Relational Theories of Urban Form – eine Anthologie
Die 2021 im Birkhäuser Verlag erschienene Anthologie Relational Theories of Urban Form der beiden ETH-Dozenten Daniel Kiss und Simon Kretz wirft ein neues Licht auf den Städtebau sowie die stark verwobenen Wechselbeziehungen zwischen gebauter Materie und einem sozialen, menschlichen oder kognitiven Kontext. Auf 464 Seiten haben die Herausgeber unterschiedliche Schriften gesammelt, die zum Weiterdenken anregen oder handfeste Möglichkeiten liefern, mit einem Problem im urbanen Raum umzugehen. Diese Texte sind nach vier übergeordneten Themengruppen gegliedert: Type, Process, Place and Things, zu denen je zwei Texte Stellung beziehen.
Text: Carla Wirsching – 31.03.2022
Hierbei haben sich Kiss und Kretz entschlossen, die einzelnen Texte der Anthologie ohne einleitende Worte der Herausgeber beginnen zu lassen. Lediglich der Beginn der vier Kapitel ist gestalterisch abgehoben, und in einer auf wenige Sätze geraffte Zusammenfassung wird die Essenz der jeweiligen Kapitelgegenüberstellung hervorgehoben. Ein ausführlicher Kommentar und zugleich die Einleitung des Buchs findet sich in einem ersten Kapitel. Daniel Kiss und Simon Kretz spannen hier einen Bogen in dem sie gezielt auf die nachfolgenden acht Texte eingehen, sich aber auch auf Exkurse zu bekannten Namen (nicht nur) der Architekturtheorie wie Aldo Rossi, Martina Löw, Hannah Arendt, Sarah Williams Goldhagen und Winston Churchill mit seinem berühmten Ausspruch «We shape our buildings; therefore they shape us», begeben.
Dem Buch vorangegangen war 2016 ein Reader für Studierende, welche am Seminar Theories of Urban Formam Lehrstuhl von Kees Christiaanse teilnahmen. Der Reader bildete den Ausgangspunkt der Anthologie und wurde in grossen Teilen im einführenden Kapitel übernommen. Kiss und Kretz betonen hierin mehrfach, dass gebaute Architektur abhängig sei von sozialen Dimensionen der Umgebung. In den letzten Jahren wurde erkannt, dass der Beruf der Architekt*innen sich zunehmend mit Personen ausserhalb des eigenen Berufsfelds verknüpft und ein Austausch mit diesen immer wichtiger wird. Der Architekt, die Architektin wird laut Daniel Kiss und Simon Kretz de-heroized, weil die lange unangreifbare Rolle der Expert*innen sich auflöst und sich das Wisssen auf verschiedene Akteure verteilt.
Process – Collective Form | Spatial Processes
«Bau etwas Neues und Grossartiges.» – So lautet das weit verbreitete Credo unter Architekt*innen. Infolgedessen sehen Städte vielerorts verwirrend aus, es scheint ihnen jeglicher gemeinsamer Nenner zu fehlen. In Fumihiko Makis Text plädiert der japanische Architekt für eine vereinende gestalterische Sprache in Städten. In seiner Analyse definiert er drei verschiedene Herangehensweisen, um zu «collective forms» zu gelangen. Dabei geht es ihm um Ansammlungen von Gebäuden, die einen starken Grund haben, aus dem heraus sie eine solche Gebäudegruppe bilden und grenzt diese ab von losen, zufälligen Häuseransammlung. Seiner Meinung nach scheitern städtebauliche Projekte oft daran, dass es ihnen an einem solchen übergeordneten Grund mangelt.
Im selben Kapitel Process beschäftigen sich Alison und Peter Smithson mit der Rückkehr des gothic mind. In ihrem Text Italian thoughts (1993) schreiben sie über die Unterschiede einer Stadt des Mittelalters gegenüber einer Stadt der Renaissance. Der laut ihnen fundamentale Unterschied besteht darin, dass die Wege einer Renaissancestadt Theater sind. Eine Wegführung mittelalterlicher Städte hingegen ist ein Fakt. Sie begreifen diese Art, Städte auszurichten, zu dramatisieren oder schlicht Punkt «A» mit Punkt «B» zu verknüpfen nicht als Stil einer klar definierten zeitlichen Epoche, sondern als eine geistige Haltung: Der gothic mind kann den Smithsons zufolge ebenso in Siena wie an einem Amerikanischen Freeway der 1950er in New York, Boston, oder Los Angeles gefunden werden. «The streets of Siena are facts, not theater. They are paths connecting this to that […] ». Im Fall des Freeways richten sich sämtliche Gebäude der Umgebung nach der linearen Struktur der Schnellstrasse – er wird zu einem Referenzystem, entsprechend der Funktion eines Flusses, Bergs oder Meeres im Mittelalter.
Type – A Pattern Language | A Thematic Repertoire
Wie Fumihiko Maki versucht auch Christopher Alexander, zu einer gemeinsamen Sprache für urbane Räume zu gelangen. Er nennt sie pattern language. Hierbei analysiert er Gebäude und ganze Städte bis hin zu ihren kleinsten gemeinsamen Elementen. Er ist überzeugt, dass eine Stadt sich auf einzelnen Elementen aufbaut und man aus ihnen eine Enzyklopädie erstellen kann, sobald man diese Elementen ausfindig gemacht und Beispiele gelungener städtebaulicher Situationen extrahiert hat. Während der Analysen bemerkt er jedoch, dass nicht einzelne Elemente, sondern ineinander verwobene Netze an Beziehungen sich wiederholen und den Gebäuden und Städten zu Grunde liegen. In einer Sammlung von 253 dieser Netze erklärt er so einfach wie möglich das jeweilige Netzwerk, von grösseren, wie dem «Netzwerk von Wegen und Automobilen» (52), bis hin zu sehr kleinen, wie «Bushaltestelle» (92) oder «Minibusse» (20). Alexander sieht seine Enzyklopädie als einen Vorschlag, offen für Abänderungen, aber auch als Vorarbeit für neue räumliche Sprachen, da ihm bewusst ist, dass seine pattern language eine vieler möglichen subjektiven «Sprachen» für einen bestimmten Kontext ist. Dennoch versucht er so gut es geht präzise Hilfestellungen für jedes einzelne der 253 Netzwerke zu geben und deren innewohnende Probleme bestmöglich zu beantworten.
Oswald Mathias Ungers, welcher ebenfalls im Kapitel Types vertreten ist, sieht die Themen, die er aufführt, ebenfalls eher als kulturelle Strategien, als Leitgedanken – im Gegensatz zu fertigen Strukturen. Für ihn sind «Ideen, Imagination, Metaphern, Modelle, Analogien, Zeichen, Symbole und Allegorien» visuelle Werkzeuge, die das gesamte menschliche Verständnis und alle Gedanken durchdringen. Eines dieser Themen: Die Inkorporation oder die Puppe in der Puppe verwendet das Bild einer russischen Matrjoschka. So bildet die äussere Stadtmauer des Ortes eine Schicht der Puppe. Schicht für Schicht schraubt sich die Stadt gedanklich auseinander: von grösseren städtebaulichen Kontexten, über Bezirke und Nachbarschaften bis hin zu einer einzelnen Parzelle und dem Gebäude, welches die kleinste Puppe im Kern der Matrjoschka symbolisiert.
«The need for a thematization of architecture means nothing if not moving away from the blind alley of pure functionalism or – at the other end of the spectrum – from stylistic aberrations and a return to the essential content of architectural language. A building without a theme, without a supporting idea, is an architectural work without theoretical foundation.» Oswald Mathias Ungers, Morphologie: City Metaphors (1976)
Place – The Art of Environment | The Science of Walking
Das Kapitel Place widmet sich der sozial-psychologischen Komponente des Wechselspiels von Mensch und Raum. Gordon Cullen nimmt an, dass Sehen stark verknüpft ist mit Erinnerungen und Erfahrungen. Der Akt des Sehens ist darum für ihn unabdingbarer Bestandteil der Identifikation einer Person mit einem bestimmten Ort. Der Textauszug aus seinem Buch The Concise Townscape (1971) bildet einen wichtigen Pfeiler für die Anthologie. Cullen versucht die Wahrnehmung der einzelnen Person, die beim Gang durch die Stadt um eine Ecke läuft und den neu sich eröffnenden Raum erlebt oder einen in sich geschlossenen Raum betritt, zu erfassen. Er hält fest: Eine Person ist sich ständig der eigenen Position in der Umgebung bewusst. Wir definieren ein «hier», ein This und im Wechselschluss automatisch auch ein That, denn für die Eingrenzung des «hiers» braucht es eine Abgrenzung des That, des Entfernten, Aussenliegenden. Ähnlich Christopher Alexanders akribischer pattern language, sammelt er in einem Fallstudienbuch zahlreiche stellvertretende Beispiele, die seine Gedanken unterstreichen.
Den Begriff Strollology verwendet Lucius Burckhardt für seine Methode, durch Laufen einen Ort zu erfassen, oder wie er sagt, für die «Spaziergangswissenschaft». Laut ihm ist es das Schlendern oder Erwandern, welches uns einen Ort verstehen lässt. Das Laufen setzt sich nicht ein einzelnes spektakuläres Ziel vor Augen, zu dem man gelangen möchte, es ist vielmehr als eine Kette mit verschiedenen Perlen mehr oder weniger beeindruckender Erlebnisse zu verstehen. Burckhardt meint, dass wir nicht einen bestimmten Zielort beschreiben, wenn wir von Orten wie dem Jura, den Vogesen, dem Schwarzwald sprechen, wir beschreiben vielmehr die Wegsequenz samt ihren Tälern, landwirtschaftlich genutzten Flächen und Wäldern, die uns dort begegnen. Wenn wir Orte wie Paris beschreiben, erwähnen wir Platzabfolgen, Parks und Gebäudefronten und nicht den Eiffelturm oder das Centre Pompidou. Burckhardts Ansatz ist einerseits wissenschaftlich, weil er kulturhistorische Analysen umfasst, andererseits will Burckhardt Planende dazu anhalten, persönliche Erfahrungen mit planungsrelevanten Themen zu machen. Hierfür lädt er ein zu Experimenten wie seinen «relaxive walks». Diese lassen sich als künstlerische Performances lesen, sie tragen aber auch dazu bei, die Grenze zwischen Expert*innen und Laien, wie den Anwohner*innen, verschwimmen zu lassen. Diese Events können auch bei partizipativen Bauprojekten eingesetzt werden und lassen verschiedene Akteur*innen– zumindest kurzfristig – eine geteilte Realität erleben – was wegbereitend sein kann für ein beidseitiges Verständnis.
Things – Agency of Things | Urbanity of Things
Objekten, Elementen, die Bruno Latour – aus, wie er meint, – Mangel eines treffenderen Begriffs – «non-human» nennt, wird gemeinhin keine Beachtung geschenkt: «Much like sex during the Victorian period, objects are discussed nowhere and felt everywhere.» Als Pendant zu dem deutschen Begriff Realpolitik, möchte der französische Soziologe den Neologismus «Dingpolitik» einführen. Ihn interessiert dabei, wie eine Objekt-orientierte Demokratie aussehen würde. Für seine Argumentation greift er auf Heidegger zurück, der laut Latour bemerkt hat, dass Dinge allem vorweg ein «gathering of relations» sind. Aufgrund der Reaktionen und Stellungnahmen, die Dinge – Things – in uns erwecken, sollten wir sie nicht länger isoliert von uns betrachten, den «kontrollierenden» Subjekten. Er grenzt seinen Begriff «Dingpolitik» ab von Ludwig Wittgensteins These des 1921 erschienenen Tractatus. Wittgenstein stellt dort die These auf, die Welt sei in ihrer Gesamtheit eine Zusammensetzung von Fakten. Latour erwidert jedoch, unsere Welt in der philosophischen Postmoderne sei Dinge, Things. Nahezu unmöglich sei es, heutzutage Fakten aufzustellen und zu belegen, die alle überzeugen und die für alle gültig sind. Dinge wiederum sind allgegenwärtig, sie einen und entzweien uns und haben starken Einfluss auf uns. «What we need is to be able to bring inside the assemblies divisive issues with their long retinue of complicated proof-giving equipment.» Latour fragt sich, ob es noch möglich ist, den Fundamentalismus – als Politikform, welche Vermittlungen ausschliesst – abzuwenden und stattdessen zu einer «realistischen Dingpolitik» zu gelangen.
In eine ähnliche Richtung weisend wie der Ansatz der Dingpolitik von Latour, entwickelte der katalanische Architekt und Stadtplaner Manuel de Solà-Morales eine Ding-basierte Entwurfsmethode, welche er «material urbanity» betitelt. Dem vielerorts vernehmbaren Ausruf die heutige Stadt würde täglich hässlicher werden, entgegnet Solà-Morales: Sie wird nicht hässlicher, sie wird reicher. Es schiessen neue Plätze aus dem Boden, durch Erweiterungen und Okkupation von Freiflächen. Neue Aktivitäten, Konstruktionen, Bewegungen, Räume und urbane Bilder entstehen kontinuierlich. Hierfür möchte er eine neue Sichtweise vorstellen. Wie ein Stillleben, auf dem einzelne Objekte beispielsweise Äpfel, ein Magazin, ein Stoff, oder ein Krug auf einem Tisch platziert sind, so sind für ihn urbane Dinge, Things, in unmittelbarer Beziehung zueinander «auf» der Stadt angeordnet. Die Stadt dient als Präsentiertisch der Materialität von urbanen Dingen und deren Verschiedenartigkeit – ihre eigene Identität formt sich durch Abgrenzung. Er konzentriert sich hierbei auf für uns wahrnehmbare Eigenschaften der urbanen Objekte. Dabei nennt er die Summe all dieser Dinge und auf uns einwirkenden Objekte die skin of the city. Anhand von vielen Fallbeispielen zeigt Solà-Morales, wie Verknüpfungen zwischen den einzelnen Akteuren der Stadt – human wie non-human – verstärkt werden können, um bessere Raumqualitäten und einen mehrschichtigen Stadtraum zu schaffen.
«The blind man and the elephant»
Der Anthologie gelingt es, einen umfassenden Überblick über wichtige Werke, welche die Beziehungen zwischen Materie und Menschen behandeln, zu liefern und gleichzeitig praktische Hilfestellungen für Städteplaner*innen und Architekt*innen zu formulieren. Daniel Kiss und Simon Kretz selbst beschreiben das Buch als einen Elefanten, den es gilt blind abzutasten, um das Wesen des Elefanten für eine Person begreifbar zu machen, die noch nie zuvor einem Elefanten begegnet ist. Sie wollen verschiedene «Teile des Elefanten», welche analog für die verschiedenen Sichtweisen und Thesen der Autor*innenschaft stehen, aufzeigen, um den Lesenden eine Einführung in die Materie zu vermitteln. Die Leserschaft erhält eine Sammlung an Schriften und damit ein Nachschlagewerk mit einer klaren Struktur, gerahmt von expressiven Fotografien und Zeichnungen.