nicht, Museen in Shopping Malls zu verwandeln. Man muss in der Zukunft aber viel stärker an dem arbeiten, was du «Hybrid» nennst – man sollte das eine anbieten, das andere nicht vernachlässigen und damit zu Lösungen kommen, die es bislang formal nicht gegeben hat. Vielleicht ist Rem trotz seinem avantgardistischen Auftritt in gewissem Sinne sogar «traditioneller» als wir, er ist vielmehr als wir ein Traditionalist, ein Fortführer der Modeme.
H. A.: Die Bezüge zu Le Corbusier sind bei dem Haus in Bordeaux schwerlich von der Hand zu weisen
J. H.: Wir sind in diesem Sinne weniger gebunden und freier. Und in einem anderen Bereich kann er befreiter handeln, weil er eine weniger sesshafte Herkunft hat. Aber letztlich ist - und da muss man Aldo Rossi Recht geben - Architektur eben nur Architektur; alles, was wir zu sagen haben, müssen wir mit Architektur sagen. Andere Mittel sind uns nicht gegeben. Und da denkt Koolhaas vielleicht anders. Irgendwann bleibt nur noch Architektur als Vehikel der eigenen Ideen übrig. Wenn wir Architektur machen, dann nicht mit der Absicht des «epater le bourgeois», weil dieser Effekt nur kurzfristig anhält und allenfalls eine Werbestrategie darstellt. Architektur ist für uns eher ein Wahrnehmungsinstrument, war es immer schon, nur mit dem Unterschied, dass wir jetzt über andere Mittel verfügen und diese präziser einsetzen können.
H. A.: Du hast gesagt, dich interessieren Orte, an denen Menschen zusammenkommen. In der letzten Zeit hast du des Öfteren darüber gesprochen, dass Fussballstadien solche Orte sind; Orte, die auch zur Identitätsstiftung beitragen. Was ist das Spezifische an Stadien? Letztlich können sie an unterschiedlichen Orten funktionieren.
J. H.: Beim Fussball gibt es verschiedene Kulturen – knapp gesagt: die nordische (englische) und die südländische. Heute hat sich das etwas nivelliert, aber man spürt die «traditionellen Schulen» noch immer, gerade auch im Fussballspiel. Doch Fussballstadien sind – im Norden wie im Süden – viel mehr geworden als nur Sportstätten. Angeschlossen an den öffentlichen Verkehr, sind sie aus der Innenstadt an die Peripherie verlagert worden und zu Shopping Malls mutiert. Einst ldebten die Arbeiterhäuschen an den Stadien wie an den Kathedralen. Wie können Stadien wieder zum Ort werden, mehr als nur Schnittstellen ohne eigenen Charakter?
H. A.: Aber gerade das ist die allgemeine Tendenz. Stadien entste hen in der Nähe von Autobahnkreuzen und werden mit Multiplexkinos und Shopping Facilities angereichert.
J. H.: Wir wollen, dass sich die Funktionen wieder zu einem erkennbaren Ort verdichten, der eine Qualität hat, auch wenn er sich an der Peripherie befindet. Im Falle von Basel wird mit Hilfe von hinterleuchteten Plastic-Kuppeln, aus welchen die Fassadenhaut besteht, eine Art von Lampe entstehen, die rot leuchtet, wenn das Stadion benutzt wird. Wir arbeiten mit den Farbunterschieden Rot-Grün. Es sind einige konzeptionelle Ansätze, die wir umzusetzen versuchen; mehr können wir wohl kaum realisieren. Wir hätten gerne auch den Städtebau beeinflusst, aber der war vorgegeben.
Fussballstadien zu planen, das ist eine spannende architektonische und städtebauliche Aufgabe, weil es darum geht, viele Menschen für ein gemeinsames Erlebnis zusammenzuführen - wie Oper im grossen Massstab. Aber es ist kein Ort für eine Elite, der mit der Welt, wie sie ist, nichts zu tun hat. Im Gegenteil: Es ist ein Ort, der für das Bewusstsein einer Stadt und sogar des Landes eine entscheidende Rolle spielt. Das Wankdorfstadion, das Hardturmstadion, das St.-Jakob-Stadion: das sind für die Schweiz Orte und Begriffe. Und uns geht es darum, diese Begriffe mit Bildern zu verbinden und zu beleben. Damit handelt es sich um ein neues branding einer urbanen Landschaft der Schweiz - einer urbanen Landschaft, in der manches Traditionelle verschwindet, aber Neues entstehen kann.
H. A.: Wie unterscheidet sich ein derartiges branding von dem anderer Länder? Mir scheint, dass es letztlich nichts Spezifisches mehr gibt.
J. H.: Du hast völlig Recht. Früher repräsentierten die Stadien unterschiedliche Kulturen; heute ist das nicht mehr der Fall. Wir würden aber gerne die Stadien zu einem Netzwerk zusammenschliessen, das die ganze Schweiz verbindet. Das wäre ein Konzept, das in der Schweiz den Stadien und Orten eine gewisse Identität gibt. Und Stadien als Teil eines urban network scheinen mir als städtebauliche Vision reizvoll und machbar - und inhaltlich interessanter als etwa die durch Schnellboote vernetzten arteplages auf den Juraseen.
H. A.: Wenn du die physische Präsenz, ja Sinnlichkeit von Archi tektur ansprichst, so rekurrierst du auf Notwendigkeit von Sinneseindrücken als anthropologischen Konstanten. Ist mithin Architektur resistent gegenüber einer Virtualisierung? Wie verhält es sich überhaupt mit der zunehmenden Entwirklichung der Welt? Ich konstatiere durchaus paradoxe Situationen. Um auf Fussball zurückzukommen: Die televisionäre Präsenz des Spiels verstärkt sich ständig, und es drängt sich der Verdacht auf, Stadien verwandelten sich zu locations für reality-tv. Schon in der Arena wird den Besuchern mit Hilfe von Zeitlupeneinstellungen auf den Anzeigetafeln die Möglichkeit gegeben, das reale Geschehen zeitversetzt und dupliziert in Nahaufnahme zu betrachten. «Halbzeitfernsehen» im Stadion kompensiert die temporäre Inaktivität der Spieler, und ein Auswärtsspiel von Borussia Dortmund wurde unlängst der im heimischen Westfalenstadion versammelten Fangemeinde auf einer Grossleinwand übertragen. Offenkundig bedarf es also trotz allem der Gemeinschaft, selbst in den medial distribuierten Bildern, bei denen der Kameraschwenk über die Ränge Authentizität erzeugt. Und in den alltäglich ausgestrahlten Sitcoms der Fernsehprogramme dient aus dem Off eingeblendetes Lachen eines simulierten Publikums dazu, die verstreuten Zuschauer zu einer virtuellen Gemeinschaft zusammenzuschweissen.
J. H.: Es ist eben das Spannende, dass der Aspekt des Ortes, des Unmittelbaren und der Gemeinschaft trotz allem eine bedeutende Rolle spielt. Und dieser Aspekt wird bleiben. Der Mensch ist, sehen wir einmal von der Möglichkeit biotechnologischer oder informationstechnologischer Mutationen ab, auch weiterhin ein soziales und mit sechs Sinnen ausgestattetes Wesen. Die Sehnsucht nach ganz primitiven, einfachen Erlebnissen bricht nicht ab. Im Stadion muss es nach Erde riechen - wozu haben wir eine Nase und Ohren? Wer alles nur noch mit dem Kopf und den Augen wahrnimmt, reduziert sich selbst, ist im ganz wortwörtlichen Sinne «beschränkt». Das kann die Zukunft nicht sein. Deswegen bemühen wir uns, eine Architektur zu machen, die den ganzen Körper einbezieht. Für mich ist beispielsweise unbegreiflich, warum es auf Flughäfen nicht längst air lounges gibt. Man tritt aus dem Flugzeug heraus und spürt, wo man ist: in der Hitze, in der Kälte, wo auch immer. Architektur muss diese Qualität besitzen.
H. A.: Terry Rileys Ausstellung «The Unprivate Hause» im MoMA, bei der ihr mit dem Projekt der Kramlich Residence vertreten wart, stellte anhand ausgewählter Beispiele die Frage, ob und wie zeitgenössische Architektur auf die verschwimmenden Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit reagieren könne. Ist das eine Frage, die euch berührt?
J. H.: Auch wenn mich längst nicht alle in New York präsentierten Entwürfe überzeugten: Die Frage ist von höchster Bedeutung. Der Hausbau ist extrem konservativ und wandlungsresistent geblieben. Aber was wir ein «Haus» nennen, ist nicht gottgegeben. Hausbau sollte sowohl «figürlicher» als persönlicher werden, d.h. im Extremfall wie selbst gebaute, nach aussen gekehrte Interieurs, aber auch «abstrakter» und radikaler, d.h. befreit von den Vorstellungen und Normen, welche Baugesetze, Werbung und ein herkömmliches, konservatives Verständnis von Architektur uns aufdrängen. Es geht, und das ist unser Ziel, um Modelle, die ein Potenzial für die Zukunft aufweisen.
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese 1.2000 Herzog & de Meuron.