Raum und Kontrolle
Wege in die Überwachungsgesellschaft
In der Stadt der Kontrollgesellschaft gibt es keinen Raum und keine Zeit, die nicht erfasst sind. Dadurch wird gesteuerte Sicherheit ermöglicht. Anstelle der Beobachtung und Beeinflussung von Subjekten konzentriert sich moderne Kontrolle auf die Kontrolle von Räumen.
Autor: Friedrich von Borries – erschienen in archithese 4.2000 Privatisierung des öffentlichen Raums, S. 16–19.
Neue Sicherheitstechniken verändern in Zusammenhang mit ökonomischen Entwicklungen öffentliches Leben. Es wird deutlich, dass das Streben nach mehr «Sicherheit» den öffentlichen Raum und seine Nutzungsmöglichkeiten verändert.
Neben dieser Entwicklung zeigt sich aber in der Betrachtung von «Sicherheit» und Sicherheitstechniken noch ein anderes, für Architekten interessantes Phänomen: Die Welt wird räumlicher.
Die Betrachtung des Raumes, also der architektonischen Domäne schlechthin, rückt an zentrale Stelle.
Bei der soziologischen Analyse gesellschaftlicher Prozesse tritt neben das Subjekt mit seiner individuellen Biografie, seinem sozialen Umfeld und dem historischen Kontext – also neben die klassischen sozialwissenschaftlichen Kriterien – der Raum, in dem die Prozesse stattfinden.
Auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass dem Raum, dem Räumlichen immer mehr Bedeutung zuwächst.1
Spatial Justice
In Los Angeles plante man, das S-Bahn-Netz auszuweiten und das Busnetz zu verkleinern. Dagegen organisierte die Bus-driver Union einen Protest, der von der Mehrheit der Bevölkerung der Inner City unterstützt und getragen wurde.
Wie in manchen amerikanischen Städten ist in Los Angeles die Inner City Wohngebiet von sozial schwachen Schwarzen und der Latino-Bevölkerung, während die Suburbs von der hauptsächlich weissen Mittelschicht bewohnt werden. Das Busnetz, das verkleinert werden sollte, entsprach dem Mobilitätsbedarf der Innenstadtbevölkerung, da es auf Wanderungsbewegungen von Arbeitsplätzen im Umkreis von L.A. flexibel reagiert.
Das unflexible S-Bahn-Netz, das erweitert werden sollte, entsprach den Bedürfnissen der Bewohner der ringförmig um L.A. liegenden Suburbs.
Die geplante Ausweitung des S-Bahn-Netzes bedeutete also einen Vorteil für die weisse Mittelschicht bei gleichzeitiger Benachteiligung der Latinos und Schwarzen der Inner City. Diese klagten gegen das Erweiterungsvorhaben beim Supreme Court- mit der Begründung, dass die Erweiterung des S-BahnNetzes und die gleichzeitige Abschaffung des Busnetzes eine Form von racial discrimination sei. Der Supreme Court gab den Klägern Recht.
Die Proteste entwickelten eine Eigendynamik, die dazu führte, dass die Bevölkerung von Los Angeles bei Bürgermeisterwahlen im Oktober 1998 für eine Abschaffung des gesamten S-Bahn-Netzes votierte. Im Zuge der geplanten Umsetzung dieses Votums soll das bestehende Busnetz erweitert werden.
Damit neue Arbeitsplätze entstehen, gehen alle anfallenden Aufträge an ansässige Firmen2 für die Montage der Busse soll ein neues Unternehmen gegründet werden.
Edward W. Soja führt diesen Vorgang an,3 um auf eine Fortführung der Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre in unserer Zeit hinzuweisen. Der Kampf um soziale Gerechtigkeit wird auf den Raum übertragen: Aus Social Justice wird Spatial Justice.
Dies ist ein Beispiel, wie räumliche Auswirkungen von Ghettoisierung und Segregation als räumliches Problem zum politischen Thema werden.
Gefährliche Orte
Als «gefährliche Orte» gelten in Berlin die Orte, die vom Polizeipräsidenten aufgrund einer hohen Kriminalitätsrate als besonders gefährlich eingestuft werden. In Berlin ist seit: einer Änderung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (Asog) 1995 die Ausweisung von Plätzen und Gebieten als «gefährliche Orte» möglich.
In Berlin zählen zu den «gefährlichen Orten» der Breitscheidplatz, der Hermannplatz, der Hardenbergplatz, Teile der Friedrichstrasse, der Alexanderplatz, der Kurfürstendamm und das Kottbusser Tor. Die Zahl gefährlicher Orte schwankt in der Hauptstadt zwischen 23 und 35. Auch in Hamburg gibt es «gefährliche Orte»; zu ihnen zählen der Hauptbahnhof, die Reeperbahn und der Strassenstrich von St. Georg.4
An «gefährlichen Orten» darf die Polizei ohne besonderes Verdachtsmoment Personendaten aufnehmen, Platzverweise aussprechen oder Personen an andere Orte verbringen.5 «Missliebige Personen» sollen so aus den Hot Spots vertrieben werden können, damit die Stadt ein schönes Gesicht zeigt.
Diese Strategie der Ausgrenzung, die in privaten Räumen mittels des Hausrechts durchgesetzt wird, kann mit Platzverweisen im verbleibenden öffentlichen Raum angewandt werden.
Gerade belebte Orte verlieren ihre Qualität als öffentlicher Raum, wenn sie zu «gefährlichen Orten» erklärt werden und nicht mehr allen zugänglich sind. So zählen in Berlin neben den bekannten sozialen Brennpunkten auch touristische Aushängeschilder zu den «gefährlichen Orten».
Durch diese Platzverbote verspricht man sich in Berlin, nicht nur die organisierte Kriminalität einzudämmen, sondern auch den Anblick zentraler Strassen und Plätze zu verbessern.6 Deshalb sollen bei «besonderer Lage» im gesamten Stadtgebiet Ausweiskontrollen möglich sein.7
Angst vor Kriminalität und Gewalt wird instrumentalisiert, um ein bestimmtes Bild von Stadt, von städtischer Kultur umzusetzen und gleichzeitig die Kontrolle von Raum zu legitimieren.
Die Ausweisung «gefährlicher Orte» zeigt, dass das Objekt der Kontrolle nicht mehr das Individuum ist, sondern der Raum8.
Deutlich zeigt sich diese Verschiebung des Kontrollobjekts im Umgang mit Drogensüchtigen: Während an bestimmten Plätzen gegen Drogensüchtige mit Platzverweisen vorgegangen wird, werden an anderen städtische Fixerstuben eingerichtet. In diesen können Süchtige – gleichsam unter Aufsicht, kontrolliert, aber unbehelligt – Drogen konsumieren, saubere Bestecke erhalten und sich ausruhen.
Anders als in den Achtzigerjahren, als die Diskussion um Gefängnisstrafe und Therapieplatz geführt wurde, interessiert den intervenierenden Staat von heute das einzelne lndividuum nicht mehr. lhn interessiert der Raum, in dem dieses getan werden darf oder jenes unterlassen werden soll.
«Der Einzelne wird erst in den Blick genommen, wenn er in diese Orte eintritt, und auch dann interessiert sein Verhalten nur in dem jeweils definierten Raum in der begrenzten Zeit seines Aufenthalts.»9
In der Konsequenz gibt der Staat seine Position als erziehende und aufklärende Institution auf, die für ihre Bürger verantwortlich ist. Entsprechend neoliberalem Selbstverständnis beginnt der Staat, sich als Moderator gesellschaftlicher Prozesse zu verstehen. Ein Sachverhalt wird weder moralisch bewertet noch in sozialen Kategorien diskutiert: «Das neoliberale Programm zielt weder auf eine disziplinierte noch auf eine normalisierte Gesellschaft, sondern auf eine Gesellschaft, die sich durch eine Kultivierung und Optimierung von Differenzen auszeichnet.»10
Auch ganze Stadtteile können zum kontrollierten Raum werden. So wird in Los Angeles aus Sicherheitsgründen die Inner City, das Ghetto in der Mitte der Stadt, als «High Security Zone» kontrolliert und reglementiert.11
Militärische Technik wird vom Los Angeles Police Department (LAPD) zur Kontrolle der Stadt eingesetzt: «Across the city, police helicopters maintain a continuous vigil overhead with the aid of gigantic block numeral coordinates painted atop buildings and buses. These helicopters, originally developed for military applications are equipped with the Spectrolab Nightsun illumination system, producing 30 million peak beam candle power, and the Forward looking Infra-Red (FLIR) sensing system, capable to detecting body heat at a distance of1000 feet.»12
Eine ganze Stadt wird zum «gefährlichen Ort».
Grenzen und Zonen
In der Stadt verlagert sich die Kontrolle vom Individuum auf Räume. Diese schliessen sich ab und differenzieren sich nach Sicherheitserfordernissen.
Eine derartige Veränderung des städtischen Raumes findet ihre Entsprechung in der Veränderung staatlicher Räume. Staatsgrenzen markierten früher, gleichsam als ideelle, gedachte Linien, das Ende und den Anfang eines Staates. Im gleichen Masse, wie sich jetzt diese Grenzen auflösen, bildet sich eine neue Art von Grenzraum, nämlich die Grenzzone. Aus der konkreten Linie wird ein abstrakter Raum. In Deutschland ist die Zone, in der der Bundesgrenzschutz Kontrollen durchführen kann, zwischen zehn und dreissig Kilometer breit und umfasst internationale Eisenbahnverbindungen und Transitstrecken.
Vom Punkt (Grenzstein) breitet sich die Kontrolle entlang einer Linie (Grenze) in den Raum (Grenzzone) aus.
Während der klassische Zentralstaat sein Staatsgebiet als einheitlichen Raum betrachtet, den er nach aussen, in den anderen Raum, auszudehnen versucht, bilden sich heute hierarchisierte Räume: Sonderwirtschaftszonen, autonome Gebiete etc.
Auch in den Städten entstehen Hoheitsgebiete unterschiedlicher hierarchischer Kontroll- und Sicherheitsstufen: High Security Zones, «gefährliche Orte», öffentliche Räume, quasi-öffentliche Räume, private Räume.
Mega-Komplexe bilden in sich eigene Welten ab, die sich nach aussen abschliessen. Wie Stadtschlösser und «Verbotene Städte» formieren sie im Urban Sprawl ihre eigenen Städte.
Auch die Segregation unterschiedlicher sozialer Schichten in abgeschlossenen städtischen Räumen13 verräumlicht die Fragmentierung der Gesellschaft.
Anstelle des einheitlichen Raumes stehen Räume unterschiedlicher Rechtsformen nebeneinander: «Du kannst tun, was Du möchtest, aber tue es in dem dafür vorgesehenen Raum, in der dafür vorgesehenen Weise - das gewährt Dir Sicherheit vor uns und uns Sicherheit vor Dir.»14
Electronic Monitoring
Electronic Monitoring ist eine Neuerung des Strafvollzugs, die erst auf den zweiten Blick einen Bezug zum Thema Stadt und Architektur hat.
In Amerika gibt es neben dem normalen Strafvollzug die Möglichkeit, seine Freiheitsstrafe in Form eines Hausarrestes zu vollziehen, der elektronisch überwacht wird. In Deutschland, Schweden und Dänemark wird diese Methode diskutiert beziehungsweise erprobt; in Deutschland ist El.ectronic Monitoring unter den Bezeichnungen «elektronisches Halsband» und «elektronische Fussfessel» bekannt.
In Amerika wird Electronic Monitoring ebenso wie die Unterhaltung von Gefängnissen von privaten Sicherheitsfirmen durchgeführt, die auf dem Markt um staatliche Aufträge konkurrieren.
Einer der Anbieter, On Guard Plus, wirbt auf seiner Homepage für seine Serviceleistungen folgendermassen: «Elektronisch überwachter Hausarrest ist eine preiswerte Alternative zur Inhaftierung. Die elektronische Überwachung soll sicherstellen, dass sich der Straftäter zu bestimmten Zeiten auch da aufhält, wo er sich aufhalten soll. Ausgangsbeschränkungen, sog. Curfew Orders, werden von Gerichten als Alternative zur Inhaftierung oder in Verbindung mit anderen Sanktionen ausgesprochen. Den Probanden wird üblicherweise das Verbot auferlegt, ihre Wohnung zu verlassen. Die Ausgangssperre kann sich aber auch auf andere Aufenthaltsorte, etwa Krankenhäuser oder Drogenrehabilitationszentren, beziehen. Sie können etwa in Fällen häuslicher Gewalt auch dazu eingesetzt werden, sicherzustellen, dass Probanden bestimmten Orten fernbleiben.»15 Das technische Equipment, das dabei eingesetzt wird, ist nicht kompliziert: «Ein kleines Band, das dem Straftäter angelegt wird, sendet ein Funksignal. Dieses Signal wird von einem Überwachungsgerät (Home Monitoring Unit, HMU), einem kleinen, mit Steckdose und Telefonleitung verbundenen Gerät, empfangen. Bestimmte Ereignisse werden über eine kostenlose Telefonnummer an den Zentralcomputer gemeldet, wo sie mit den Arrestauflagen des Probanden abgeglichen werden. Auf Verletzungen der Hausarrestauflagen wird durch einen Beamten des Kontrollzentrums reagiert.»16 Die entstehenden Kosten, so On Guard Plus, betragen 10% der Kosten normaler Inhaftierung.
Durch Electronic Monitoring wird bei der Strafbemessung die Eingrenzung der Verfügung über Lebenszeit ersetzt durch eine Eingrenzung der Verfügung über den Aufenthaltsraum; Raum ersetzt Zeit. Die Strafe besteht in der Kontrolle des Bewegungsraumes. Nicht disziplinierende Besserung oder Läuterung ist das Ziel, sondern die Steuerung und Kontrolle des Aufenthaltsbereichs.
Die Technik, die Electronic Monitoring ermöglicht, wird, modifiziert, auch in anderen Bereichen eingesetzt.
Bei einer Überwachungsanordnung der Polizei sind die Betreiber von Mobilfunk-Netzen verpflichtet, bei einem Telefonat des zu überwachenden Teilnehmers die benutzte Funkstation, die Gesprächsdauer und die Telefonnummer des Gesprächspartners zu speichern und an die Polizei weiterzuleiten. So können der Aufenthaltsort eingegrenzt und Bewegungsmuster festgehalten werden.17 Die Benutzer herkömmlicher Verkehrsnavigationssysteme ermitteln über Funkkontakt mit verschiedenen Funkstationen ihre genaue Position, die der Bordcomputer mit seinen Daten vergleicht. In Tokio testet Daimler-Chrysler ein erweitertes Navigationssystem. Bei diesem Navigationssystem übermittelt der Benutzer seine Position an eine Servicezentrale, von der er dann Verkehrsinformationen über seine unmittelbare Umgebung erhält.18
Diese Methoden und Techniken ermöglichen, den Aufenthaltsraum und die Aufenthaltszeit des Einzelnen zu ermitteln. In der Stadt der Kontrollgesellschaft gibt es keinen Raum und keine Zeit, die nicht erfasst sind. Dadurch wird gesteuerte Sicherheit ermöglicht.
Während die oben beschriebenen Techniken heute dazu eingesetzt werden, die Position des Einzelnen im Raum zu ermitteln, können sie umgekehrt auch verwandt werden, Zonen und ganze Stadträume elektronisch so zu codieren, dass sie für Einzelne als zugänglich oder nicht zugänglich festgelegt sind.
Friedrich von Borries studierte Architektur in Berlin, Brüssel und Karlsruhe; Diplom 1999. Zur Zeit ist er im Rahmen von freien Architekturprojekten tätig und verfasst seine Dissertation über «Die aktive Stadt».
Anmerkungen
1 Darauf wies Edward W. Soja hin in seinem Beitrag auf der «Cities in Transition»-Konferenz, Universität Delft, November 1998.
2 Für die Montage der Busse soll ein Unternehmen gegründet werden.
3 In einem Vortrag am Berlage Institut, Amsterdam, Dezember 1998.
4 Siehe: Susanne Krasmann / Pablo de Marinis, «Machtintervention im urbanen Raum», in: Kriminologisches Journal, H. 3, 1997.
5 So werden in Berlin Jugendliche vom im Ostteil gelegenen Alexanderplatz in den am westlichen Stadtrand gelegenen Grunewald verbracht. Siehe: Volker Eick, «Neue Sicherheits strukturen im Neuen Berlin», in: Prokla 110, S. 100.
6 So die innenpolitischen Sprecher der CDU und SPD. Aus «Opposition warnt vor Dauer-Kontrollen durch die Polizei», in: Berliner Zeitung, Nr. 100, 30.4./1.5.1999, S. 17.
7 Seit Änderung des Asog am 28.4.1999.
8 Vgl. Aldo Legnaro, «Konturen der Sicherheitsgesellschaft», in: Leviathan H. 2, 1997, S. 274.
9 Lindenberg/Schmidt-Semisch, «Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust: Vom Übergang in die Kontrollgesellschaft», in: Kriminologisches Journal, H. 1, 1995, S. 10.
10 Lemke, T., Eine Kritik der politischen Vernunft, Berlin/ Hamburg 1997, nach: Lindenberg, M./Schmidt-Semisch, H., Kriminologisches Journal, 27, 1995, S. 305.
11 Ausführlich beschrieben in: Mike Davis, City of Quartz, Berlin 1994.
12 Steve Flutsy, «Building Paranoia», in: Nan Ellin, Architecture of Fear, New York 1997, S. 54.
13 Beschrieben in: Neil Smith, The New Urban Frontier, London/ New York 1996.
14 Lindenberg, M. / Schmidt Semisch, H., «Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust: Vom Übergang in die Kontrollgesellschaft», Kriminologisches Journal 27, 1995, S. 306.
15 «Was ist Electronic Monitoring?», Homepage der On Guard Plus L.L.C., http://www.ogpl.com
16 ebd.
17 Siehe Ingo Ruhmann, «Die telekommunikative Überwachungs spirale», In: Überwachungstechnologien 1, Cilip (Civil Liberty and Police), Berlin 1998.
18 Aus einer Unternehmensinformation.
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese 4.2000 Privatisierung des öffentliche Raums.