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Ruinen erzählen.

Im November geht die 57. Kunstbiennale von Venedig in ihre Schlussphase. Wer die Schau noch nicht gesehen hat, dem sei noch der Besuch empfohlen. Die Präsentationen sind architektonischer denn je. Viele Künstler haben sich unmittelbar mit den Länderpavillons auseinandergesetzt und öffnen neue räumliche Konfigurationen oder suchen nach unmittelbaren Interaktionen zwischen den Kunstwerken und Performances zu den Ausstellungsorten. Zudem zieht sich das narrative Potenzial der Ruine wie ein roter Faden durch die von Christine Macel kuratierte Schau. Wir schauen auf eine grossartige Biennale zurück und heizen damit zugleich ein für die nächste Ausgabe der archithese. Denn das Dezember-Heft der schriftenreihe beschäftigt sich ebenfalls ausgiebig mit Ruinen.  

 

Text + Fotos: Jørg Himmelreich – 2.11.2017

 

Auseinandersetzung mit dem Ort
Ironisch oder enttäuscht scherzen immer wieder Kritiker der Architekturbiennalen in Venedig, diese sein zu Kunstausstellungen mutiert. Umgekehrt lässt sich nun feststellen, dass die auf der Kunstbiennale gezeigten Arbeiten eine zunehmende Freude an der Auseinandersetzung mit Raum und Architektur aufweisen. In diesem Jahr haben gleich mehrere Künstler die Pavillons in den Giardini zu Neben- oder gar Hauptakteuren Ihrer Kunstwerke gemacht.  

 

Transparenz des Grauens
Anne Imhof hat im Deutschen Pavillon mit Ihrer Performance Faust dem Bauwerk eine neue Dimension abgewonnen. Der in der Achse gelegene Haupteingang wurde blockiert und der Bau mit einem Zaun umgeben hinter dem (eher niedlich denn gefährlich wirkende) Dobermann-Hunde umherspringen. Innen wurde eine zweite Ebene aus Glas eingezogen, welche die Besucher durch Türen im hinteren Bereich des Gebäudes betreten und wieder verlassen. Zu bestimmten Uhrzeiten performen junge Tänzerinnen in schwarzer Sportkleidung: Mit emotionslosen Gesichtern tanzen, springen und kriechen sie zu harscher Musik über und unter der gläsernen Ebene, besteigen Gesimse und verharren auf ebenfalls gläsernen Podeste an den Wänden. Der Pavillon wurde zu recht für seine kraftvolle wenn auch verstörende Darbietung mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet.

  

Moderne Ruinen
Kirstine Roepstorff hat mit Influenza. Theatre of Glowing Darkness den Dänischer Pavillon geöffnet, Scheiben, Türen und Wandteile wurden entfernt und mit einer fiktiven modern bis brutalistisch anmutenden, fragmentarischen Architektur ergänzt. Erde und Pflanzen im Gebäude lassen die Innenräume mit den Aussenräumen verschwimmen. Die Künstlerin thematisiert das Überschreiten von Grenzen: zwischen Innen und Aussen, dem Vertrauten und dem Fremden, der Kunst und dem alltäglichen Leben. Die Ruinenmetaphorik soll den Prozess einer Verwandlung versinnbildlichen, sie erzählt zugleich von Zerstörung als auch von einem Aufbruch hin zum Neuen und Unbekannten. 

 

Verschimmelungsmanifest
Auch der Israelische Pavillon präsentiert sich in einem artifiziell inszenierten desolaten Zustand. Schimmel scheint die ehemals weissen Wände durchzogen zu haben und überspannt sie mit rostbraun und grünlichen Fleckenteppichen. Gal Weinsteins Installation Sun Stand Still beschäftigt sich mit der Zeit und dem menschlichen Bedürfnis nach Kontinuität und Stabilität. Entsprechend geht es bei der Installation um Fortschritt und Rückschlägen, Schöpfung und Vernichtung. Die Parallelen zur geopolitischen Lage in Israel sind offensichtlich, vielleicht gar zu deutlich. Die gezeigten Arbeiten sind im Verlauf der letzten Dekade entstanden, werden aber in Venedig zu einer neuen gesamthaften Einheit gefügt. Die Ausstellung lässt den Pavillon physisch und metaphorisch als verlassenen Ort erscheinen, als desolates, vermodertes und verfallenes Gebäude. Doch auch hier wird der Metapher der Katastrophe das Motiv des Aufbruchs anbei gestellt und auf die mögliche Entstehung einer neuen Welt nach der Apokalypse verwiesen.

 

Poesie und Melancholie des Verfalls
Auch im palladianischen Pavillon der USA scheint es um Verfall zu gehen. Leicht ins Gelände eingesunken und vermüllt wirkt der Bau verlassen. Die Rotunde im Inneren ist geschwärzt. Die Wände blättern, als sei sie ausgebrannt. Hier ist das Bild der Ruine als Kritik an sozialen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten gemeint. Mark Bradford kritisiert mit Tomorrow is Another Day, dass für viele US-Bürger das Versprechen von Gleichheit und persönlichem Wohlergehen ein unerfüllter Traum geblieben ist. Die Schau ist als Kritik an der Diskriminierung von Schwarzen, Homosexuellen und anderen (Rand-)Gruppen gedacht. 

 

Im Regen stehen
Vahjiko Chachkhiani hat den georgischen Beitrag beigesteuert. Living Dog Among Dead Lions im Arsenal ist eine kleine Georgische Holzhütte. Möbel, Bilder, Lampen und andere Haushaltsgegenstände wurden zurückgelassen. Aus hunderten Löchern in der Decke rinnt kontinuierlich Wasser. Der Endlose Regenschauer lässt das Innere über den Verlauf der Biennale vergammeln und verrotten, während die äussere Erscheinung unverändert bleiben wird. 

 

Sichtbarkeit durch Demontage
Am radikalsten wurde mit dem Motiv der Ruine beim Kanadischen Pavillon gearbeitet. Geoffrey Farmer hat mit A way out of the mirror das Bauwerk selber – oder besser gesagt das, was nach seinem Eingriff davon übrig blieb – zum Hauptakteure gemacht. Farmer kombiniert in seinen Installationen häufig historisches Quellenmaterial mit theatralischen Effekten. Seine vielschichten Arbeiten spinnt er kontinuierlich weiter, so dass eine Arbeit – auch wenn sie mehrfach gezeigt wird – nie identisch zu sehen ist.
Der kanadische Pavillon wurde 1958 von den Mailänder BBPR architects gestaltet. Von vielen Kanadiern wurde die asymmetrische Struktur als moderne Interpretation eines Tipis gelesen. «Eine delikate Analogie», findet Farmer, «nachdem die europäischen Einwanderer einen Völkermord an den Ureinwohnern Nordamerikas verübt hatten. Der Pavillon ist zugleich Monument und Anti-Monument, das verschiedene Geschichten in einer Geste der Grosszügigkeit und Inklusion vereint.»
Da das Bauwerk instand gesetzt werden muss, wurde dem Künstler eine Teildemontage erlaubt. Nachdem die Stahl- und Glaselemente der Frontfassade und Teile der Abdeckung entfernt wurden, präsentiert sich das Bauwerk nun als teilüberdachter Hof. Farmer hat darin Holzlatten und einen arabisch anmutenden Brunnen installiert. Aus beiden spritzt und schiesst Wasser in Fontänen hervor, benetzt Boden, Wände und Besucher. Farmer setzt sich in seiner Installation unter anderem mit dem Ort, seiner Geschichte und den unterschiedlichen ihm eingeschriebenen Bedeutungen auseinanderzusetzen. Beim Graben fand er beispielsweise den Schutt des ehemaligen Castello Quartiers, das Napoleon hatte abreissen lassen, um die Gärten zu schaffen. 

 

Die 57. Kunstbiennale von Venedig endet am 26. November 2017.

 

archithese 4.2017 untersucht das Potenzial von Ruinen als Denkmodell für die Architektur.

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