Schwebende Hüllen
Im Rahmen der Vortragsreihe Ein Haus der Fachhochschule Nordwestschweiz sollen bis Semesterende vier europäische Architekten eines ihrer realisierten Gebäude Pars pro Toto für ihre Arbeit vorstellen. Kersten Geers stiess mit einer didaktisch aufgebauten Werkschau die Vortragsreihe an. Denn statt eine Gestaltung vorzustellen lieferte er mehrere Projekte, verwirklicht in Belgien und Bahrain, um Einblick in sein Architekturverständnis zu geben und seine Haltung zu vermitteln.
Text: Anne-Dorothée Herbort – 27.3.2017
Die Organisatoren der Vortragsreihe möchten über die geografischen, aber auch kulturellen Grenzen der Schweiz ausgreifen. Denn sie glauben, dass ein Blick über den Tellerrand hinaus bereichernd und inspirierend sein kann – nicht nur für die eigene architektonische Praxis, sondern auch hilfreich bei der Einordnung und Reflexion eigener Positionen. Ein bunt collagierter Auftakt war von Kersten Geers Partner des belgischen Büros Studio Kersten Geers und David van Severen zu erwarten. Geliefert wurden in einer didaktisch und analytisch aufgebauten Herleitung die nötigen Bausteine, um das Projekt – das eigentlich im Mittelpunkt des Referats stehen sollte – in seiner Gesamtheit zu verstehen.
Kersten Geers und David van Severen sind berühmt für ihre idiosynkratischen Entwürfe, die sie in bunten Collagen veranschaulichen. Seit fünfzehn Jahren versuchen die beiden Belgier eine Architektur, welche auf einer «Hülle» mit einer reduzierten Formensprache und limitierten geometrischen Regeln aufbaut und sich auf das Interieur konzentriert. Die Architekten sprechen hinsichtlich ihrer Arbeiten von «einer Architektur ohne Inhalt».
Anhand von vier Projekten brachte Kersten Geers den Studierenden der Fachhochschule Nordwestschweiz ihr konstruktives und städtebauliches Konzept näher. Zwei davon befinden sich in Belgien, die beiden anderen im fernen Bahrain.
1 – Eine Raumsequenz im Dialog zwischen Innen und Aussen
In Merchtem ausserhalb von Brüssel – einem heterogenen Stadtgefüge ohne einen Flecken natürlicher Landschaft – wurden Geers und sein Büropartner van Severen für den Bau eines Wochenendhauses beauftragt. Sie füllten den Hinterhof eines auf der Parzelle bestehenden Hauses mit einer Abfolge von quadratischen Räumen von neuen Metern Seitenlänge vollständig aus. Garage, Innenhof, Wintergarten, Wohnraum und Garten bilden eine Enfilade. Vollflächige Glasfronten können komplett in den Zwischenräumen des Doppelschalenmauerwerks der Seitenwände verschwinden und das Dach des Gewächshauses kann über den Hof geschoben werden. So entstehen aus vier identisch grossen Räumen ganz unterschiedliche und veränderbare, aber miteinander verwobene, Innenwelten. Der Kontext wird komplett ausgeblendet und lässt die Bewohner vergessen wo sie sich befinden. «Das Haus ist eigentlich nichts anderes als ein Interieur» meinte Kersten Geers resümierend mit einem spitzbübischen Lächeln.
2 – The Big Box
Mit klaren Formen und Dimensionen, die den Massstab sprengen, möchten Geers und van Severen ihren «Hüllen» eine starke Präsenz verleihen, um die «endlose Stadt» zu strukturieren und die heterogenen und gesichtslosen Quartiere der Vororte zu hierarchisieren. «Die Boxen sind einfach zu gross um ignoriert zu werden.» erklärt Kersten Geers. Mit dem Trockenlagerhaus einer Baumplantage in Brabant trieben die Belgier ihre «Architektur ohne Inhalt» ins Extreme: Eine riesige semitransparente leere Box scheint in Mitten der Plantage zu schweben. Ihre perforierte Hülle erlaubt den Durchzug von Luft, das geschlossene Dach lässt indes keinen Regen hinein, so dass während 24 Stunden die Bäume trocknen bevor sie ausgeliefert werden.
3 – Kontext stricken
Im Irrgarten der traditionellen arabischen Städte waren keine öffentlichen Räume ausgespart. Diese waren stattdessen in der Blockrandbebauung integriert. Drei provisorische Palmgärten sollen nun als gebautes Volumen die heute «offene Stadt» wieder zusammenstricken, an die traditionellen Hofgärten und an die damalige Dichte erinnern. Wie bei der Lagerhalle dient erneut ein leichter und durchsichtiger Metallvorhang als Randmauer und Abgrenzung. Der Garten soll nicht als offener Park, sondern als Teil der gebauten Stadtstruktur wahrgenommen werden und ein Gefühl von Intimität und Geborgenheit hervorrufen. Auch hier ist das Gefüge vollends auf sein Interieur fokussiert und versucht sich physisch nach Aussen abzugrenzen, doch ohne an Leichtigkeit und Durchlässigkeit zu verlieren.
4 – Perlenkette
Auf der im Norden von Bahrain gelegenen Halbinsel Muharraq lebten – als die Perlenfischerei in den 1920er-Jahren Hochkonjunktur hatte – rund 30 000 Perlentaucher. Sie verbrachten oft mehrere Wochen auf engen Booten auf hoher See. Um dem Wellengang zu trotzen sangen sie Volkslieder und klatschen im Rhythmus dazu. Diese traditionelle Musik wird in Bahrain immer noch praktiziert, wohingegen die Perlenfischerei keine lukratives Geschäft mehr ist. 2012 wurden daher ein Duzend Gebäude von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt, um das verbleibende baukulturelle Erbe aus der Zeit der Perlenfischerei vor dem Untergang zu bewahren.
Mit kleinen öffentlichen Plätzen versuchten Kersten Geers und David van Severen die verbliebenen architektonischen Perlen zu einer Kette miteinander zu verknüpfen. Die Plätze sind durch Sichtachsen verbunden und in sehr dichten Stadtteilen signalisiert die aufragende Parkbeleuchtung den Weg zur nächsten «Perle». Die Belgier möchten die Bewohner animieren auf eine Entdeckungsreise durch die traditionelle Architektur von Bahrain aufzubrechen.
DAR – Ein Haus
Zum Stadterneuerungsprojekt gehört auch die Umstrukturierung zweier Häuser – auf Arabisch Dar – die durch ein weiteres Gebäude mit Musik- und Gemeinschaftsräumen erweitert wurden. In diesen Räumen sollte die Tradition der Volksmusik gelehrt und vorgetragen werden. Eine einfache Stützen-Decken Struktur wird wiederum durch einen Metallvorgang eingehüllt. Dieser schützt vor der gleissenden arabischen Sonne, lässt aber das Treiben im Gemeinschaftshaus von Aussen beobachten. Das neu hinzugefügte Gebäude tritt mit seiner Gebäudehöhe und seiner gräulichen Haut in einen Dialog mit der umliegenden teilweise morbiden und vernakulären Bebauung. In seiner Leichtigkeit sticht das Gebäude dennoch als neues Element heraus und vermag sich in der Umgebung als öffentliches Gebäude zu behaupten.
Losgelöst
Geers’ und van Severens zerbrechlich und temporär anmutende Architektur vermag sich durch eine klare Formensprache vom bestehenden und oft planlos gewachsenen Kontext loszulösen, kräftige Referenzpunkte zu setzen und auf diese Weise das Stadtgefüge zusammenzuhalten. Ihre bunten Collagen strahlen eine zeitlose Atmosphäre, ähnlich der Pittura Metafisica des italienischen Malers DeChiricos aus – eine prägnante Bildsprache die ihre konzeptuelle Sichtweise ihrer Entwürfe treffend wiedergibt.
Fortsetzung folgt
Am nächsten Dienstag 28.3.2017 wird um 19.00 Uhr Freek Persyn von 51N4E die Vortragsreihe weiterführen und das Buda Art Center in Kortrijk vorstellen. Johan Anrys und sein Büropartner Freek Persyn befassen sich hauptsächlich mit strategischen Planungen grosser Stadtgebiete. Zur Zeit beschäftigen Sie sich mit den Regionen um die Städte Bordeaux, Brüssel und Istanbul. Hierzulande ist sein Büro Teil einer Planungsgruppe zur Ausarbeitung eines Masterplans an der Thurgauerstrasse in Zürich – eine der grössten Parzellen im nördlichen Stadtteil die noch im Besitz der Stadt ist. Hier soll ein attraktives aber erschwingliches Wohnquartier entstehen, das die Kriterien der 2000 Watt Gesellschaft erfüllt. Das Studio 51N4E schlägt ein hybrides und fragmentiertes Stadtviertel vor, um die neue Bebauung ins bestehende Stadtgefüge einzuflechten. Längliche Gebäudestreifen – bedingt durch die sehr schmale Parzelle – nehmen ein vielfältiges Raumprogramm auf. Neben den Wohnungen, sollen auch Dienstleistungen, kleine Werkstätten und öffentliche Institutionen Platz finden.
Weitere Vorträge in der Reihe Ein Haus.
- 28.3.2017: 51N4E, Brüssel: Buda Art Center, Kortrijk, Belgium. Vorgestellt von Freek Persyn
- 18.4.2017: Felix Claus Dick van Wageningen Architekten, Amsterdam: National Military Museum, Soesterberg. Vorgestellt
von Felix Claus
- 25.4.2017: LIN, Berlin und Paris: Quai Henri IV, Paris, France. Vorgestellt von Finn Geipel
Alle Vorträge finden um 19.00 Uhr, in der Spitalstrasse 8 in Basel statt.
> Im September 2017 widmet archithese der Bricolage und Collage ein Heft. Es erwarten Sie Essays und umfassende Gebäudekriken – etwa über Rem Koolhaas Umbau der Fondaco dei Tedeschi in Venedig.