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Aalto, Emotion and Architecture

Alvar Aalto gehört neben Le Corbusier, Frank Lloyd Wright und Mies van der Rohe zu den Fantastic Four der Architekturavantgarde des 20. Jahrhunderts. Sein Werkverzeichnis umfasst eine beeindruckende Anzahl an geplanten und gebauten Projekten – viele davon auch im deutschsprachigen Raum – und brachte ihm nicht zuletzt durch seine Möbeldesigns global einigen Ruhm ein. Ein Dokumentarfilm der Regisseurin Virpi Suutari, der ab 22.April in den Schweizer Kinos zu sehen ist, erlaubt den Rückblick auf das bewegte Leben eines grossen Architekten, dessen Werke und Ansichten teilweise noch heute als progressiv gelten können.

 

Text: Nicole Müller – 9. April 2021
Bilder: Euphoria Film

 

Langsamer Zoom auf die weiß lackierte Ziegelfassade des Experimental House (1952) in Muuratsalo, rahmendes Grün, Sonnenstrahlen fallen blass durch die mit Holzleisten gefassten Aussparungen der hoch aufragenden Wand, Vogelgezwitscher, knackendes Holz, Blattwerk im Wind. In ästhetischer Bildsprache, untermalt mit minimalistischer Musik, nimmt der Dokumentarfilm die Betrachtenden mit auf eine chronologische Reise, die 1898 im finnischen Kuortane beginnt und im Jahre 1976 in Helsinki auf dem Weg zur Arbeit endet. Archivmaterial in schwarz-weiß, Wortbeiträge etlicher Zeitzeug*innen, private Fotos und Zitate aus Briefen geben einen umfassenden und intimen Einblick in das Leben und Schaffen der Aaltos. Ganz nebenbei wärmen die Aufnahmen der idyllisch gelegenen, über den Globus verteilten Aalto-Bauwerke, gepaart mit alten Urlaubsaufnahmen des Ehepaars, die Seele in einer Zeit, da das arglose Reisen temporär erneut Wenigen vorbehalten bleibt.
Allen, die bereits das Arte-Portrait über Alvar Aalto kennen, werden viele Sequenzen des Films nicht neu sein: Aus der knapp einstündigen Fernsehfassung ist eine Kinoversion in Spielfilmlänge geworden.

 

Moderne Frauenbilder
Zeitlich wie auch thematisch kann sich der Beitrag in die Gleichberechtigungs-Debatte einreihen, die alljährig durch den Weltfrauentag am 8. März und den Equal Pay Day (CH: 20. Februar, D: 10. März) auf die Agenda gesetzt wird (siehe hierzu auch archithese: Es gibt noch viel zu tun›, 08.03.21).
Schon das Titelfoto lässt erahnen, dass es sich bei dem Film von Regisseurin Virpi Suutari nicht bloß um ein Portrait Alvar Aaltos handelt. Die Dokumentation kann explizit auch als eine Hommage an seine zwei Ehefrauen Aino und Elissa Aalto verstanden werden, von denen unabhängig das Werk des Architekten nicht betrachtet werden kann.
Besonders von Aaltos erster Ehefrau Aino wird das Bild einer starken, eigenständigen Frau gezeichnet, die ihrem Mann – den der befreundete Architekt Karl Fleig als „strahlungsintensiv“ bezeichnete – zu Lebzeiten ein sanftmütiges Pendant war. „Wir werden niemals wissen, wo die Trennung zwischen den Beiden war“, so ein Sprecher des Films. Die Arbeitsteilung des Ehepaars war schon damals pionierhaft und kann noch heute in vielerlei Hinsicht als Vorbild dienen. Aino Aalto war Mutter, praktizierende Architektin und Designerin in einer männerdominierten Domäne. Einer Vielzahl von Möbelentwürfen der gemeinsamen Firma ARTEK sowie vielen Bauwerken des Büros verlieh die gelernte Schreinerin und Architektin ihre eigene Handschrift. Der private Briefwechsel zeugt von der Geschichte einer modernen, kühnen Beziehung auf Augenhöhe und einer gegenseitigen tiefen Wertschätzung, die das Grundgerüst einer langjährigen, intensiven Zusammenarbeit bildete, und ruft ganz nebenbei beim Betrachten das ein oder andere Mal leises Schmunzeln hervor. Man würde sich lediglich wünschen, dass Elissa Aalto, die die Aalto-Projekte nach dem Tod des Architekten federführend weiter betreute, etwas weniger im Schatten Ainos verblasste.

 

Humanistische Moderne
«Es gibt zwei Dinge in der Architektur, Menschlichkeit oder keine». Dies ist wohl eines der bekanntesten Zitate Aaltos und auch in der Gegenwart von drängender Aktualität. Während sich der Architekt zu Beginn seines Schaffensprozesses noch streng am Funktionalismus orientierte, entwickelte er mit der Zeit seine eigene Interpretation moderner Architektur, deren Fokus primär auf den menschlichen Dimensionen lag.
Er verfolgte einen interdisziplinären Ansatz: liess sich inspirieren von antiken italienischen Städten und befreundeten Künstlern wie László Moholy-Nagy; band soziale, psychologische und ökologische Überlegungen in seine Entwürfe ein. Seine Werke – insbesondere auch die Möbel, die in enger Zusammenarbeit mit dem Schreiner Otto Kohornen entstanden sind – zeigen immer auch eine außerordentliche Wertschätzung für Materialien und Handwerk. Sein beständiges Ziel, für den Menschen zu entwerfen und mit seinen Bauwerken ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, resultierte in einer facettenreichen Projektfülle, vom Städtebau bis hin zu Designobjekten.
Sein spielerischer Umgang ist hierbei nicht nur in den Werken präsent, sondern drückte sich auch stets in seiner Arbeitsweise aus. Da konnten Gäste im Aalto-Atelier auch mal in Bademantel empfangen oder die Belegschaft mit anstössigen Liedern zum Lachen gebracht werden.
Letztlich war die Kunst Alvar Aaltos immer auch eine Form der Gegenwartsbewältigung in einem bewegten Leben, in dem sich der Architekt des öfteren emotional regenerieren und neu aufstellen musste.

 

Mit Sicherheit gibt es Ansichten Aaltos, mit denen man nicht übereinstimmen muss, dennoch kann man dem prominenten Architekten nicht absprechen, mit seiner Auffassung der Architektur, seinem Frauenbild und seiner Arbeitsweise eine Vorreiterposition eingenommen zu haben, die in aktuellen (Architektur-) Diskursen weiterhin Relevanz besitzen. Schon daher lohnt es, sich den Film auf die persönliche Agenda zu setzen, vielleicht ergeben sich mit ihm neue Blickwinkel auf aktuelle Themen.

 

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> Ein Wohnhaus am Müseliweg in Zürich von Schmid Schärer Architekten nimmt anleihen an Alvar Aaltos Experimental House in Muratsalo.

> Einst das grösste Wohnungsbauunternehmen der Welt, baute auch Alvar Aalto für die Neue Heimat. Ein Skandal setzte dem Konzern in den 1980er-Jahren ein Ende.

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