Visionäre Kultbauten der Zeit um 1900
Coronabedingt musste auch die Retrospektive des Symbolisten Albert Trachsel im Kunstmuseum Solothurn vorzeitig schliessen. Alle, die sich für architektonische Visionen des Fin de Siècle interessieren und die Schau in Solothurn verpasst haben, können sich zumindest an der von Scheidegger & Spiess verlegten Begleitpublikation erfreuen.
Text: Hubertus Adam – 24. Februar 2021
Zeichnungen: Albert Trachsel
Überfällige Wiederentdeckung
Es ist fast 30 Jahre her, dass ich zum ersten Mal mit Albert Trachsel in Berührung kam. Damals besuchte ich Harald Szeemanns geniale und in jeglicher Hinsicht phantastische Ausstellung Visionäre Schweiz, die 1992 – nach ihrer Premiere im Kunsthaus Zürich – in Düsseldorf Station machte. Inzwischen ist das Werk Trachsels, nicht zuletzt aufgrund des wachsenden Interesses an der Kunst des Symbolismus, an verschiedenen, auch internationalen Orten zu sehen gewesen, so in New York, Montreal, Amsterdam und Darmstadt; doch an eine monografische Schau wagte sich seit langer Zeit nun erstmals nach der Retrospektive 1984/85 das Kunstmuseum Solothurn, ohnehin eine herausragende und stets besuchenswerte Adresse, wenn es um Schweizer Kunst der Zeit um 1900 geht. Und neben dem Musée d’art et d’histoire in Genf die öffentliche Institution, welche die meisten Werke Trachsels ihr eigen nennen kann.
Gemeinschaftsarchitekuren der Zukunft
Trachsel, 1863 in Nidau geboren, 1929 in Genf gstorben, begegnete als Neunjähriger im Winter 1872/73 erstmals dem gut 10 Jahre älteren Ferdinand Hodler, mit dem ihn später eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. 1879 begann er das Studium der Architektur an der Ecole des Beaux-Arts Genf, das er am Zürcher Polytechnikum und ab 1882 an der Ecole nationale supérieure des beaux-arts Paris fortsetzte. In der französischen Kapitale arbeitete er für verschiedene Architekten, hatte daneben aber auch Kontakte zum Kreise der Symbolisten wie Stéphane Mallarmé und Paul Verlaine und war befreundet mit Paul Gauguin und Auguste Rodin.
Seit 1885 arbeitete Trachsel an isometrischen Federzeichnungen mit utopischen Architekturen – dargestellt sind die Bauten wie auf einem Seziertisch, die Umgebung ist auf einen farblichen Fond im Hintergrund reduziert. Einige der Zeichnungen wurden 1891 auf der Ausstellung der Artistes Indépendants in Paris präsentiert, eine grössere Anzahl 1892 ebendort am ersten Salon de la Rose-Croix, also einer Ausstellung der esoterischen Rosenkreuzer. 1897 erschien der Zyklus als Mappenwerk in Form von 50 Heliogravüren unter dem Titel Les fêtes réelles. Die Fest- und Kultarchitekturen für eine fiktive Menschheit sind Teil des Fragment gebliebenen literarischen und architektonisch-zeichnerischen Gesamtkunstwerks L’harmonie, zu dem auch der Gedichtband Le cyle (1893) sowie die – nicht realisierten – weiteren Mappen Le chant de l’océan und Apparitions gehören, welche Bildprogramme für die dekorative Ausgestaltung der Tempelbauten enthalten sollten. Auf der Weltausstellung Paris 1900 zeigte Trachsel das Projekt für einen Friedenstempel auf der Habsburg im Aargau; daneben widmet er sich nur wenigen konkreten Architekturprojekten, so dem Umbau des Château de la Boissière bei Genf (um 1893) und dem Gebäude eines chinesischen Schattentheaters für die Genfer Landesausstellung 1896.
Von der Architektur zur Landschaftsmalerei
Nach 1900 wandte sich Trachsel, der seit 1901 in Genf lebte, von der Architektur ab und widmete sich dem Studium der Natur. Er eignete sich autodidaktisch die Technik der Ölmalerei an und arbeitete zwischen 1905 und 1914 am Zyklus der Paysage de rêve. Figurenkompositionen und Menschendarstellungen fehlen in seinem Werk. In bewusster Abgrenzung zu seinem Vorbild – und zugleich Antipoden – Ferdinand Hodler, der zu dieser Zeit die Schweizer Malerei dominierte, erschuf Trachsel schliesslich Traumwelten, die sich vom Naturvorbild absetzten und die Grenzen des Abstrakten streiften, und bezog damit eine eigenständige Position innerhalb der symbolistischen Landschaftsmalerei. Im späteren Werk nach 1914 setzte er sich konkreter und frei von Phantastik mit der Landschaft um Genf auseinander. Kommerziell war Trachsel mit diesen Bildern viel erfolgreicher als mit seinen früheren Werken, doch lässt sich eine gewisse Spannungslosigkeit nicht verleugnen.
Ein umfangreiches publizistisches Werk begleitete Trachsels künstlerisches Schaffen. Es fungierte als gedanklicher Rahmen für seine visionären Bildfindungen, doch daneben verfasste er auch kunstkritische und kunstpädagogische Schriften. Am Ende des Ersten Weltkriegs publizierte er 1918 die pazifistische Schrift La guerre. Les constations et les réformes mit der Zukunftsvision eines demokratischen Europas.
> In archithese 19+20.1978 Bilanz 78 widmet sich Beat Wyss der Reflexion über das Fin de siècle.