Studio Alchimia: Postradikale Designrevolution
Das 1976 von Alessandro und seiner Schwester Adriana Guerriero in Mailand gegründete Studio Alchimia revolutionierte das Design weltweit. Als postradikale Avantgarde-Gruppe brachte Studio Alchimia die wichtigsten italienischen Designer*innen und Architekt*innen der 1970er- und 1980er-Jahre zusammen, darunter Alessando Mendini, Ettore Sottsass und Andrea Branzi. Die Gruppe bestand in unterschiedlichen Konstellationen, bis sie 1992 von Alessandro Guerriero mit einem performativen Akt aufgelöst wurde.
Anlässlich der ersten grossen Retrospektive zu Studio Alchimia, die im Berliner Bröhan-Museum zu sehen war, haben Elizabeth Sikiaridi und Frans Vogelaar mit Alessandro Guerriero gesprochen.
Text: Elizabeth Sikiaridi und Frans Vogelaar
«In Florenz in den 1970er Jahren sagte eine Gruppe von Architekt*innen und Designer*innen: ‹Moment mal, schauen wir uns doch einmal an, was um uns herum geschieht›. So entstand Global Tools, was äusserst wichtig war. Ohne dieses Projekt hätte es Alchimia nicht gegeben. Alles begann mit Global Tools», erklärte Alessandro Guerriero, Mitbegründer von Alchimia1, im Interview. Guerriero bezog sich auf das Kollektiv Global Tools, das 1973 von Superstudio mitbegründet wurde und vor allem in Florenz, dem damaligen Zentrum des politischen Diskurses in Italien, aktiv war. Global Tools (1973–1975) war ein Zusammenschluss linker radikaler Designlabore, der im Kontext der Studentenbewegung von 1968 entstand, um gemeinsam alternative Design- und Kunstideen zu fördern. Laut Guerriero «zogen dann anschliessend die, die damals in Florenz arbeiteten, nach Mailand, was die Wirkung einer Atombombe hatte, unserer italienischen Kulturbombe».
In Mailand konnten, laut Guerriero, die Architekt*innen und Designer*innen auf eine florierende Handwerkstradition zurückgreifen. Dies gab den Gestalter*innen von Studio Alchimia die Möglichkeit, ihre Autonomie und kreative Freiheit auszuleben, um auch unabhängig von industriellen und kommerziellen Zwängen frei zu entwerfen und zu produzieren – für Kollektionen meist mit Unikaten und Kleinserien, die im Rahmen eindrucksvoller Inszenierungen präsentiert wurden.
Die von Global Tools formulierten Prinzipien und ihre kritische Haltung gegenüber technokratischem Denken und industrieller Massenproduktion blieben für Studio Alchimia weiterhin von grosser Bedeutung. Ähnlich wie Global Tools betrachtete auch Studio Alchimia Design als kulturelle Produktion. Poetische Momente sowie ästhetische und emotionale Werte standen im Mittelpunkt dieses Ansatzes. Sich von dem damals vorherrschenden modernistischen Funktionalismus (und einer reduzierten Lesart) des Bauhauses deutlich absetzend, vermochte Studio Alchimia sich als ein Gegenmodel dazu zu präsentieren. In Anspielung auf das Bauhaus und gleichzeitig als Kritik daran wurden die ersten Kollektionen von Studio Alchimia Bau. Haus Uno (1979) und Bau. Haus Due (1980/1981) ironisch betitelt.
In Anlehnung an die mittelalterlichen Alchemisten, die versuchten, aus einfachen Materialien Gold zu gewinnen, zelebrierte Studio Alchimia das Banale und Kitschige, um es in «magische» Objekte zu verwandeln. Die Entwürfe verwendeten oft alltägliche, preiswerte Materialien wie Laminate. Mit dieser Ästhetik des Trivialen verfolgte Studio Alchimia einen spielerischen Maximalismus, um eine Gegenwelt zu entwickeln. Die Kritik an der Rigorosität der funktionalistischen Gestaltung und des abstrakten Minimalismus der Moderne wurde mit Ironie und mit Lust an Paradoxien betrieben. Im ikonischen Sessel Poltrona di Proust – 1978 von Alessandro Mendini im Kontext von Studio Alchimia entworfen – ist die Oberfläche eines neubarocken Fauteuils mit einem handgemalten pointillistischen Muster überzogen. Es ist ein farbenfrohes Re-Design eines Klassikers mit Bezügen zur Literatur (Marcel Proust) und Malerei (Paul Signac), ein intellektuelles Spiel mit komplexen dekorativen Zeichensystemen, das bewusst und freudig das Kitschige im distinguierten Habitus des Designs einbezieht.
Studio Alchimia zeichnete sich durch eine kritische Haltung gegenüber dem kommerziellen Betrieb der Designbranche aus. Guerriero dazu: «In den 1980er Jahren schufen wir einen ‹Aussenbereich› zum Mailänder Salone del Mobile, weil wir die Veranstaltung kritisieren wollten. Als der Sessel Poltrona di Proust beim Salone del Mobile vorgestellt wurde, wurde er im Aussenbereich in einer geschlossenen, unzugänglichen Box mit einem kleinen Loch ausgestellt, durch das man hineinsehen konnte. Wir haben nicht geschrieben, wer ihn hergestellt oder sogar entworfen hat. Man konnte den Sessel nur durch das Loch sehen, das war alles.» Die Präsentation des Sessels war ein Spiel voller Umkehrungen: nicht innerhalb, sondern ausserhalb des Salone del Mobile; nicht offen für das Messepublikum zur Schau gestellt, sondern versteckt und nur für jeweils eine Person durch ein Guckloch sichtbar; nicht die Autorenschaft betonend, sondern anonym präsentiert.
Die Inszenierungen der Kollektionen waren für Studio Alchimia sehr wichtig. Die Medialisierung wurde sehr früh verstanden und mit Hilfe von verführerischen Covern und Veröffentlichungen in Architektur- und Designzeitschriften wie Casabella, Modo und Domus effektiv eingesetzt. Studio Alchimia nutzte dabei die evokative Kraft von Bildern, darunter die theatralischen Fotos des Mailänder Fotostudios Occhiomagico. Ausserdem verfolgten sie sehr explorative Ansätze, beispielsweise in der Zusammenarbeit mit dem experimentellen Mailänder Video- und Filmkollektiv Metamorphosi.
Studio Alchimia inszenierte seine Objektpräsentationen als theatralische Gesamtkunstwerke. In diesem wahrhaft transdisziplinären Studio, das auch als Plattform und Agentur fungierte, wurde die Konvergenz von Genres und kreativen Arbeitsfeldern gefördert: Produktdesign kam zusammen nicht nur mit Mode, dekorativer Kunst und Architektur, sondern auch mit Malerei und Skulptur, mit Installationskunst, Bühnenbildgestaltung, theatralischen Inszenierungen und Performancekunst, mit Musik, mit künstlerischer Fotografie und experimenteller Videoproduktion. Dies war ein wichtiger Faktor für Studio Alchimias Innovationskraft. Zur Transdisziplinarität äusserte sich Guerriero folgendermassen: «Wir haben hart daran gearbeitet, als wir erkannten, dass die Disziplinen einander nahestanden. Und dass sie sich gegenseitig mit Sauerstoff versorgen mussten. Also haben wir sie gemischt, wir haben sie miteinander verflochten. Die Architektur schöpfte aus der Mode, das Design aus der Kunst. Und alle haben sich in einem noch nie dagewesenen Orgasmus der Disziplinen miteinander verflochten.» Laut Guerriero war die Arbeitsweise von Studio Alchimia sehr einfach: «Wir haben nicht gesagt: ‹Oh, lasst uns einen Stuhl bauen, und zwar so oder so.› Wir haben nicht damit angefangen zu sagen: ‹Oh, lasst uns einen Tisch bauen.› Vielmehr haben wir uns einen theoretischen Titel ausgedacht, um den herum wir Objekte bauen konnten, viele oder wenige, einfache oder komplexe Objekte. Dieser Titel führte sofort zu einem Text, und dann bezog sich die ganze Gruppe bei der Gestaltung der Objekte auf diesen Text.
Einige Titel waren sehr erfolgreich und produktiv, und wir haben daraus viele Objekte geschaffen, während andere nicht so erfolgreich waren. Zum Beispiel, führte Oggetto Banale (Banales Objekt) zu einer Ausstellung auf der Biennale in Venedig, wo einige kleine Objekte präsentiert wurden. Es sah so aus, als würde daraus etwas Grosses werden, aber stattdessen endete es mit der Biennale in Venedig und ging nicht weiter.»
Mit Il Mobile Infinito (Das unendliche Möbel), das 1981 mit einer Performance der Magazzini Criminali auf dem Parkplatz der Architekturfakultät des Politecnico di Milano während des Salone del Mobile 1981 präsentiert wurde, verlief es laut Guerriero anders. Mit Il Mobile Infinito wollte Studio Alchimia frei, ohne Einschränkungen oder Grenzen, auf völlig offene Weise gestalten.
An dem Projekt waren 35 Architekt*innen, Designer*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen beteiligt, die Möbelelemente wie Tischbeine, Griffe oder dekorative Teile dekonstruierten und neu kombinierten. Das Ergebnis war eine unendliche Vielfalt an Formen und Erzählungen, die unbegrenzte Möglichkeiten für die Schaffung von Räumen und Objekten boten, die über die herkömmliche Designprinzipien hinausgingen: ein «Nicht-Entwurf», wie Studio Alchimia es nannte – und «der Traum der Unendlichkeit». Laut Guerriero war Il Mobili Infinito «eine Art Spiel, das von den Surrealisten erfunden wurde und Cadavre Exquis (Vorzügliche Leiche) hiess. Sie nahmen ein Blatt Papier, zeichneten ein kleines Bild darauf, falteten es und jeder setzte die Zeichnung fort, indem er das Papier faltete. Und am Ende, als das Papier geöffnet wurde, war dort eine Art aussergewöhnliches Monster zu sehen».
Das Interview von Hybrid Space Lab (Elizabeth Sikiaridi und Frans Vogelaar) mit Alessandro Guerriero fand an einem sehr heissen Tag im Juni 2025 im stark versiegelten Innenhof der Mailänder Fondazione Prada, entworfen von Rem Koolhaas/OMA, statt. Als wir unsere Stühle ein wenig weiter in den Schatten rücken wollten, wiesen uns die Aufsichtspersonen auf die Markierung im Bodenbelag des Innenhofs hin und erklärten, dass die Stühle diesen Bereich nicht verlassen und in geraden Reihen (in der Sonne) stehen bleiben sollten. Wir sinnierten kurz über diese vollständig kontrollierte architektonische Umgebung und über Rem Koolhaas, der stark von Superstudio beeinflusst worden ist – und über den Verlust an kritischem Moment, an Verspieltheit und Fantasie, an Lebensfreunde in der zeitgenössischen Architektur und Gestaltung.
In der Gegenwart angekommen, kommentierte Guerriero die heutige Konsumgesellschaft: «Es gibt Milliarden von Objekten. Wir können keine weiteren Gegenstände mehr aufnehmen. Wo soll dies enden? Es gibt keinen Bedarf für irgendetwas. Die Ablehnung von Produktion und Konsum ist bereits eine politische und moralische Haltung, denn sie bedeutet, andere Entscheidungen zu treffen und sich auf soziale Themen zu konzentrieren. Entweder wir kreieren spirituelle Objekte, oder es ist besser, gar nichts zu erschaffen!»
Prof. Elizabeth Sikiaridi und Prof. Frans Vogelaar sind Gründer vom Berliner Hybrid Space Lab, Thinktank und Entwurfslaboratorium für Architektur, Urbanismus, Design und digitale Kultur. Frans Vogelaar hat in den Jahren 1981 bis 1982 bei Studio Alchimia mitgearbeitet.
1 Der ursprüngliche Name lautete Studio Alchymia und wurde später aus Gründen der Wiedererkennbarkeit durch Studio Alchimia ersetzt.
> Die Ausstellung Alchimia. The Revolution of Italian Design war bis zum 7. September 2025 im Berliner Bröhan-Museum zu sehen.
> Als nächstes wird die Ausstellung im ADI Design Museum in Mailand gezeigt.



