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Pier Luigi Nervi, Gatti Wollfabrik, Rom, 1953 © MAXXI Museo nazionale delle arti del XXI secolo / Pier Luigi Nervi Archive

Charismatische Ökonomie

Die Geschichte als Ideenpool für neue Architektur

 

Text: Philippe Jorisch – 5.1.2016
Foto © MAXXI Museo nazionale delle arti del XXI secolo / Pier Luigi Nervi Archive

 

Applied Research erscheint als Tendenz in Buchpublikationen der Gegenwart. Eine junge Architektengeneration, die sowohl praktiziert als auch unterrichtet, international wohlvernetzt und mit Verbindungen zum Schweizer Kontext, betreibt Forschung nicht wissenschaftlich, sondern bezogen auf den architektonischen Entwurf: Dabei wird die Geschichte als offener Ideenpool gelesen. Nicht aus der Stadt oder aus der Kunstgeschichte, sondern aus dem Studium der Architektur selbst entsteht Architektur. Kulturell und örtlich disparate Objekte werden unter dem Aspekt einer gemeinsamen Entwurfsidee oder anhand von Einzelkriterien in Katalogen zusammengeführt. Keine Universalität als Ziel, sondern das Kuratieren eines Themenkreises, der die eigene Entwurfshaltung – ganz opportunistisch – unterstützt. Fast parallel zur den Typologie-Dokumentationen grossstädtischer Wohnhäuser von Emanuel Christ und Christoph Gantenbein publizierte der gleiche Verlag zwei Bücher von Jeannette Kuo, die eine ähnliche Stossrichtung aufweisen.

Space of Production ist nach A-Typical Plan die zweite Publikation, die aus Kuo’s Lehrtätigkeit an der EPFL hervorgeht. Drehte sich im ersten Band alles um den Grundriss von Bürobauten, wird bei Space of Production der Fokus auf das Verhältnis zwischen Schnitt und Räumlichkeiten von Produktionsbauten gelegt.

Bereits in der Haptik weist das 157 Seiten umfassende, monochrom gestaltete Buch mit dem bedruckten Leinen-Softcover auf den Charakter des untersuchten Themas hin. Nach einer Einführung der Autorin werden mit fünfzehn Produktionsbauten – von der Menier Schokoladenfabrik von Jules Saulnier bis zur Olivetti-Fabrik von Louis Kahn – ein ganzes Jahrhundert architektonisch gestaltete Ingenieursbauwerke dokumentiert. Die knappe Auswahl ist pädagogisch getrieben: Studierende des Studios an der EPFL hatten je eine historische Innenraumaufnahme erhalten und mussten dazu ein Innenraummodell und eine Schnittzeichnung konstruieren. Die Atmosphäre und der räumliche Wert dienen als Ausgangspunkt für den Entwurf, um das Verhältnis zwischen Konstruktion – der DNA eines Bauwerks – und dessen Raum architektonisch zu kontrollieren.

Ein intellektuelles Gerüst bilden Essays von Cédric Libert, Alberto Bologna und Juan José Castellón, die das Verhältnis zwischen Programm, Raum, Bautechnik, Struktur und Infrastruktur klären. Den Bezug zur Praxis und zum gegenwärtigen Architekturdiskurs bilden zwei Gespräche der Autorin mit Frank Barkow und Jacques Herzog.

Die Studentenprojekte am Ende der Publikation bilden gewissermassen die Synthese: Es sind Beispiele, wie Räume der Produktion und der Produktentwicklung innerhalb eines generischen Projektperimeters über die Gebäudestruktur in Beziehung treten können. Die notwendige Flexibilität im Grundriss bedingt eine Spezifik im Schnitt zur Regelung von Statik, Licht und Belüftung. Die Relevanz solcher architektonischen Strategien für die heutige Praxis scheint mit der zunehmenden gesellschaftlichen Verwischung von Produktion und Konsum gegeben. Weitere Semesterprojekte wagen den Versuch leer stehende, runde Silobauten in Archivräume umzunutzen. Dies wirkt hingegen etwas formal, selbst wenn sich die Frage nach solchen Rekonfigurationen auf Grund der Verlagerung von Produktion aus der Schweiz ins Ausland aufdrängt. Insofern wird das Buch dem von Jeanette Kuo formulierten Anspruch sowohl für Studierende, als auch auf dem Tisch eines Architekturbüros nützlich zu sein, mehr als gerecht. Angesichts der zahlreichen Wettbewerbserfolge des von Jeannette Kuo mitbegründeten Büros Karamuk*Kuo scheint sich ihre Suche nach Stringenz in der Verflechtung von Struktur und Raum gelohnt zu haben.

 

Philippe Jorisch hat an der ETHZ studiert und war Redaktor beim trans Magazin. 2012 ist er selbstständig tätig und gründete 2014 JOM Architekten. Darüber hinaus unterrichtet er als Entwurfsassistent am Lehrstuhl von Dirk Hebel an der ETH.

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