Stadtmarken
Raumproduktion im postindustriellen Zeitalter
Die urbane Kultur, welche die physische Form einer Stadt generiert, ist stets im Wandel. Postindustrielle Strukturen wie Shoppingmalls, Mega Stores und Entertainment Centers stellen nicht einfach nur Inszenierungen – oder Simulationen – einer verlorenen Urbanität dar; sie weisen auch auf eine veränderte Wahrnehmung des Städtischen hin. Im Kontext von globaler Ökonomie und wachsender Standortkonkurrenz erlangen symbolhafte Architekturen eine neues Gewicht.
Autorin: Regina Bittner – erschienen in archithese 6.2003 Branding, S. 56–59.
Mitte August 2003 erregte ein Foto besondere Aufmerksamkeit in den Tageszeitungen: Vor dem riesigen Logo des VW-Werkes in Brasilien war ein Meer von Obdachlosenunterkünften zu sehen. Der Bildkommentar dazu war knapp. Er verwies auf die immer problematischer werdenden Lebensbedingungen im Land, gegen welche die vor VW siedelnden Brasilianer zu protestieren versuchten. Schien ihr Elend im Schutz des Logos eine andere Aufmerksamkeit zu gewinnen?
VW gilt seit einiger Zeit in Deutschland als Vorbild – nicht nur in Sachen Modernisierung und Flexibilisierung: Der Konzern stand in den letzten Jahren im Zentrum der Debatten um Brandingstrategien im urbanen Raum (siehe «Automobile Erlebniswelten », S 34). Verkürzung und Flexibilisierung der Arbeitszeit unter dem Slogan «die atmende Fabrik» haben den städtischen Rhythmus Wolfsburgs, der einstigen Musterstadt des Wirtschaftswunders, durcheinander gebracht. Wenn die Leute nicht mehr zur selben Zeit Feierabend haben, ist die Werkskneipe lediglich halb besetzt, und auch die Sportvereine bekommen ihre Mannschaft nur noch schwer zusammen. Glich Wolfsburg vormals eher einem riesigen Pausenraum, so scheint die Stadt heute in der Normalität einer niedersächsischen Mittelstadt angekommen zu sein ... wäre da nicht die Autostadt auf der anderen Seite des Bahnhofs.
Gegen die Kulisse der alten Industrieanlagen setzt sich die glitzernde Autostadt als Freizeitpark ab: Besser lässt sich der Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft kaum präsentieren. Der Wechsel von der proletarischen Produktionskultur zur mittelstandsorientierten Konsumkultur scheint sich vollzogen zu haben. Das Auto wird nicht als standardisiertes Massenprodukt für eine homogene Mittelstandsgesellschaft vorgeführt, für die die Wolfsburger als exemplarisch gelten können, sondern als ein Phänomen individuellen Lifestyles. Jede der dem Konzernverband zugehörigen Marken wird in einem eigenen Pavillon als Erlebnis inszeniert. Entsprechende Narrative sichern die Aufführung von Bentley oder Škoda: Über den Gebrauchswert lässt sich das Auto kaum noch unterscheiden, der Distinktionswert steckt im Lifestyle, den das jeweilige Modell verspricht.
Konsequent hat VW diese Strategie in der gläsernen Fabrik in Dresden fortgesetzt. Hier wird die neue Luxuslimousine im Zentrum der Stadt und vor den Augen der Stadtbewohner montiert. Der Eingang der Fabrik ähnelt einer Hotellobby, die Innenräume sind transparent, und die Arbeiter tragen weisse Overalls. Die Ästhetik dieser Produktion als Dienstleistung setzt sich bewusst von der Kultur der Arbeit ab. Schmutz, Mühsal und Plackerei finden dort statt, wo die Einzelteile von billigen Arbeitskräften hergestellt werden.
VW wollte bewusst nicht an die Ränder der Stadt gehen. Firmenstrategie war jedoch nicht die Wiederbelebung der industriellen Stadt, die noch über die Funktionen Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Verkehr zusammengehalten war; vielmehr sollten Produktion – präziser: Endmontage – und Kauf des Produktes als Erlebnispaket angeboten werden. Der Montage des ihren individuellen Wünschen angepassten Autos sollten die künftigen Besitzer selber beiwohnen können; damit der Kauf des Autos zum bleibenden Erlebnis wird, gehört ein Besuch der Semperoper und des Grünen Gewölbes mit zum Programm. VW ist kein Einzelfall: Die Firmenstrategien sind Bestandteil einer symbolischen Ökonomie, die den Strukturwandel des Städtischen heute bestimmt.
Die Stadt als Ort = Standort
Henri Lefebvre entwickelte die These, dass in westlichen Gesellschaften das Terrain, auf dem der Übergang zu neuen Vergesellschaftungsstrukturen beobachtet werden kann, nicht mehr der industrielle Raum sei, sondern der wahrgenommene und gelebte städtische Raum. Die Stadt, so Lefebvre, wird zum strategischen Ort und zum strategischen Objekt der Tertiarisierung der Gesellschaft.1
Städte sind dynamische Gebilde. Sie sind Orte der Produktion und Konsumtion, des globalen Austauschs von Wissen, Waren, Informationen, Images und Symbolen. Die post industriellen Raumrepräsentationen in Gestalt der Shoppingmalls, Passagen, Hochhäuser, Mega Stores und Entertainment- Angebote lassen sich nicht mehr in Raumbildern von Zentrum/Peripherie, Öffentlichkeit/Privatheit, Stadt/ Land fassen. Lefebvre kündigte Mitte der Siebzigerjahre die Ausbreitung des Städtischen ohne Stadt an, ein Phänomen, das für ihn im Zusammenhang mit der Durchsetzung der post industriellen Gesellschaft zu denken ist. Die Klage über die Auflösung der Stadt hat diese Beobachtung zum Hintergrund. Was hier jedoch beklagt wird, scheint sich auf ein spezifisches Raumbild von Stadt zu beziehen, das seine Gültigkeit bereits verloren hat: die Vorstellung des städtischen Raumes als Funktionsmischung von Arbeiten und Wohnen, Freizeit und Konsum, als Integrationsmaschine unterschiedlicher Milieus und als Raumbild eines sich in konzentrischen Kreisen vom Zentrum in die Peripherie ausbreitenden Stadtkörpers. Die Gesellschaft, die diese Stadtgestalt hervor - gebracht hat, existiert nicht mehr. «Die Stadt», so Hartmut Häussermann, «ist lediglich noch eine symbolische Repräsentation urbaner Kultur, deren Basis weitgehend erodiert.»2 Doch handelt es sich bei diesen symbolischen Repräsentationen tatsächlich nur um Schattenrisse eines verlorengegangenen Raumes? Weisen die Inszenierungen des Urbanen nicht auf radikale Veränderungen in der Wahrnehmung und Produktion von Stadt hin?
Symbol und Ort
Mit dem Bild der postmodernen Stadt ist mehr zu assoziieren als eine Architektur des Spektakels und des Konsums – das Bild verweist auf die Verweigerung der Zentralperspektive der Wahrnehmung und die Re-Lokalisierung städtischer Diskurse.3 Mit wachsender Standortkonkurrenz innerhalb der globalen Ökonomie und im Ringen um Investoren, Kapital und die «richtigen» Bewohner müssen Städte als Individuen sichtbar werden. Dieser Wechsel vom abstrakten Raum zum konkreten Ort, from space to place, geht einher mit einer Ökonomie der Symbole: Es handelt sich um die Produktion, Distribution und Konsumtion von Symbolen, mit dem Ziel der ökonomischer Wertsteigerung von Dienstleistungen, Gütern und Orten. David Harvey spricht in diesem Zusammenhang von einer gegenseitig wertsteigernden Zirkulation von ökonomischem und kulturellem Kapital. Dabei sind lokale Geschichte, kulturelle Traditionen und historische Symbole wichtige Einsätze bei der Herstellung von Orten.
Auch die Kreativität und Dynamik einer Stadt werden herausgestellt – etwa in Slogans wie «Cool Britannia» für London oder «Generation Berlin»: Kultur bietet auch Innovationspotenziale für andere Wirtschaftszweige. Ausgehend von den Stadterneuerungsstrategien der Walt Disney Company wurde in den letzten Jahren viel über die Chancen und Risiken der symbolischen Ökonomie als künstlicher Herstellung von Orten gestritten. Die amerikanische Stadttheoretikerin Sharon Zukin bezeichnete diese neuen Räume als landscapes of power: «Wir spüren einen Unterschied in der Art, wie wir das, was wir sehen, einordnen: Wie sich der visuelle Konsum von Raum und Zeit beschleunigt, von der Logik der industriellen Produktion loslöst und die Auflösung traditioneller räumlicher Identitäten und ihre Wiederherstellung nach neuen Vorgaben erzwingt […] eine Traumlandschaft des visuellen Konsums».4 Diese landscapes of power repräsentieren eine sichtbare Ordnung der herrschenden Ökonomie und Kultur. Sie bezeichnen nicht nur das physische Umfeld einer Stadt, sondern auch ein Ensemble von sozialen Praktiken und Symbolen. Räume erhalten ein kulturell erlebbares Attribut, das den Bewohnern deutlich macht, wer diese Räume wie nutzen darf. Landscapes of power prägen insofern nicht nur die formende Wahrnehmung der Stadt, sondern auch die spezifische Architektur sozialer Beziehungen. Territoriale Zeichen werden installiert, durch die sich bestimmte Bevölkerungsgruppen angezogen, andere jedoch abgestossen fühlen.
Präsentation, Simulation
Architektur kommt bei dieser symbolischen Ökonomie eine besondere Rolle zu. Der vielfach diskutierte «Bilbao-Effekt» sicherte dem altindustriellen Standort durch die Kopplung von zwei Brands – dem globalen Kulturunternehmen Guggenheim und dem Stararchitekten Frank O. Gehry – massenmediale Aufmerksamkeit. Das Sony Center auf dem Berliner Potsdamer Platz hat, ähnlich der VW-Stadt in Wolfsburg, nur die Funktion eines riesigen Showrooms, der mit Service- und Unterhaltungsangeboten gekoppelt ist. Mit Helmut Jahns Zirkuszelt- Architektur besetzt die Firma, symbolisch weithin einsehbar und visuell konsumierbar, die neue Mitte Berlins. Das Image Berlins als globale Dienstleistungs- und Kulturmetropole soll mit diesem Raumbild verstärkt werden. Es handelt sich um die symbolische Markierung von Wachstumsräumen, die gegenüber den Orten des Zerfalls visuell und symbolisch herausgehoben werden. Der Kulturtheoretiker Michael Keith hat ähnliche Prozesse in London beobachtet. Der Millenium Path ist Bestandteil einer Herstellung von Stadt, die dem Muster des Kuratierens von Ausstellungen folgt. Mit dem Thema der Ausstellung «Cool Britannia» will sich London als young stylish nation präsentieren. Am Beispiel des Swiss Re Building von Norman Foster zeigt Keith, wie dieses Gebäude die Square Mile in London als Herz des Europäischen Finanzservices Tag und Nacht dominiert.5
Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie Repräsentationen des Raumes sind, die den Modus der postindustriellen Produktion von Raum artikulieren. Solchermassen konzeptualisiert bleibt er allerdings unvermittelt, wenn er nicht im Kontext der representational spaces begriffen wird, die dieser Architektur erst ihre Bedeutung zuschreiben (Henri Lefebvre): Die Raumrepräsentationen leben durch die Bilder, Wünsche und Symbole, die mit ihnen assoziiert werden beziehungsweise die sie hervorrufen. So war der Erfolg der Malls in Amerika der Tatsache zu verdanken, dass bewusst an die Urbanitätsmuster der Bewohner der Suburbias angeknüpft wurde. Die Szenerie der amerikanischen Kleinstadt, Main Street, soll den Besucher dort abholen, wo er sozialisiert worden ist. Diese nostal gische Sehnsucht nach dem kleinstädtischen Leben hat, so behauptet Mark Gottdiener, eine Metropolenregion zum Hintergrund, wo die Stadt als überschaubarer Raum mit spezifischen sozialen Beziehungen verschwunden ist. Das Verlangen nach dem Amerika des 19. Jahrhunderts ist aus einer Alltagserfahrung heraus entstanden, die im endlosen Sprawl jede Intimität negiert sieht. Los Angeles mag als Paradebeispiel einer endlos ausgedehnten Metropolenregion gelten, die im Gegenzug dichter, vielgestaltiger urbaner Räume bedarf. Der konstruierte Raum der Mall transzendiert für einen Moment die Separierungen und gestaltlosen Ausdehnungen der Metropolenregion.6
Die Simulation des heilen Kleinstadtlebens mit Marktplatz und Strasse vermittelt Vertrautes und Familiäres. Es sind Räume entstanden, die Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und Sauberkeit garantieren – Werte, derentwegen die amerikanische Mittelklasse die Stadt verlassen hatte. Die Aufmerksamkeit für diese representational spaces, für die Wünsche und Imaginationen, mit denen Räume verbunden sind, bietet erst Erklärungsmuster dafür an, warum die post modernen Raumrepräsentationen in Gestalt von Passagen, Erlebnisbahnhöfen, Atrien heute solche Faszination ausüben können. Mit dem zunehmenden Löchrigwerden des raum-zeitlichen Kontinuums, in dem Menschen zu leben gewohnt sind, verstärkt sich die Sehnsucht nach konkreten, physisch und sinnlich erlebbaren Orten. Künstliche urbane Erlebnisräume repräsentieren konkrete Orte, an denen abstrakte globale Beziehungen sich sinnlich wahrnehmbar verdichten. «Die neuen postmodernen Konsumräume präsentieren die kultische Rückübersetzung von immer abstrakter werdenden globalen Räumen in ursprünglich erscheinende umhegende Orte.»7 Sie sind deshalb so erfolgreich, weil sie an die Imaginationen von Stadt und an die Träume ihrer Besucher anknüpfen.
Markenkonsum = Markenidentität?
Global agierende Konzerne verfolgen mit ihren Brandingtaktiken eine vergleichbare Strategie: Sie schaffen konkrete Orte im Stadtraum, die mit den jeweiligen Firmennamen in Verbindung gebracht werden. Der Konzern bietet nicht mehr ganzen Generationen Lebensunterhalt, wie das bei VW Wolfsburg der Fall war; vielmehr schafft er städtische Erlebnisräume als Identitätsangebote für unterschiedliche Lifestyle- Gruppen und Milieus. Unternehmen reagieren dabei auf die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung – klar definierte Zuschreibungen wie Arbeitsplatz, Wohnort, soziale Klasse oder Gruppe, aber auch die Verbindlichkeit grosser gesellschaftlicher Institutionen verlieren an Bindekraft. Die vielfach diskutierte Refamiliarisierung von Unternehmen im Zuge der Einführung flexibler Organisations- und Produktionskonzepte ist eine Reaktion auf dieses Phänomen.
Betriebe können mit ihren Angeboten von neuen Formen der sozialen Zugehörigkeit und Gemeinschaft – jenseits traditioneller Bindungen über kollektive Identitäten – als «posttraditionale Formen der Vergemeinschaftung» angesehen werden. Soziale Bindung und Zugehörigkeit entstehen hier eher auf der Basis eines voluntaristischen Aktes und werden über ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten artikuliert (Ronald Hitzler). Brandingstrategien von Unternehmen sind in diesem Zusammenhang zu lesen. Wenn berufliche Situation und Bildung, so behaupten zumindest Individualisierungstheoretiker, heute weniger über die Individuen aussagen als deren Konsummuster, Freizeitpräferenzen und Moden, so kommt den Marken bei der Identitätssuche eine besondere Rolle zu. Ein Wechsel im Konsumverhalten hat stattgefunden: von einer am Lebensstandard orientierten, relativ integ rierten Massenkultur zu einer vielgestaltigen Geschmackskultur, vom Massenkonsum zum individuellen Konsum von Marken.
In Lifestyle-Milieus finden sich demnach Menschen zusammen, die nicht mehr aufgrund einer tradierten Kollektividentität oder Gruppensolidarität ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, sondern deren Gemeinsamkeiten aus einem ähnlichen Freizeit- und Konsumverhalten erwachsen – aus geteilten Vorlieben in Kleidung, Essen und Wohnstilen. Umstritten bleibt, ob Menschen im Zuge dieser Expansion der Konsumkultur und den Angeboten an Images, Narrativen und Symbolen erliegen; ob sie eine simulierte Biografie im Schatten der Stars und Stories führen; oder ob ein «gesellschaftliches Kreativitätspotenzial» an die neuen Konsummöglichkeiten gekoppelt ist. Vor allem Vertreter der britischen Cultural Studies haben in ihren Studien herausgearbeitet, dass die enorme Ausdehnung des Feldes der Symbolvorräte durch die Konsumkultur zu einer Emanzipation der Alltagskultur geführt habe. Am Beispiel der Konsumpraktiken von Subkulturen zeigt Paul Willis, wie Jugendliche dabei nicht nur einschränkende Gewohnheiten und Tabus ausser Kraft setzen, sondern auch weitere symbolische Materialien und Formen produzieren.8 In dieser Lesart von Konsum können die Bedeutungen der Marken durch die Praktiken der Nutzer verändert werden. Heisst das, dass Nike und Prada, Sony und Benetton umsonst in die Stories, Bilder und Symbole investieren, mit denen ihre Produkte ein besseres Leben versprechen? Und weiter gefragt: Ist das Ende der Distinktion durch Konsum in Sicht?
Abgrenzung durch Konsum
Auch der Lifestyle-Konsum folgt den Mustern sozialer Distinktion. Soziologische Untersuchungen im Feld der «neuen Mitte» und im Bereich von Lohnabhängigen mit niedriger Bildung zeigen, dass die kulturelle Liberalisierung nicht zu einem Verschwinden der «feinen Unterschiede» kultureller Distinktion führt, sondern dass ein Bedeutungswandel kulturellen Kapitals zu beobachten ist. Mit modernen Kommunikationstechniken sind kommerzialisierte Kulturangebote für grosse Teile der Bevölkerung zugänglich und verfügbar geworden. Damit werden nicht nur überkommene Schranken des Konsumprivilegs durchlöchert, sondern, wie Pierre Bourdieu einräumt, die «charismatische Aura» der traditionellen Kultureliten entmystifiziert.9 Deshalb behauptet der deutsche Soziologe Klaus Kraemer, dass «die Krise der legitimen Kultur und das gleichzeitige Erstarken einer posttraditio - nalen Popularkultur […] als Heterogenisierung und Destandardisierung symbolischer Distinktionspraktiken zu deuten [ist]».10 Diese Behauptung führt den Autor aber nicht in die Versuchung, von der Nivellierung der Alltagsästhetik auf eine Nivellierung des sozialen Raumes zu schliessen. Vielmehr verlaufen kulturelle Distinktionsstrategien, wenn sie nicht mehr auf eindeutige Symbolsysteme und Wissensbestände zurückgreifen können, wesentlich subtiler ab. Auf veränderter Grundlage geht der Kampf um Distinktion weiter. Wenn Elemente der Populärkultur wie Fussball, Talkshows, Musikevents, McDonald’s, Biergärten, Wühltische und Aldi, die vor allem in Milieus mit niedrigem Bildungsstand wesentlicher Bestandteil der Freizeit und Vorlieben des Konsums darstellten, inzwischen zum kulturellen Repertoire der Mittelschichten gehören, zeitigt das Konflikte in Hinblick auf die Positionierung im kulturellen Raum.
Pierre Bourdieu hat am Beispiel des aufstrebenden neuen Kleinbürgertums gezeigt, wie hier Kompetenz in populärkulturellen Fragen – die Kennerschaft des neuesten Kinofilms, der Fussballergebnisse der letzten Woche, der Rotweinsorten bei Aldi – Distinktion garantiert. Es ist gerade die Erlebnisfähigkeit, die Lockerheit und Genussfähigkeit, die für diese Milieus nachgerade eine Voraussetzung zum Eintritt in die postindustrielle Arbeitswelt darstellt. Ironie in puncto bildungsbürgerlicher Werte und Normen und das Kokettieren mit dem schlechten Geschmack finden die «neuen Kleinbürger » in den «semantischen Lockerungsübungen von Harald Schmidt, Stefan Raab und den ‹Doofen›» bestätigt. Denn sie «führen einen Habitus vor, der die ironische Souveränität über das eigene Handeln als Matrix ausstellt, sich in den symbolischen Kämpfen des Lebensstils behaupten zu können.»11 Die Fähigkeit zum freien Spiel der Selbstinszenierung und die ironische Distanz zu tradierten Distinktionspraktiken wird selbst zum Mittel der Distinktion. Das Tragen von exklusiven Marken wird nicht mehr aggressiv herausgestellt, demonst riert wird die eigene Originalität im Sampling eines breiten Spektrums von Kleidung. Verweisen diese Beobachtungen einerseits auf den Verlust der Eindeutigkeit, auch was den Markenkonsum betrifft, so wird damit andererseits deutlich, dass der Kampf um Distinktion auf veränderter Grundlage fortgesetzt wird. Postmoderne Stilbewusste zeichnen sich durch einen spielerischen Umgang mit kommerziellen Identitätsangeboten aus, je mehr sie ihre eigene Individualität als Marke prononciert ausstellen.
Brands im internationalen Kontext
Liefert die Marke im Westen eher auf Umwegen ein Identitätsangebot, so scheinen sich in Osteuropa andere Relationen zu entwickeln. Auf dem Kioskmarkt in Smolensk, im Osten Russlands, verkaufen Frauen Plastiktüten von Versace und Escada. Darin werden die aus den umliegenden Dörfern angebotenen Lebensmittel dann verstaut. Die Tüten stellen die Verbindung zu den Einkaufsstrassen der reichen Metropolen her: Überall im Stadtraum findet man sie, obwohl sie im Westen nach dem Einkauf eher in den Plastikmüll wandern. Ist es die Marke, das Global Brand, das in einem von der Globalisierung vergessenen Ort – wenigstens über die Verpackung – einen Hauch von Teilhabe am Reichtum des Westens verspricht? Nicht der im Verhältnis zum postmodernen Stilbewussten unsouverän erscheinende Umgang mit Global Brands steht hier zur Diskussion, sondern die unterschiedlichen Kontexte, aus denen heraus Brands kulturelle Bedeutung erwachsen kann. Es sind jeweils andere Bilder, Wünsche und Imaginationen, die die Stadtbewohner in Moskau, Berlin oder Paris mit dem Auftauchen von Nike, Armani oder Prada assoziieren. Diese Symbole werden in dem jeweiligen urbanen Alltag eingewoben und verortet. «Globalisierung», so der Kulturtheoretiker Helmut Berking, «ist kein Phänomen ‹out there›, sondern ein Phänomen ‹in there›, das auf vielfältigste […] Weise durch Produktion und Konsum, durch die Neuerfindung von Tradition und Identität, durch Migration und Medien etc. in den lokalen Lebenswelten selbst stattfindet». Bedeutet McDonald’s in Moskau die Ankunft im Westen, so ist die Fastfoodkette in Paris Ausdruck des amerikanischen Kulturimperialismus.12
Man könnte weitere Beispiele der Präsenz globaler Marken an unterschiedlichsten Orten in der Welt anführen. Was die wenigen hier gezeigten Fälle allerdings zeigen: Global Brands markieren keineswegs einen von transnational agierenden Unternehmen restlos besetzten, identitätslosen Raum; aber nimmt man sie als sichtbare Elemente einer Kartierung der Städte im globalen Strukturwandel, so geben sie Auskunft über eine neue städtische Geografie der Differenz.
Regina Bittner ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet an der Stiftung Bauhaus Dessau als Projektkoordinatorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Konzeption und Lehre am Internationalen Bauhaus - kolleg sowie die Kuratierung von Ausstellungen zur Kulturgeschichte der Moderne.
Anmerkungen
1 Henry Lefebvre, The production of Space, Oxford 1991.
2 Hartmut Häussermann, «Amerikanisierung der deutschen Städte – Divergenz und Konvergenz», in: Centrum, Jahrbuch für Architektur und Stadt, 1997/1998, S. 95.
3 Vgl. Helmut Berking, «Global Village oder urbane Globalität» In: Ders. (Hrsg.), Städte im Globalisierungsdiskurs, Würzburg 2002, S. 17.
4 Sharon Zukin, Landscapes of Power, Berkeley 1993, S. 93.
5 Michael Keith, «True Faces and True Lies in the Cultural Politics of City Space», in: Th. Duschlbauer, P. Klimitsch (Hrsg.), Sprach-Räume, Linz 2002, S. 49.
6 Mark Gottdiener, Postmodern Semiotics. Material Culture and the Forms of Postmodern Life, Oxford 1995, S. 89.
7 Peter Noller, «Globale Repräsentation im lokalen Raum», in: Helmut Berking, Richard Faber (Hrsg.), Städte im Globalisierungsdiskurs, Würzburg 2002, S. 90.
8 Vgl. u. a. Paul Willis, Jugend-Stile – zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur, Hamburg 1991.
9 Pierre Bourdieu, L. Boltanski, M. de Saint Martin, P. Maldidier, Über die Reproduktion sozialer Macht, Frankfurt/M. 1981, S.52.
10 Klaus Kraemer, «Entwertete Sicherheiten. Zum Bedeutungswandel des kulturellen Kapitals», in: Soziale Welt, 1997 Heft 4, München 1997, S. 369.
11 Harald Funke, Markus Schroer, «Lebensstil ökonomie. Von der Balance zwischen objektivem Zwang und subjektiver Wahl», in: Frank Hillebrandt, Georg Kneer, Klaus Kraemer (Hrsg.), Verlust der Sicherheit. Lebensstile zwischen Multioptionalität und Knappheit, Opladen 1998, S. 227.
12 Helmut Berking, «Placeplacecity», in: Regina Bittner (Hrsg.), Die Stadt als Event, Frankfurt/M. 2002, S. 53.
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese 6.2003 Branding.