Mehr als Propaganda
Noch heute stehen die Wiener Gemeindebauten synonym für das Rote Wien. Der Traum, mit Architektur die Welt zu gestalten, scheint hier Wirklichkeit geworden zu sein. Doch wie kam es zu dieser Dominanz der Architektur in der sozialdemokratischen Politik? Im neu erschienenen Sammelband Rotes Wien publiziert wird neben der Architektur auch die einzigartige Rolle der Architekturpublizistik zum Thema.
Text und Bild: Martin Kohlberger – 31. März 2021
Kein anderes politisches Projekt im deutschsprachigen Raum wird so sehr mit seiner Architektur in Verbindung gebracht wie das Rote Wien. In der Zeit von Wohnungsnot, hygienischen Missständen und Beschäftigungsnotstand wurde ebenjene Architektur ein politisches Mittel. Mit dem Ziel, alle Lebensbereiche zu organisieren und diese zu verbessern, wurde das Bauen Teil der sozialdemokratischen Politik.
Dieser Teil der Geschichte ist den meisten bekannt – unbekannt ist jedoch die Vielzahl an Publikationen, die auf eine in der Zwischenkriegszeit einzigartige Weise das Bauprogramm begleiten sollten. Die Architektur wurde zum wichtigsten Werbemittel um Wähler*innenstimmen. Die Wienbibliothek im Rathaus besitzt eine umfangreiche Sammlung von Druckwerken aus der Zeit des Roten Wiens; anlässlich der Ausstellung Rotes Wien publiziert wurde diese erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Ein als Begleitpublikation erschienener gleichnamiger Sammelband gibt nun mit 14 Aufsätzen auch abseits der Ausstellung weit gefächerte Einblicke in die Architekturpublizistik der Zeit. In den einzelnen Texten wird das Metier der Architekturpublizistik besprochen und ein Bogen von der Situation des Roten Wiens zu anderen Entwicklungen der Zeit gespannt. Die Berichte im Sammelband gleichen teilweise einer schieren Aufzählung von Druckprodukten. Die intensive Recherchearbeit der Autor*innen ist beeindruckend, lässt das Publikum aber aufgrund langer Aufzählungen teilweise etwas ermüdet zurück. Doch gerade durch die vielschichtige Zusammenstellung lässt sich über die Rolle der Disziplin der Architekturpublizistik reflektieren.
Achtung – hier wird publiziert
Um die Publikationstätigkeiten während der Zeit des Roten Wiens besser zu verstehen, blicken die Autor*innen nicht nur in die Archive des Roten Wiens. Während in den 1920er-Jahren gerade das Bauhaus eine eigene moderne Formensprache entwickelt, unterscheidet sich die Grafik der Publikationen im Roten Wien nur graduell vom Jugendstil. In der Zeitschrift des Bauhauses und etwa den Publikationen rund um Ernst May und das Neue Frankfurt gibt es zentrale Organe mit klarer Ausrichtung, die auch die Gestaltung beeinflusst – in Wien bestimmt zum grossen Teil die Stadtverwaltung, die ein breit gefächertes und zeichenhaftes und ästhetisch vertrautes Bild liefern will. Es geht weniger darum, Avantgarde hinsichtlich der Gestaltung zu sein als um die Vermittlung einer politischen Botschaft. Die Architektur ist plötzlich in allen Medien und Werbemitteln präsent und soll die breite Masse ansprechen – und zwar mittels Anpassung an deren Geschmack. Das betrifft nicht nur die Grafik, sondern auch die Darstellung der Architektur: Handwerkliche Details und Bezügen zu vertrauten Stilelementen werden thematisiert, nicht die schnörkellosen Fassadengestaltung der damaligen Avantgarde.
Postkarte aus dem Gemeindebau
Das Gesamtspektrum der Publikation setz sich zusammen aus Aufsätzen zu verschiedenen Wohnbauten, der elektrifizierten Stadtbahn oder Bädern. Aber nicht nur Printprodukte, sondern auch andere Informationsträger wurden als Werbemittel eingesetzt. So veröffentlichte man etwa auch Filme anlässlich der Eröffnung von gemeindeeigenen Wohnbauten, um die Erfolge der Stadt hervorzuheben. Aber auch auf anderen Medien wie Plakaten, Postkarten und in diversen Ausstellungen stellte die das Rote Wien die Bautätigkeiten der Stadt ins Zentrum. Bemerkenswert ist dabei auch die Art der visuellen Vermittlung. Die Fotograf*innen wählten gern eine Gegenüberstellung von Alt gegen Neu und vermitteln damit durch Abgrenzung ein positives Bild des Aufbruchs und des neuen hygienischen Wohnungsbaus. So sieht man zum Beispiel einen aus einem dunklen Durchgang eines alten Zinshauses fotografierten und von der Sonne beleuchteten Gemeindebau.
Ein weiteres Kapitel im Buch widmet sich der Rolle von Architektinnen im Roten Wien, die zu der Zeit erstmals an Architekturschulen zugelassen wurden. Unter anderen war in der Zeit auch Margarete Schütte-Lihotzky in Wien tätig. Ähnlich wie ihr Lehrer Oskar Strnad wandte sie sich vermehrt der Siedlerbewegung und einfachen Bauformen zu. Die im Eigenbau errichteten Wohnsiedlungen unterstützte das Rote Wien nach einer Demonstration im Jahr 1921 von 50 000 Siedler*innen vor dem Wiener Rathaus und anfänglicher Fokussierung auf die grossen Gemeindebauten schliesslich mit Baumaterial und präsentierte diese Wohnform in grossen Ausstellungen. Druckwerke über die Siedlerbewegung veröffentlichte das Rote Wien allerdings keine.
Programmatische Veröffentlichungen
Auch schon vor dem Roten Wien wurden Wohnanlagen in der Stadt mit Eigennamen versehen. So finden sich in der Stadt Gebäude, die mit Namen von christlich-sozialen Politiker*innen, beliebten Künstler*innen oder historischen Ereignisse versehen wurden. Im Roten Wien wurde dies auf die Spitze getrieben – grosse Wohnbauten erhielten entweder direkt bei der Eröffnung oder später den Namen von wichtigen sozialdemokratischen Persönlichkeiten getauft. So legitimierte das Rote Wien nach dem Ende der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie Personen, die bislang tabuisiert und nicht thematisiert wurden
Diese Benennungen sind sinnbildlich für die politische Bedeutung der Bauten. Sie sollten ein Symbol für die sozialdemokratischen Errungenschaften sein. Dass der Wiener Wohnungsbau Kernstück und Resultat einer gross angelegten politischen Strategie und Taktik war, macht ihn einzigartig in der Zwischenkriegszeit. Die Architektur wurde zum bewusst mitgedachten Mittel und Architekt*innen, aber auch die Architekturpublizistik zu einem Bestandteil der sozialdemokratischen Politik. Dennoch wurde die Architektur nicht einfach instrumentalisiert, sondern war Teil einer kollektiven politischen Anstrengung, das Leben der Arbeiter und Arbeiterinnen zu verbessern. – Eine wichtige Rolle spielten dabei auch Publikationen über die Architektur.
Das Buch Rotes Wien publiziert – Architektur in Medien und Kampagnen, herausgegeben von Harald R. Stühlinger, ist Ende 2020 als Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Bibliothek des Wiener Rathauses im Mandelbaum Verlag erschienen. Mit 14 Aufsätzen und der Einleitung des Herausgebers wird auf 280 Seiten die einzigartige Rolle der Architekturpublizistik im Roten Wien beschrieben.
> Der Wiener Wohnungsbau wurde zum Thema in der Ausgabe archithese 4.2003 Wohnbauprogramme