SAY YES
Swiss Architecture Yearbook 2023
Hubertus Adam über seine Hassliebe gegenüber Architekturjahrbüchern – und zum neuen Swiss Architecture Yearbook 2023.
Text: Hubertus Adam, 15. September 2023
Mein Verhältnis zur publizistischen Gattung des Architekturjahrbuchs ist von Hassliebe geprägt. Einerseits finde ich die lose Zusammenstellung von mehr oder minder überzeugenden, innerhalb eines definiten Zeitraums entstandenen Architekturprojekten einer bestimmten Region oder eines Landes selten inspirierend, geschweige denn konzeptionell überzeugend. Andererseits muss ich zugestehen, dass auch ich derlei Periodika spätestens dann mit Gewinn nutze, wenn ich mich mit der Architekturkultur einer mir weniger bekannten Region vertraut machen will. Und auch dort, wo ich mich einigermassen auszukennen glaube, ist die Frage, wer im jeweiligen Jahr dabei ist und wer nicht, immer wieder mit Überraschung und Spannung verbunden.
Darüber hinaus war ich immer wieder einmal in unterschiedlicher Funktion an der Produktion von Architekturjahrbüchern beteiligt, beispielsweise in Luxemburg, Bayern oder in der Steiermark. Daher sind mir auch die Schwierigkeiten bekannt, die sich mitunter ergeben: Mal hält das Projekt vor Ort nicht, was die Bilder versprechen; mal ist die qualitative Ausbeute zu gering, um vorgegebene Kategorien zu bedienen; und in der Steiermark schliesslich war das von mir erstplatzierte Projekt überhaupt nicht eingereicht worden. Die Architekten erklärten mir, sie hätten sich angesichts von dessen Radikalität keine Chance ausgerechnet – hatten allerdings verkannt, dass beim steirischen Architekturjahrbuch nicht die Mehrheit einer Jury zu überzeugen ist. Vielmehr wird jeweils ein/e Kurator*in berufen, der/die über alles frei entscheiden kann: über die Anzahl der auszuzeichnenden Projekte, über deren Auswahl, aber auch über Art, Aussehen und Aufmachung der Publikation und schliesslich über die fotografische Dokumentation. Es geht also um die Subjektivität einer Kurator*innenpersönlichkeit, für die stets Beobachter*innen von aussen gewählt werden.
Angesichts der hohen Qualität und der seit Jahrzehnten konstanten Reputation, welche die Schweizer Architektur seit Jahrzehnten im Ausland geniesst, war es mir stets ein Rätsel, warum es hier nicht gelingt, ein Architekturjahrbuch auf die Beine zu stellen. Um diesem Defizit entgegenzuwirken, entschieden wir uns als archithese vor mehr als 20 Jahren, mit der das jeweilige Jahr eröffnenden Swiss-Performance-Nummer einen Rückblick auf die Schweizer Architekturproduktion des Vorjahrs zu geben. Ich muss gestehen: Ich habe der Idee seinerzeit eher halbherzig zugestimmt, zu wenig schien mir diese Projektreihung mit dem diskursiven und theoretischen Anspruch von archithese zu tun zu haben. Aber zumindest in finanzieller Hinsicht wurde ich eines Besseren belehrt: Egal welche anderen Themen wir uns ausdenken, stets ist die Swiss-Performance-Ausgabe die mit den besten Verkaufszahlen des Jahres. Wir gehen mit unseren Kräften haushälterisch um: Wir sammeln über das Jahr potenzielle Projekte und entscheiden schliesslich innerhalb unseres kleinen Teams.
Nun liegt es bei uns auf dem Tisch, das erste offizielle Schweizer Architektur Jahrbuch, Swiss Architecture Yearbook 2023, kurz SAY 23. Hardcover, Format etwas grösser als A4, gewichtig – sehr gewichtig. Kein ephemeres Produkt, eher eines, das Dauerhaftigkeit beansprucht. Vier Sprachen finden sich auf dem Titel, auch das sehr schweizerisch. Blättert man hinein, so stellt man fest: Englisch ist die durchgehende Sprache, die Übersetzung erfolgt dann nach Standorten der Projekte in der jeweiligen Landessprache. Nur auf Rätoromanisch hat man verzichtet.
Auch ich war – in einer allerdings bescheidenen Funktion – am SAY 23 beteiligt, nämlich als einer der mehr als 40 aus allen Landesteilen der Schweiz ausgewählten Nominator*innen, welche die Aufgabe hatten, jeweils fünf zwischen Mitte 2020 und Mitte 2022 in der Schweiz oder von Schweizer Architekt*innen im Ausland fertiggestellten Projekte zu benennen – SAY ist als biennales Periodikum konzipiert. Unter Abzug von Mehrfachnennungen kamen auf diese Weise 129 Projekte zusammen, über die dann eine Jury entschied. Diese bestand aus Peter Cachola Schmal (Direktor DAM, Frankfurt), Catherine Gay (Architektin, Monthey), Manon Mollard (The Architectural Review, London), Martino Pedrozzi (Architekt, Mendrisio), Andreas Ruby (Direktor S AM, Basel), Roland Züger (Chefredaktor werk, bauen + wohnen, Zürich) und Leonid Slominskij (Architekt, Zürich). In die Endrunde schafften es schliesslich 36 Projekte – die Zahl war durch den Umfang des Buchs und das grafische Konzept vorgegeben. 19 davon stammen aus der Deutschschweiz, sechs aus der Romandie, sechs aus dem Ausland, drei aus Graubünden, zwei aus dem Tessin. Eine Rangierung der Projekte wurde nicht vorgenommen. Über die Debatten innerhalb der Jury erfährt man wenig; interessant allerdings ist die Information im Essay von Manon Mollard, es habe heftige Diskussionen über den zweiten Roche-Turm in Basel von Herzog & de Meuron gegeben. Am Ende fiel die Entscheidung, ihn nicht in SAY 23 aufzunehmen: «Projects like the Roche towers … do not belong in a yearbook that seeks to celebrate a profession’s achievement and pave the way for the future of Swiss cities, villages, and landscapes.» Es geht also um eine positive Auswahl, um Vorbildlichkeit, nicht um eine Dokumentation der Bauten, die Debatten ausgelöst haben. Herzog & de Meuron sind mit der Erweiterung des Stadtcasino Basel und dem Uniqlo Store in Tokyo vertreten und damit neben Manuel Herz (Synagoge Babyn Yar, Kiew; Kinderspital Tambacounda) das einzige Architekturbüro, von dem zwei Projekte in die Finalrunde gelangten.
Im Rahmen der Publikation werden die 36 Bauten unter acht Kategorien rubriziert: Klimafreundlich Bauen, Erkämpfte Räume, Dichter Wohnen, Transformationen, Bestand erhalten, Landschaft bauen, Dorfgeschichten, In der Welt. Erkennbar wird der Wunsch, aktuelle Fragen wie soziale Nachhaltigkeit, Schonung von Ressourcen, Bauen im Bestand oder Weiterbauen zu priorisieren.
Jeder der Kategorien sind drei bis sieben Bauten zugeordnet, wobei es dem Gestaltungsteam von Claudiabasel (Jiri Oplatek, Nevin Goetschmann) überzeugend gelungen ist, den jeweiligen Einleitungsessay und die Projektpräsentationen grafisch zu verzahnen und damit der für Architekturjahrbücher typischen öden Projektreihung entgegenzuwirken. Dass die Zuordnung zu den Kategorien manchmal etwas willkürlich anmutet, weiss jede/r, die/der einmal mit der gleichen Aufgabe konfrontiert war. Das ist natürlich hier auch nicht anders: Das Haus aus Hanf von Bach Mühle Fuchs und Ljubica Arsic in Serbien hätte auch unter «In der Welt» statt unter «Klimafreundlich bauen» subsumiert werden können, und zumindest fraglich bleibt, ob der Negrellisteg in Zürich nun wirklich unter «Landschaft bauen» gut aufgehoben ist.
Der Negrellisteg führt zu einer weiteren Überlegung, nämlich der Frage, wie überzeugend das Spektrum der 36 Projekte ist. Die Fussgängerbrücke schafft eine Verbindung zwischen zwei Teilen der Stadt, wo vorher keine bestand, und der Blick über das Gleisfeld ist nicht ohne Charme. Wahrscheinlich käme ich aber kaum auf die Idee, den Steg architekturinteressiertem Besuch als eines der wichtigsten Schweizer Bauprojekte der vergangenen zwei Jahre zu präsentieren. Im Vergleich dazu ist mir völlig unverständlich, wieso das in den Medien einhellig positiv bewertete Schulhaus Wallrüti von Schneider Studer Primas in Winterthur durch das Raster gefallen ist und wieso kein einziges der drei nominierten Projekte von Christian Kerez, des konzeptionell radikalsten Architekten der Schweiz, es in die letzte Runde geschafft hat. Alle vier genannten Projekte sind in den vergangenen zwei Jahren in archithese publiziert worden. Was belegt, dass SAY Bilanzen wie Swiss Performance nicht ersetzen kann. Unser subjektiver Zugang und der Versuch der SAY-Macher*innen, den Prozess so weit wie möglich zu objektivieren, führen in grossen Teilen zu ähnlichen Resultaten, weichen aber auch signifikant voneinander ab.
Spät hat man sich in der Schweiz für ein Architekturjahrbuch entschieden, doch wenn, dann macht man es hierzulande mit allem erdenklichen Aufwand. S AM, BSA und Werk AG haben eigens für das Vorhaben die Stiftung Architektur Schweiz (SAS) gegründet, die nun für die Herausgabe von SAY verantwortlich ist. Flankiert wird die Veröffentlichung von einer von Andreas Ruby und Yuma Shinohara geschickt kuratierten und szenografierten Ausstellung, die nach ihrer Premiere im S AM an weiteren Stationen im In- und Ausland zu sehen sein wird. Im grössten Saal des S AM stehen auf Stühlen 129 Tafeln mit allen nominierten Projekten – gleichsam ein Reenactment des Jury-Setups. Wie die Jurymitglieder werden auch die Besuchenden dazu aufgefordert, auf einem Zettel ihre zehn Favoriten zu nennen. Ob das Publikum zu einer anderen Entscheidung kommt, wird sich am Ende der Ausstellungsdauer zeigen. Die 36 Projekte der Juryauswahl sind – unter Verweis auf die Seitenzahlen des Buchs – auf Plakaten in den letzten beiden Sälen des S AM ausgestellt.
Die Ausstellung zum Swiss Architecture Yearbook 2023 ist noch bis zum 05. November 2023 im S AM Basel zu sehen.