Raumtheorie weiterspinnen
Ist die Theoriebildung in der Architektur in der vergangenen Dekaden zusammengebrochen? Versucht niemand mehr den von Colin Rowe, Bernhard Hoesli, Aldo Rossi und vielen anderen geführten Diskurs um Typologie, Morphologie und Raum fortzuspinnen? Karsten Schubert ist skeptisch und hat deshalb selbst in die Tasten gegriffen. Sein Buch Körper Raum Oberfläche. Strukturen gebauten Raums und architektonischer Raumbildung gibt einen Überblick über verschiedenste Raumtheorien und fordert zum weiterspinnen auf.
Text: Micheal Merrill – 31.1.2017
Kein Interesse mehr an Raumtheorie?
Für diejenigen von uns, die in den 1980er- und frühen 90er-Jahren studierten, waren die Schriften von Colin Rowe, Bernhard Hoesli, Oswald Mathias Ungers, Aldo Rossi, Alan Colquhoun, Hans van der Laan oder Aldo van Eyck Meilensteine auf dem Weg zur Ausbildung eines räumlichen und architektonischen Verständnisses. Das kollektive Ziel dieser von den 1950er- bis in die 80er-Jahren schreibenden Architekten war es, ein zeitübergreifendes formal-architektonisches Instrumentarium und einen gemeinsamen verbindlichen Wortschatz zu etablieren. Ihre Hauptthemen waren etwa die Typologie, die Morphologie und die Wechselwirkungen zwischen formalen Mitteln der Gestaltung, ihre Wahrnehmung und ihre Wirkung. Das Thema, welches alle diese Betrachtungen zusammenband, war der architektonische Raum. Gemeinsam bildeten diese Autoren, zusammen mit Philosophen und Psychologen wie Rudolf Arnheim, Michel Foucault und Gaston Bachelard – knapp hundert Jahre nach der ersten Phase geprägt durch Dietrich von Hildebrandt, August Schmarsow und Co. – die zweiten Phase der architekturtheoretischen Auseinandersetzung mit dem Raum.
Doch in den letzten Jahren wurde dem nur wenig hinzugefügt. Vielleicht ist bereits alles gedacht, geschrieben, gesagt? Wolfgang Kemp schrieb 2009, der architektonische Raumbegriff dürfe als geklärt gelten.
Zurück auf die Tagesordnung
Mit seinem neuen Buch Körper Raum Oberfläche antwortet Karsten Schubert mit einem entschlossenen «noch nicht». Das Buch bietet zugleich einen detaillierten Überblick aller wesentlichen Theorien des architektonischen Raums seit dem 19. Jahrhundert und versucht den nächsten Schritt zum Kenntnisgewinn zu machen. Der Protagonist von Schuberts Erzählung ist die Raumgrenze: «Wo sich das trennende Moment der Wand und das verbindende Moment der Öffnung begegnen, offenbart sich die Ausdrucksfähigkeit der Architektur. Denn der Übergang gewährleistet nicht nur die Verbindung von Einzelräumen, sondern vermittelt zwischen Architektur und Mensch – und im übertragenen Sinn zwischen Mensch und Raum.»
Inspirierende Auslegeordnung
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste «Körper Raum Oberfläche» befasst sich mit dem Thema der formalen Mittel der Raumbildung aus Sicht der Oberfläche / Raumgrenze. Eine Taxonomie von Raumproblemen, Prinzipien und Instrumentarien wird anhand von historischen Beispielen und Diagrammen durchleuchtet unter Verwendung von Raumtheorien des letzten Jahrhunderts. Der zweite Teil des Buchs, «Sinn Raum Struktur», befasst sich mit Bedeutung und Sinn des Raums ausgehend von Cassirer, Dürckheim, Frankl, Heidegger und Straus.
Theorieaffine Leser werden die Objektivität, Verbindlichkeit und Vollständigkeit des Textes schätzen. Schubert führt mit Raffinesse und einem Flair für wichtige Details durch die Architekturgeschichte. Filippo Brunelleschi, Karl Friedrich Schinkel, Friedrich Weinbrenner, John Soane, Theodor Fischer, Josip Plecnik und Mies van der Rohe und Paul Hofer werden dabei in Rampenlicht gerückt, alte wie zeitgenössische Kunstwerke untersucht: Sie alle liefern reichliche Denkanstössee für künftige Entwürfe.
Ein solches Buch zu schreiben ist ein mutiges Unterfangen. Mutig, weil es auf die Erschaffung eines Standardwerks zielt. Das Werk ist Ergebnis einer Dissertation und jahrelanger Forschungsarbeit und Lehrtätigkeit an der Professur Lehrstuhl für Bauplanung und Entwerfen an der Universität Karlsruhe. Die Lektüre ist aus drei Gründen lohnend. Denn ersten bietet es eine anschauliche, aktuelle und detaillierte Zusammenfassung modernen Raumtheorien und ist – auch dank seiner umfassenden Bibliographie – ein exzellentes Nachschlagewerk. Weil zweitens Raumgrenze und Oberfläche in den Mittelpunkt der Debatte um den architektonischen Raum rücken, eröffnen sich neue Sichtweisen, die zum Denkanstoss avancieren können. Drittens schliesslich liefern die vielen frischen und anregenden Fallbeispiele, Diagramme und Studien eine Fülle von Material für eine neue Synthese; und dem eigenem Weiterdenken Vorschub zu leisten, scheint das wesentliche Ziel des Autors zu sein.