Stadtflucht. Zwischennutzung. Pioniergeist.
Lichtensteig, ein kleines Städtchen mit circa 1900 Einwohnern und langer Textiltradition im Toggenburg, eine gute Stunde mit der Bahn von Zürich entfernt. Am Peroon steigt einem eine Mischung von Heu und Gülle entgegen; auffallend ist vor allem eins: ganz viel Grün. Die Frage stellt sich: Was führt archithese hier her?
Text: Carla Wirsching – 08.04.2022
Die Stadt Lichtensteig hat sich in den letzten Jahren gemausert zu einem Experimentierfeld für Städter, insbesondere junger Züricher*innen. Lange war die Zukunft der Kleinstadt mit Leerstand und Bevölkerungsschwund ungewiss – 1993 lebten hier 2185 Menschen, 2008 waren es im Vergleich nur noch 18421. Das alte Lied: Die Jungen ziehen in attraktive Städte wie Zürich, Bern oder Basel, wo sie ein höheres Angebot an Arbeitsplätzen und Kultur finden, zurück bleibt die ältere Bevölkerung. Die Gemeinde Lichtensteig möchte dem entgegenwirken und entwickelte ein neues Leitbild für ihre Vision bis 2025: Mini.Stadt im Toggenburg. Das «mini» ist schweizerdeutsch für «meine Stadt» und meint natürlich auch das Kleine, Kompakte, das in Lichtensteig definitiv immer mitschwingt. Neuer Slogan, neues Logo, neuer Stadtpräsident2 – und ein neuer Drive? Entgegen den Erwartungen für eine Stadt dieser Grösse hat Lichtensteig eine hohe Dichte an kulturellem Angebot. In der pittoresken Stadt stösst man im mittelalterlichen Stadtkern überrascht auf ganze vier Museen und zwei Galerien. Eine Kulturstätte nach der anderen schoss in den letzten Jahren aus dem Boden – die Klangwelt Toggenburg3, das umgenutzte Rathaus, welches der Stadtpräsident für Kunst und Kultur freigab (und selbst mit der Verwaltung in den kleineren Bau der Bank USB zog), das in einem Bahnhofsgebäude untergekommene Klein Theater, die «behind the bush productions» mit Musik, Fotografie und Literatur, die beAchtbar in einem ehemaligen Ladenlokal und das Kollektiv Mini.Werkstatt.
8000 Quadratmeter Potenzial
Doch das grösste Projekt von allen ist die Instandsetzung der alten Textilfabrik am Thurufer. Über 100 Menschen haben sich hier zur Genossenschaft Stadtufer zusammengeschlossen. Die Vision der sieben-köpfigen Kerngruppe ist es, das beeindruckende Industrieareal am Fluss in partizipativer Arbeit wieder als Wohn-, Arbeits- und Kulturraum für die Bevölkerung zugänglich zu machen. Ein enormes Unterfangen bei einem Gebäude mit rund 8000 Quadratmetern Nutzfläche; allein die Sanierung der zahlreichen Fenster, Instandsetzung der Böden und Einrichtung neuer Fluchtwege sind für die Genossenschaft noch Träume in weiter Ferne.
Ein Vorreiter seiner Zeit
Der Ort liegt strategisch gut in einem Tal am Fusse der Stadt. Den angrenzenden Fluss hat man sich zunutze gemacht und baute 1819 hier die Fabrik, als eine der ersten maschinellen Spinnereien der Schweiz. Die Textilindustrie wurde – wie auch im ganzen Kanton – zu einer der wichtigsten Branchen, eine krisenanfällige Monokultur, deren Auf und Ab das Wohlergehen von Wirtschaft und Einwohner*innen bestimmte. Als Arbeitgeberin für circa 150 Lichtensteiger*innen war die Textilfabrik – bis zu ihrer Schliessung im September 2017 unter Leitung eines Fein-Elast-Herstellers – ein wichtiger Bezugspunkt der Stadt. Nach fast fünf Jahren Leerstand hat sich die Genossenschaft Stadtufer nun zum Ziel gesetzt, das Gebäude vor dem Verfall zu sichern und wieder als einen Treffpunkt Lichtensteigs zu aktivieren.
Neue Räume der Kultur
Zu dem Gelände gehört ein etwas entfernter gelegenes Wohnhaus, ein grosser Parkplatz, eine am Fluss entlang verlaufende Grünzunge und die in mehreren Abschnitten errichtete Fabrik. Gegenüber der Stadtbrücke, die Stadt und Bahnhof verbindet, liegt der denkmalgeschützte Südteil (1819) mit einem verspielten Mansarddach, niedrigen Decken in den Obergeschossen und sich wie Pflanzenstiele gen Süden, zur Sonne hin neigenden Holzpfeilern. In diesen Räumen hat die Genossenschaft «laute und leise Geweberäume» vorgesehen. Zurzeit befindet sich im Erdgeschoss ein Brocki – die Anfrage eines Bioladens liegt auch schon auf dem Tisch. Auch die oberen Geschosse sind begehrt, denn sie lassen sich durch ihre niedrigeren Geschosshöhen besser heizen und ihre alten Balken verbreiten einen heimeligen Stubencharakter. Die Isolation von Wänden und Fenstern ist noch eine offene Baustelle der Genossenschaft. Im zweiten Obergeschoss hat das junge Team von Stadtufer selbst ihre Küche eingerichtet und mit Funden möbliert: einem Sofa und dem Gemälde des ehemaligen Fabrikdirektors. Im Stockwerk darunter hat ein bekannter Musikproduzent aus Los Angeles sein Studio, der Jahrzehnte für grosse Namen der Szene, wie 2Pac, Immature, Boyz II Men, oder Lenny Kravitz Alben produzierte. An diesen ersten Gebäudeteil schliesst ein Betonskelettbau von 1907 an, mit enormen Raumgrössen und ebenso enormen Abluftröhren, die noch von der Decke abhängen. Überbleibsel, welche an vergangene Zeiten erinnern. Der ältere Südteil soll durch die massive Betonkonstruktion des Mittelteils stabilisiert werden. Den Gebäudeabschluss Richtung Norden bildet schliesslich ein 1950er-Jahre-Anbau, der speziell für die Atelierarbeit von Künstler*innen geeignet ist – aufgrund des indirekten Lichteinfalls, der vielen Nordfenster sowie Raumhöhen von bis zu 4,40 Metern. Ideale Bedingungen somit für Arbeiten an grossen Leinwänden oder Skulpturen. Genutzt werden diese potenziellen Atelierräume unter anderem schon von der schottischen Künstlerin Monster Chetwynd, deren performative Arbeit «Tears» zuletzt auf der Art Basel 2021 zu sehen war. Bereits im November fand in den Räumlichkeiten von Stadtufer über mehrere Wochen die grosse Kunstausstellung Dogo Totale statt: eine Endjahresausstellung des Lichtensteiger Residenz-Programms; letzten November wurde diese, bedingt durch die Pandemie, als Doppelausstellung zweier Jahrgänge programmiert. Aus der ganzen Welt kommen Künstler*innen, um in Lichtensteigs Refugium zu leben und zu arbeiten. «Wir haben kein Geld, aber Raum, um Dinge zu ermöglichen» 4, so Stadtpräsident Mathias Müller.
Ein Haus mit Kontrasten
Vom Bahnhof nähert man sich dem Gebäude über eine kleine Brücke oberhalb der Thur und gelangt auf dem Gelände direkt in einen gefassten Innenhof. Der Genossenschaft war es wichtig, dass dieser frei zugänglich und einladend ist, und so entfernten die grossen Tore, die zuvor den Innenhof von der Aussenwelt abschlossen. Von hier aus gelangt man ebenerdig in das Erdgeschoss. Die Lichtensteiger Jugend nutzt dieses als einen Skatepark, im Keller darunter hat sich der Zimmermann Dimitrij Stockhammer eine Holzwerkstatt eingerichtet. Zusammen mit seine Freundin Sarah Brümmer haben die beiden neben der Genossenschaft Stadtufer auch den Verein Flooz mitbegründet, der auf der Grünfläche oberhalb des Fabrikgeländes regelmässige Sommerevents veranstaltet. Sie wohnen in Laufweite des Stadtufers in Tiny Houses, als Teil des Kollektivs Wirkstadt.
Im Nebenraum der Holzwerkstatt wartet ein grosser Haufen Reifen auf seine Verschiffung nach Ghana; als Zwischennutzung werden auch immer wieder Lager- und Stellflächen vermietet. Und zuletzt befindet sich hier der Tanzraum, aus dem auch am Samstag nach der letzten Generalversammlung zunächst Hip-Hop und im Laufe der Nacht Techno-Klänge drangen.
Bereits 2017 wurde das Areal umgezont von einer Industrie- zu einer Wohn- und Gewerbezone. Damit wurde der Weg frei für die Ambition, in der ehemaligen Textilfabrik Wohnen und Arbeiten in einem Gebäude zu kombinieren. Dies kann jedoch momentan nur ansatzweise umgesetzt werden, denn der Brandschutzplan erlaubt auf den oberen Geschossen nur eine Personenzahl von maximal fünfzig Leuten – ein zweiter Fluchtweg wäre dringend nötig. Auch die Heizkosten und der Isolationsaufwand der Fabrik sind enorm, weshalb man zunächst auf Zwischennutzungen zurückgegriffen hat. Entstanden ist eine bunte Nutzungsmischung, auf die kein Planer, keine Planerin je am Zeichenbrett gekommen wäre. Und genau das macht den Reiz aus an diesem Projekt. Als einen «Edelrohbau», erklärt der Züricher Architekt Daniel Fuchs, möchten sie die Fabrikräume an Leute vermieten, die bestenfalls bereits genaue Vorstellungen mitbringen und einen Ort brauchen, um diese verwirklichen zu können. Hier gibt es Platz genug, um neue gemeinschaftliche Wohnformen zu erproben, Wohnraum und Studio zu vereinen, oder selbst bei der Gestaltung dieser Räume mitzuwirken – Stadtufer betont immer wieder, wie wichtig der partizipative Prozess ist. Laut der katalanischen Architektin Caterina Viguera versteht Stadtufer die Baustelle als ein Fest. Eine «Experience» von der, wie die Erfahrung bestätigt, die Leute lange später noch gerne erzählen. Freiwillige können hier in Form von Workshops in den Bauprozess eingebunden werden und gleichzeitig handfestes Wissen zu Themen wie Lehmbauweise nach Hause mitnehmen. Win-win für Alle? Fast. Denn natürlich berichtet mir das Team auch von der langen Durststrecke und auslaugenden Sitzungen zu Beginn des Projekts. Sie erzählen lachend von einer Rekordsitzung kurz nach ihrer Gründung, die neun Stunden lang ging. Am Ende der Sitzung zählten sie wohl zwei Mitglieder weniger. Doch das ist lange her. Ein handfester Plan liegt heute auf dem Tisch – eigentlich sind es gleich zwei: einer mit der Analyse des Brandschutzes und einer für die Raumbelegung. Es bedarf eines ständigen Austarierens und Erneuerns beider Pläne.
Nutzungschoreografie und ein Mentorenprogramm, dass man sich nur erträumen kann
Im April wird es Änderungen in der Belegung der Räume geben. Man möchte von den erstmals auf kurze Perioden angelegten Zwischennutzungen langsam übergehen zu längeren Mietverträgen. Gerade am Anfang konnte die Genossenschaft nicht wählerisch sein, doch im Januar wurde ein riesiger Meilenstein erreicht: Die Fabrik und das Gelände befinden sich nun offiziell im Besitz der Genossenschaft. «Die Finanzierung des Kaufs und der ersten Bauetappe von etwas mehr als drei Millionen Franken konnte durch die Genossenschaft organisiert werden. Die Finanzierung ist breit abgestützt mit lokalen, regionalen und nationalen Geldgebern. Die Gemeinde hat sich mit einem Darlehen von 200 000 Franken beteiligt.»5 heisst es in einer Presseverlautbarung der Stadt Lichtensteig
Es ist eine ausgefeilte Choreografie. Wie viele Quadratmeter und welche Raumhöhen benötigen die einzelnen Nutzer*innen? Wie lange können sie bleiben? Hinzu kommen Brandschutz, Wärme und Kosten, die drei ständigen Begleiter bei diesen Überlegungen. Die Grösse des Projekts mag junge Planer*innen einschüchtern, doch das Team steckt voller Energie und Zuversicht. Stockhammer und Brümmer sind von Anfang an dabei, sie stammen vom Ort und kennen das Gebäude noch aus ihrer Jugend, andere sind durch den Bekanntenkreis dazu gestossen. Eine bunte Truppe, bestehend aus den beiden Architekt*innen (Viguera und Fuchs), Schneiderin (Brümmer), Schreiner (Stockhammer), Landschaftsarchitekt (Jonas Elinor Jakob), Tänzerin (Flammina Catti) und Musiker (Nicola Habegger) mit enger Verbindung zur ETH-Zürich. Laut Daniel Fuchs möchten sie das «Empowerment» weitergeben, welches jungen Architektinnen und Architekten an der Züricher Hochschule vermittelt wird.
Der Tatendrang, mit welcher sich die Stadtufler*innen an ihre Arbeit machen, hat auch andere Akteur*innen an Land gezogen: denkstatt sàrl und das Baubüro in situ – allen voran Eric Honegger – sind seit 2020 Mentor*innen des Projekts. Sie führten zuvor Bestandsanalysen zur Schadstoffbelastung des Fabrikbodens durch und erstellten erste Kontextanalysen. Eric Honegger ist überzeugter Vertreter des Vorhabens, denn es bringt mit sich, was es ihm zufolge zu einer Überwindung des kniffligen Stadt-Land-Grabens braucht: eine Idee, die Menschen, welche diese glaubhaft vermitteln und umsetzten können, und zuletzt den richtigen Ort. In allen drei Fällen hat die Genossenschaft einen absoluten Volltreffer gelandet. denkstatt sàrl und in situ können sie mit jahrelanger Erfahrung im Bereich Um- und Bestandsbauten sowie der Verwendung von recycelten Materialien unterstützen. Zur Überraschung der Genossenschaft meldeten sich ehemalige Angestellte der Fein-Elast-Fabrik bei Stadtufer und boten ihr Fachwissen an, beispielsweise für die Elektroplanung des Gebäudes. Immer wieder stossen neue Akteur*innen hinzu und bringen frischen Wind in die Gruppe. Alle sind willkommen im partizipativen Prozess teilzuhaben – und dennoch möchten sie auch die architektonische Vision nicht aus den Augen verlieren. Zu oft erinnern sie Projekte mit wiederverwendeten Bauteilen an ein buntes Puzzle zusammengewürfelter Materialen. Bei einer derart grossen Gruppe an engagierten Menschen heisst es kühlen Kopf bewahren und das eigentliche Ziel nicht zu vergessen.
Ersatzneubau oder Instandsetzung?
Zwischen 2004 und 2014 wurden in der Stadt Zürich 12 200 aller 18 000 neu entstandenen Wohnungen nach dem Abbruch eines bestehenden Gebäudes errichtet.6 Die Ersatzneubau-Strategie ist in Zürich gang und gäbe und wirkt häufig irrational. Rigoros werden Altbauten abgebrochen, ohne dass wirklich viel mehr entsteht – ein weiteres Geschoss vielleicht oder wenige Meter mehr an Breite. Doch auch Protest wird hörbar, wie zuletzt 2021 beim Wettbewerb des Um-, oder eben Ersatzneubaus für das Maag+-Areal an der Hardbrücke Zürich. In Zeiten des Klimawandels gilt es, den vorschnellen Griff zu Ersatzneubauten zu überdenken, und (wieder) zu lernen, Vorgefundenes einzubeziehen. Für das Projekt Stadtufer wurde früh eine Ersatzneubaustrategie ausgeschlossen. Es soll stattdessen ein Pilotprojekt für genossenschaftliche Umbauten und nachhaltige Konzepte in anderen leerstehenden Industriegebäuden Lichtensteigs entstehen und damit weitere Kreative und Architekturinteressierte in die Region Toggenburg bringen.
Leider konnten auf Grund der Pandemie nicht alle geplanten Konzerte und Ausstellungen wie ursprünglich geplant stattfinden. Trotzdem hatte die (für viele) drastische Veränderung der Lebenswirklichkeit auch zum Teil positiv zur Entwicklung von Stadtufer beigetragen. Die Pandemie als Brennglas bekannter städtischer Probleme – des gedrängten Lebens in der Stadt, der wenigen öffentlichen Grünflächen, der enormen Grundstückspreise und des fehlenden privaten Aussenraums – bewegte mehr Leute als zuvor, sich nach einer Alternative zum Leben in der Stadt umzusehen.
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1 Nach Angaben der Statistik Datenbank des Kantons St. Gallen, unter: stada2.sg.ch.
2 Seit 2013 ist Mathias Müller Stadtpräsident der Gemeinde Lichtensteig. Er setzt sich dafür ein, dass die vielen kreativen, modernen und weltoffenen Ideen der Einwohner*innen bestmögliche Unterstützung bekommen. Im Rathaus für Kultur befinden sich nun anstelle der Verwaltung Künstler*innenresidenzen.
3 Diese soll am Schwendisee oberhalb von Unterwasser ein neues Domizil erhalten. Nachdem ein erstes Projekt von Peter Zumthor gescheitert war, konnten sich Meili, Peter in einem Wettbewerb durchsetzen. Im Herbst 2021 wurde schliesslich die Baugenehmigung erteilt.
4 Mathias Müller in Ostschweizer Kulturmagazin Saiten, Oktoberheft 2018.
5 Pressemitteilung der Stadt Lichtensteig vom 23. Februar 2022.
6 Analyse – Zürich baut sich neu, 1.2015, Statistik Stadt Zürich, Zürich 2014.
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