Übergangslösung auf Dauer
Kühne Kombinationen und manch abenteuerlich wirkende Ausgestaltung – diese finden sich in den von Enver Hirsch und Philipp Meuser fotografierten Behelfsheimen, die als Notunterkünfte für Ausgebomte im NS-Deutschland errichtet wurden. Die Zwischenlösung wurde zur Gewohnheit und die behelfsmässig errichteten Heime von den Bewohnenden über Jahrzehnte immer weiter ausgestaltet und dekoriert. Die Publikation Behelfsheim zeigt und bespricht diese Wohnform in ihrer Einzigartigkeit. Vieles am Buch irritiert – und genau damit kitzelt es die Neugier, ist amüsant und bleibt trotzdem immer seriös.
Text: Peter Lindhorst – 23. Oktober 2020
Fotos: Enver Hirsch und Philipp Meuser
Eigenheimromantik oder spröde NS-Baracke?
1943 wurde ein Grossteil des Wohnraums in Hamburg durch die Luftangriffe der britischen Royal Air Force zerstört. NS-Reichswohnungskommissar Robert Ley war mit der Einrichtung des sogenannten Deutschen Wohnungshilfswerks betraut, das Ausgebombte mit behelfsmässigen Unterkünften versorgen sollte. Man entwickelte Miniaturheime, die von den zukünftigen Bewohner*innen in Eigenleistung gebaut werden sollten. Für diese Behelfsheime wurden die Genehmigungsverfahren vereinfacht, Grundstücke zugeteilt und finanzielle Unterstützung zugesichert. Die Bauherrschaften erhielten eine Baufibel – eine Anleitung mit Texten und Zeichnungen – die eine einfache Konstruktion mit materialsparenden Lösungen vorsah. In Hamburg entstanden so etwa 40 000 Behelfsheime. Eigentlich nur als temporärer Wohnraum geplant, um im Krieg zerstörte Wohnungen zu ersetzen, blieben viele von ihnen aufgrund der schwierigen Wohnungssituation auch in der Nachkriegszeit bestehen. Auch heute befindet sich ein Grossteil von ihnen in Kleingartensiedlungen. Erst nach Auszug oder Tod der mit einem lebenslangen Bleiberecht ausgestattet Bewohnenden, sollten die Häuser abgerissen werden.
My Behelfsheim is my Castle.
Die unbefristete Nutzungserlaubnis, aber auch der Umstand, dass in den NS-Vorgaben während dem Krieg schlichte Zweckbauten propagiert wurde, beflügelte die Besitzenden in den Nachkriegsjahren dazu, die Häuser umzugestalten und zu erweitern. Das eigene Heim wurde dekoriert und geschmückt. Damit stechen die Behelfsheime besonders hervor, die wir mit dem Kulturtheoretiker Bernard Rudofsky als «Architecture without Architects» bezeichnen können. Diese oft romantisierte Form des Bauens zeigt uns vor allem eines: Mentalitäten und gesellschaftliche Werte, die sich auch ohne Planende niederschreiben.
Heute sind die Behelfsheime fast vollständig verschwunden. Das Fotografen-Duo Enver Hirsch und Philipp Meuser hat in den letzten Jahren einige verbliebene in Hamburg aufgespürt und fotografisch dokumentiert. Sie bewahren diese vor dem Vergessen und haben ein charmantes dokumentarisches Zeugnis geschaffen, in dem Grundformen, Ähnlichkeiten und Abweichungen festgehalten sind. Doch Vergleichbarkeit lässt sich fast nicht herstellen, da die Bewohnenden den einst schlichten Funktionsbauten in unendlicher Varianz neue Erscheinungsbilder aufgedrückt und sie zu ganz eigenen baulichen Charakteren gemacht haben. Genau das befeuerte die Motivation der beiden Fotografen. Sie haben ein feines Sensorium für den speziellen Gestaltungswillen der jeweiligen Bewohner*innen entwickelt und das zuweilen unerträglich Spiessige oder Rührende, das diese Orte ausstrahlen. Ihr Blick darauf ist gross- und manchmal auch ein wenig bösartig.
Ich bau' mir die Welt, so wie sie mir gefällt.
Mal wurden die Fassaden mit lieblichen Anstrichen aufgehübscht, mit Eternitplatten verkleidet, oder mit der Imitation eines Fachwerkes versehen. Es gibt grotesk wirkende An- und Aufbauten, nach und nach zugefügte Elemente wie Gauben, Erker und Extra-Eingänge. So sind die meisten Häuser über die Jahre langsam, aber stetig gewachsen. Ein Wildwuchs, bei dem die Formen, Farben und Materialien die Sinne der Betrachtenden überfluten. Obwohl die Fotos an keiner Stelle Bewohnende zeigen, verraten diese viel über sie. Das Buch hält mit teils ironischem Blick die abstrusen innenbaulichen Veränderungen fest, die von ihren Erzeugern als pragmatische Lösungen begriffen werden. Hier frönte der Heimwerker seiner Leidenschaft: Jede freie Fläche wurde vertäfelt, in jeder Nische Schränke eingebaut. Hier wurde ein Lichtschalter versetzt, dort eine Tapete mit Backsteindekor verklebt. Es sind Räume, in die das Leben ihrer Besitzenden eingeschrieben ist, die sich aber allmählich leeren und nie wieder füllen werden. Das macht die Betrachtung zugleich zu einem melancholischen Unterfangen.
Hereinspaziert!
Das Buch ist mit unterschiedlichen Papieren und Ausklapptafeln ausgestattet und präsentiert ein kühnes Nebeneinander verschiedenster inhaltlicher Elemente. Ausserdem haben die beiden Fotografen viel historisches Zusatzmaterial – Pläne, Grundrisse, Anleitungen – in ihrem Behelfsheim-Buch «verbaut». Dazu kommt ein architekturtheoretischer Essay über das Behelfsheim und dessen Einordnung in die Architekturgeschichte der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte bis heute. Dieser wiederum wird kontrastiert mit einem übermütigen, fiktiven Text, in dem heutige Behelfsheimbesitzer*innen während einer Podiumsdiskussion auf den Nazi-Schergen Robert Ley treffen.
Haben Sie die Füsse abgetreten? Dann herein mit Ihnen und schliessen Sie die Tür!
> Romantik hat als Fluchtstrategie eine lange Tradition. In archithese 2.2019 schrieb Petra Habrock-Heinrich darüber.