Vielfalt als Potenzial
Warum wir Öffentlichkeit, öffentlichen Raum und öffentliche Gebäude brauchen
Öffentliche Räume sind Orte der Begegnung, des Austauschs und der gemeinsamen Verhandlung. Martina Baum und Markus Vogl beschäftigen sich am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart seit geraumer Zeit mit dem Thema der Öffentlichkeit. Kürzlich erschien dazu ihr Buch Täglich im Verlag M BOOKS. Darin erklären sie, wieso es in der heutigen Zeit notwendig ist, über öffentliche Stadträume nachzudenken, die programmatisch, aber nicht spezifisch determiniert sind.
Text: Nicole Müller, 19. Oktober 2022
«Vielfalt ist einer der Schlüssel, den großen Herausforderungen der Menschheit gestaltend zu begegnen», schreiben Martina Baum und Markus Vogl zu Beginn des Buches. Das ist keine neue Auffassung, dennoch wichtig zu deklarieren, denn die gelebte Wirklichkeit sieht zunehmend anders aus. Seit Jahren werden in Architektur und Städtebau Gentrifizierung und Segregation diskutiert. «Aus Angst vor dem Anderen und Andersartigen ziehen sich die Menschen zurück in die Privatheit und an exklusive kontrollierte Orte. Akzeptanz, gegenseitiger Respekt oder wenigstens Toleranz weichen einer Ignoranz und zunehmender Radikalität».1 Der «globale Turbokapitalismus», so definieren es Baum und Vogl, hat die Stadtbewohnerschaft von Produzent*innen zu Konsument*innen degradiert. Städte werden zunehmend zu infrastrukturellen Konstrukten; Konsum und Dienstleistungen stehen an erster Stelle.
Sich zu begegnen und zu verhandeln sind jedoch Grundpfeiler unserer Demokratie. «If the experiences of separateness expressed in the urban environment become dominant in their societies, people will distance themselves from democracy», schreiben der Historiker und Soziologe Mike Davis und die Anthropologin Teresa Caldeira.2 Fortschritt ist auf Brüche angewiesen. Nur so gelingt es, aus festgefahrenen Denkmustern auszubrechen und Neues zu entwickeln. Hierfür braucht es Begegnungen ausserhalb eines homogenen Kontexts, die zwischen sich unbekannten Menschen primär an öffentlichen Orten stattfinden. Freiräume sind allerdings in unseren Breitengraden nicht alljährig nutzbar und Museen wie Bibliotheken folgen spezifischen Nutzungen und können so nicht freiheitlich angeeignet werden. Auch die Trennung zwischen Freiraum und Gebäude ist nicht zielführend, will man einen radikal öffentlichen Ort entwickeln.
Die Herausgebenden schlagen daher einen Ort vor, den sie Täglich nennen. Täglich, weil 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche zugänglich. Die Idee eines öffentlichen Freiraums also, in Architekturen weitergedacht, wie es beispielsweise Bernard Tschumi in Paris mit seinen follies im Parc de la Villette praktizierte. Ein Konzept, das auch Lina Bo Bardi und Marcelo Ferraz mit den brasilianischen SESC-Zentren oder Frank van Klingeren mit dem 1972 erbauten De Meerpaal in Dronten exemplarisch umsetzten. Martina Baum und Markus Vogl verstehen solche Raumangebote weniger als funktionsoptimierte Artefakte, die lediglich vermeintliche Bedarfe decken, sondern vielmehr als Riffe – Grundstrukturen also, die zur kreativen Aneignung ermuntern und verschiedenartig belebt werden müssen.
Alltäglichkeit, Mündigkeit, Zwanglosigkeit, Polyvalenz, Inklusivität, Dynamik und Stabilität: Auf welches Vokabular sich das Konzept stützt, wird in dem gleichnamigen Buch in einem Glossar aufgelistet. Hinzu kommt eine Sammlung von Projekten, die räumlich wie auch konzeptionell als Referenzen dienen, darunter auch das L200 und das Volkshaus in Zürich. Räumlich werden unter anderem Planungen von Herman Hertzberger, Aldo van Eyck, Frei Otto oder Cedric Price aufgeführt.
Das Buch lässt Raum zum Denken, ist aber gleichzeitig kompakt und ebenso vielfältig, wie sich das Täglich in der Praxis darstellen sollte. Ein Text von Martina Baum und Markus Vogl im Zentrum der Publikation bettet das Projekt des Täglich in den historischen, ökomischen wie sozialen Rahmen ein und erklärt die Dringlichkeit für Öffentlichkeit in unserer Zeit der Pluralisierung von Lebensstilen. Der Text wird flankiert von einer Erzählung über Andersartiges und von einem Theaterstück, das einen möglichen Alltag im Täglich abbilden soll. Hinzu kommen Glossar und Projektsammlung, welche ebenso gut als Nachschlagewerk dienen können.
Die im Buch versammelten Bauten deuten jedoch auch auf die Dringlichkeit hin, öffentlichen Raum ebenso wie dahinterstehende Entwicklungsmodelle wieder verstärkt zu diskutieren: Ein Grossteil der Projekte mögen sich zwar bewährt haben und werden in der Architekturszene gerne als Referenzen herangezogen, sind jedoch in die Jahre gekommen und müssen, denkt man heutzutage über öffentliche Orte nach, an die gegenwärtigen Bedingungen angepasst werden. Die wenigen aktuellen baulichen Beispiele machen deutlich, dass es an innovativen und experimentellen Ideen fehlt. Ein Konzept wie das Täglich sollte daher als Anstoss verstanden werden, sich erneut gestaltend mit dem Thema der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen.
1 Martina Baum / Markus Vogl (Hg.), Täglich, Weimar 2022, S. 61.
2 Ebd., S. 65.