Reallabor Nachkriegsmoderne
Strategien für den Erhalt einer jüngeren Baukultur
Wie umgehen mit der Architektur nach 1945, die aufgrund mangelnden Ansehens und einer klimakritischen Bewertung um zukunftsweisende Perspektiven zu kämpfen hat? Mit dieser Frage sehen sich ausführende Architekt*innen, Mitarbeitende der Denkmalpflege wie auch praxisorientierte Theoretiker*innen gleichermassen konfrontiert. Im Jovis Verlag ist die Publikation Reallabor Nachkriegsmoderne. Zum Umgang mit jüngeren Denkmalen erschienen, in der unterschiedliche Beiträge zu den Qualitäten, Herausforderungen, Strategien und Zielen im Umgang mit dem jüngeren Baubestand versammelt sind.
Text: Nele Rickmann, 02. August 2023
Bereits der Titel der Publikation zeigt, dass der Umgang mit dem gebauten Erbe nach 1945 einer prozesshaften Entwicklung ähnelt – ein Experimentieren, um die richtigen Methoden nach der Dringlichkeit der Gegenwart zu erarbeiten. Diese Dringlichkeit rührt von einer grossen Anzahl jüngerer Bauten der Nachkriegszeit her, deren Zukunft ungewiss ist und die aufgrund von verschmähter Ästhetik und schlechter Energiebilanz in der Kritik stehen; von einer immer kritischer werdenden Gesellschaft, die richtige Antworten auf die Problemstellung der Klimakrise und gleichermassen auf das ressourcenschonende Bauen fordert – und von einer praxisorientierten Bauforschung, der verbindliche Strategien zur Erfassung und Bewertung von Konstruktion, Materialien und Bauweisen für den breiten Bestand der Nachkriegsmoderne fehlen, wie es die Herausgeber*innen im Vorwort zur Publikation schreiben. Mit den dringenden Fragen nach dem Erhalt und dem Weiterbauen von Bausubstanz kommt man an den Bauten der Nachkriegsmoderne jedoch nicht vorbei. Zwischen 1960 und 1980 errichtete Gebäude machen bis zu 60 Prozent des gesamten deutschen Bestandes aus. So proklamiert es die Initiative DFG-Netzwerk Bauforschung Jüngerer Baubestände nach 1945+1, mit deren Zusammenarbeit die Publikation unter Berücksichtigung aktuell laufender Projekte und Workshops herausgegeben wurde. Im Format von 24 x 16.5 Zentimetern beinhaltet Reallabor Nachkriegsmoderne eine prägnante Analyse der vielfältigen Autorenschaft, die den Blick auf den Status quo im Umgang mit Nachkriegsbauten richtet.
In vier Teilen zur besseren Bewertung jüngerer Denkmale
Silke Langenberg, Professorin für Konstruktionserbe und Denkmalpflege an der ETH Zürich, und Hans-Rudolf Meier, gebürtiger Schweizer und Professor für Denkmalpflege und Baugeschichte an der Bauhaus-Universität Weimar, führen neben drei weiteren Beiträgen von Christian Holl, Jörg Heiler, Roman Adrianowytsch und Andreas Schwarting in die Publikation ein. Langenberg und Meier behandeln die Verantwortlichkeit der institutionellen Denkmalpflege, die zur Aneignung und Wertschätzung des gemeinhin geringgeschätzten Bestands massgeblich beiträgt. Sie halten fest: «Hieß es in Fürsprache für das selektive Vorgehen der Denkmalpflege 2015 in der NZZ noch ‹Nicht jedes Objekt […], das zu erhalten sinnvoll wäre, ist ein Denkmal!›, scheint aktuell der Umkehrschluss Realität zu sein: Was die Denkmalpflege nicht als Schutzobjekt selektiert, wird abgebrochen.»2 Wann bekommt das Vergangene so viel Gewichtung, dass wir lieber reparieren als ersetzen? Durch fachkundige Inventarisierung ist die Denkmalpflege als zentrale Einrichtung die Drehschraube, wenn es um die verantwortliche Auswahl aus der Fülle an Bauten geht, die es als erhaltenswert einzustufen gilt – und steht damit an der entscheidenden Schnittstelle von praktischer Ausführung und politischem Entscheidungswillen.
In vier Themenkapiteln wurde in Reallabor Nachkriegsmoderne ein Leitfaden erarbeitet, der das Erfassen und Bewerten von jüngeren Bauten nach 1945 ermöglicht und verbessern soll. Im ersten Teil «Analog und digital» stehen herkömmliche Methoden der Bauforschung im Mittelpunkt, die durch digitale Neuerungen ergänzt werden. Unter anderem beschreiben die Autoren Leonhard Wesche, Pedro Achanccaray und Sebastian Hoyer in diesem Teil den Einfluss der allbesprochenen Künstlichen Intelligenz (KI) und ihren Beitrag zur Erfassung des Baubestandes. Vor allem serielle Strukturen wie industrielle Grossbauten oder Massenwohnsiedlungen der 1960er- bis 1980er-Jahre können mithilfe von KI als neue Erfassungsmethode Beachtung im geregelten Inventar der Denkmalpflege finden. Demgegenüber stellt Robin Rehm, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Silke Langenberg am Institut Konstruktionserbe und Denkmalpflege an der ETH Zürich, analoge Methoden zur Erfassung und Deutung von spätmodernen Farbsystemen der 1960er- und 1970er-Jahre vor, sodass diese als architekturbegründende Merkmale der Folgegenerationen erhalten bleiben. In seinem Text «Signalfarbe und Megastruktur der 1970er Jahre» bezieht sich Rehm unter anderem auf das Fernmeldebetriebszentrum von Theo Hotz in Zürich-Herdern (1978) und nimmt die Monografie des Schweizer Architekten, herausgegeben von archithese Chefredakteur Hubertus Adam3, als einen Ausgangspunkt für seine umfangreiche Analyse.
In Ergänzung zu dem erwähnten Beitrag von Silke Langenberg und Hans-Rudolf Meier behandelt das zweite Themenkapitel «Evidenz und Konsequenz» denkmalpflegerische Entscheidungswege. Welche Kriterien müssen – neben denen nach der UNESCO-Konvention üblichen – erfüllt sein, damit ein Bauwerk als schutzwürdig eingestuft wird? Wie lässt sich eine Art Regelwerk erstellen, das die verschmähten Bauzeugnisse nach 1945 mit einbezieht statt ihnen auszuweichen? Unter anderem könnte die Bauforschung zu dem Bestand der DDR-Moderne Vorbildfunktion für ähnliche Strukturen in den alten Bundesländern innehaben wie auch für Bauten im Ausland und in der Schweiz. Benjamin Rudolph, Architekt, und Mark Escherich, Denkmalpfleger, beide in Erfurt (Thüringen) tätig, erläutern anhand ausgewählter DDR-Beispiele die Potenziale der Erkenntnisse aus der praxisnahen Bauforschung sowie deren Bedeutung für die Bestandsbewertung und Entscheidungsfindung der institutionellen Denkmalpflege. Ein weiterer Beitrag von Christoph Rauhut und Kerstin Lassnig, beide tätig im Landesdenkmalamt Berlin, stellt den sogenannten Mäusebunker in Berlin als Modellverfahren einer gelungenen Bauforschung vor, die das brutalistische Forschungsgebäude von Gerd Hänska und Kurt Schmersow (1981) in der deutschen Hauptstadt vor dem Abriss bewahrt hat.
Grosswohnsiedlungen und serielle Strukturen des 20. Jahrhunderts stehen auch im dritten Thementeil «Serie und Maßstab» im Fokus. Unter anderem geht darin Andreas Müsseler, Professor für Entwerfen, Konstruieren und computergestütztes Realisieren an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg, mit seinem Text «Der genetische Gebäudecode» einer systematischen Inventarisierung typologischer Merkmale der Grosswohnsiedlungen am Beispiel derer der DDR nach. Bruno Reichlin zufolge sei «eine flächendeckende Erkundung des Bestands die entscheidende Grundlage, um das am einzelnen Objekt konkret Vorgefundene und im Detail Untersuchte einzuordnen; es zu beschreiben und zu bewerten; es für typisch oder besonders zu erachten und damit unsere Umwelt über die phänomenologische Beschreibung hinaus typologisch zu ordnen»4. Die grosse Masse der Bauten aus den 1960er- und 1970er-Jahren wird anhand einer Inventarisierung greifbar und folglich bewertbarer. Neben räumlichen werden in der Analyse auch soziale Qualitäten als Bewertungskriterium hinzugezogen, die sich anhand der typologischen Merkmale messen lassen.
Das abschliessende Themenkapitel «Erhaltung und Transformation: Case Studies» bandelt Referenzprojekte als Fallstudien für den Umgang mit jüngeren Denkmalen. Unter anderem beschreiben Stephan Schütz und Christian Hellmung von Gerkan, Marg und Partner (gmp Architekten) das Vorgehen des renommierten Büros aus Hamburg am Beispiel des Kulturpalastes in Dresden von Wolfgang Hänsch und Leopold Weil (1969) wie auch der Hyparschale in Magdeburg von Ulrich Müther (1969). Ausserdem stellen die Denkmalpflegerinnen Sabine Weigl und Gundula Lang Leitlinien und Zielstellungen zum Umgang mit der Terrassenhaussiedlung in Graz St. Peter von den Architekten der Werkgruppe Graz (1978) vor.
Denkmalpflegerischer Tatbericht mit Wirkung über die Landesgrenzen hinaus
Nach dieser kurzen inhaltlichen Zusammenfassung, die nach einer persönlichen Auswahl dennoch lückenhaft ist – dadurch vielleicht aber Lust auf mehr macht – sei zu sagen, dass die Qualitäten der Publikation Reallabor Nachkriegsmoderne deren inhaltliche Schwerpunkte und Zugänglichkeit sind. Für ein breites Publikum werden hier aktuelle Ergebnisse der Bauforschung und der gegenwärtige Zustand der Denkmalpflege kritisch hinterfragt, verständlich beurteilt und zukunftsweisend weitergedacht. Die Probleme und Vorschläge gelten dabei nicht nur für Deutschland – wie es die Auswahl der Referenzen vermuten lässt –, sondern ebenso für das Ausland. Die Fragestellung nach dem zukunftsweisenden Umgang mit Denkmalen der Nachkriegsmoderne macht vor Ländergrenzen nicht halt. Auch die Schweiz hat mit einer Abrisswelle zu kämpfen, die einem Wahn ähneln mag, oder wie Hubertus Adam für die NZZ schreibt: «In den Schweizer Städten geht eine Abriss-Manie um. Doch Ersatzneubauten sind nicht immer die beste Lösung. Umdenken tut not.»5
Reallabor Nachkriegsmoderne fungiert als zeitliche Dokumentation oder Tatbericht und geht auf die wesentlichen Punkte der zeitgenössischen Denkmalpflege systematisch ein. Es ist durchaus erfrischend, die prozesshafte Entwicklung deutlich zu machen respektive den realen Bestand und den Umgang als stetigen Versuch zu begreifen, anstatt eine finale Haltung vorzugeben und Anweisungen zu proklamieren. Denn eins steht nach dem Lesen des Buchs weiterhin fest: Mit unseren Möglichkeiten der Erfassung und der eindeutigen Bewertung jüngerer Baudenkmale sind wir noch nicht am Ziel angekommen. Eher gehen wir Schritt für Schritt in die richtige Richtung, das Unterschätzte auch eindeutig und nachhaltig wertschätzen zu können.
1 auf: nbjb1945.de.
2 Silke Langenberg / Hans-Rudolf Meier, «Systemimmanente Konflikte. Herausforderung der Institution Denkmalpflege und Werte junger Baubestände», in: Reallabor Nachkriegsmoderne. Zum Umgang mit jüngeren Denkmalen, Berlin 2023, S. 20. Zitiert wird Silke Langenberg, «Abbruch ist nicht die einzige Lösung», in NZZ, 23.10.2015.
3 Hubertus Adam (Hrsg.), Theo Hotz. Architektur 1949–2002, Zürich 2003.
4 Bruno Reichlin zitiert nach Andreas Müsseler, «Der genetische Gebäudecode. Potenziale im Massenwohnungsbau der 1960er und 1970er Jahre», in: Wie Fussnote 2, S. 225.
5 Hubertus Adam, «Muss das nun schon wieder weg? In den Schweizer Städten geht eine Abriss-Manie um», in: NZZ, 14.08.2020.
> Die Publikation Reallabor Nachkriegsmoderne. Zum Umgang mit jüngeren Denkmalen kann über den Onlineshop des Jovis Verlags und in lokalen Buchläden bezogen werden.
> Mehr Informationen zum Vorgehen des DFG-Netzwerk Bauforschung Jüngerer Baubestände nach 1945+ unter nbjb1945.de.
> Die Autorin Nele Rickmann schrieb über die Abrisswelle der Nachkriegsbauten und deren Mangel an Wertschätzung bereits in ihrem Beitrag für archithese 3.2022 Architektur sammeln.