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Zeit für radikale Lösungen!

Der Münchner Architekt und Gründer des Opposite Office stellt gern Grundlegendes in Frage. Sozialwohnungen über dem Buckingham Palace oder Plastik-Recycling-Inseln auf dem Meer, Benedikt Hartl versteht es, weltpolitische Angelegenheiten architektonisch anzugehen. Nun hat er ein Konzept entwickelt, den kontroversen Berliner Flughafen BER in ein Notfallspital für COVID-19 Patienten umzunutzen. archithese hatte die Möglichkeit, sich mit Benedikt Hartl über seine Idee auszutauschen.

 

Interview: Lee Wolf – 21.4.2020
Portrait, Visualisierungen und Pläne: Opposite Office

 

Potenzial der Krise
Der «neue» Berliner Flughafen BER, seit 2006 im Bau, soll zum «COVID-19 Superhospital BER» werden. Während im chinesischen Wuhan innerhalb von 10 Tagen ein Notfallspital aus dem Boden gestampft wurde, ist BER ein Paradebeispiel für schlechte Planung und budgetsprengende, nicht berechnete Kosten. Da momentan unklar ist, wann Flughäfen wieder vollumfänglich in Betrieb genommen werden können, eignet sich der ungenutzte BER gut für Hartl, der speziell in Krisenzeiten Potenzial darin sieht, grosse, leer stehende Gebäude zu nutzen.
Das Konzept, das er bereits dem Deutschen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn per Mail vorgestellt hat, ist äusserst praktisch: Die über 220 000 Quadratmeter grosse Fläche des unfertigen Flughafens bietet ausreichend Platz für medizinische Geräte und Patient*innen und die komplett isolierte, wenn auch gut ans Verkehrsnetz angeschlossene, Lage eignet sich bestens für einen Ort, an dem menschliche Interaktion auf ein Minimum beschränkt werden sollte. Hartl schlägt vor, die Struktur des Flughafens mit abgerundeten, modularen Kabinen aus Stahl auszurüsten, welche schrittweise für jedes Gate konstruiert werden könnten, wodurch ein schneller Aufbau ermöglicht würde. Die Konstruktion könnte von arbeitslosen Messebauleuten übernommen werden. Dank den runden Formen steht immer eine offene neben einer geschlossenen Kabine. Das soll räumliche Distanz schaffen und effizientes Behandeln der Erkrankten ermöglichen. Die meisten Notlager, die man derzeit in den Medien zu sehen bekommt, erinnern eher an Lazarette; sie wirken drückend und beklemmend. Bei Hartls Konzept jedoch wird dem durch die visuell freundlicher wirkenden Rundungen entgegen gearbeitet.

 

Welcher Gedanke liegt dem Vorschlag für das COVID-19 Superhospital BER zugrunde? Eine Umsetzung ist wohl eher unrealistisch?

Natürlich kann man die Wahl des Ortes Flughafen BER für ein Notfallspital aus verschiedenen Gesichtspunkten diskutieren. Aber aus pragmatischer Sicht ist sie sehr nachvollziehbar. Die Infrastruktur eines Flughafens ist durch das Prozedere des Sicherheitschecks prädestiniert für räumliche Isolation. So lässt sich zum einen das gesamte Gelände isolieren, aber auch die einzelnen Funktionsbereiche und Gates. Der Sicherheitscheck soll auch die Grenze für COVID-19 sein. Somit ist der Vorschlag natürlich auch übertragbar auf andere Flughäfen.

 

Und die weniger pragmatische Sicht?

BER ist ein Symbol. Oder sagen wir es so: Er steht für drei gegenwärtige Themen: Zum einen für Globalisierung – internationale Lieferketten, die nicht mehr funktionieren, und die rasche Ausbreitung des Virus. SARS-CoV-2 mag zwar seinen Ursprung in einem Markt in Wuhan haben, die globale Ausbreitung erfolgte aber über den Flugverkehr. Zudem denkt man bei «Flughafen» heute schnell an Klimawandel. In Zeiten, in denen «Flugscham» in unseren Sprachgebrauch Eingang gefunden hat, Jugendliche auf die Strasse gehen, um für ihre Zukunft und gegen Billigflieger zu demonstrieren, war der Plan, einen dritten Flughafen in Berlin zu bauen, vielleicht nicht der innovativste. Zu guter Letzt symbolisiert BER auch die Unfähigkeit, in Deutschland Grossprojekte umzusetzen. In Wuhan bauen sie in zehn Tagen ein Krankenhaus. In Deutschland bauen wir seit über 13 Jahren an BER. Nun wäre es doch ein schönes Zeichen, wenn uns in einer tiefen Krise ausgerechnet dieses teure Missverständnis helfen könnte!

 

Die Corona-Krise sehen Sie auch als Anlass, sich neu zu orientieren und Altbewährtes zu hinterfragen. Bietet sie auch Chancen hinsichtlich der architektonischen Arbeit?

Auch vor der Architektur hat die Globalisierung keinen Halt gemacht. Unsere Bauteile werden aus der ganzen Welt importiert: Fliesen aus China, Marmor aus Italien, Sand aus Australien oder Holz aus tropischen Wäldern. Das ist nicht nur schlecht fürs Klima und die Umwelt, sondern auch schlecht für regionale Bautraditionen. Durch das Virus wird auch die Architektur des internationalen Stils in Frage gestellt. Die Zeiten von Autoren- und Stararchitektur sind vorbei!

 

Was für eine Rolle muss die Architektur künftig übernehmen? Wird sie nach Corona dieselbe sein?

Es wäre schön, wenn sich wirklich etwas verändern würde, aber ich bin nicht naiv. Die Erde wird sich auch «nach Corona» drehen und leider vergessen wir Menschen viel zu schnell. Aber verändern wird sich die Architektur schon. Aber in welche Richtung? Diese bestimmen wir jetzt. Dafür lohnt es sich zu kämpfen! Die «Corona-Krise» zeigt uns, dass der Kapitalismus in einer tiefen Krise steckt. Dieser können wir mit unterschiedlichen Mitteln entgegentreten. In der Architektur stellt sich die Frage, ob in einer Regionalisierung und Vereinfachung von komplexen Bauprozessen nicht eine Chance liegen könnte. «Less is more» sollte sich künftig also nicht mehr nur auf den architektonischen Ausdruck beziehen.

 

Ihre Vorschläge, den Flughafen in ein Krankenhaus umzufunktionieren oder Sozialwohnungen über dem Buckingham Palace zu bauen, sind radikal und provozieren. Jedoch zeugen sie auch von einem Bedürfnis nach praktischen Lösungen.

Provokation verschiebt Grenzen. Sie öffnet neue Gedankengänge. Ist die neoliberale Wohnungspolitik in vielen Städten wie London oder München nicht auch eine Provokation für Menschen, die auf Wohnungssuche sind? Pablo Picasso sagte einmal: «Alles, was du dir vorstellen kannst, ist real.» Es ist Zeit für radikale Lösungen. Bis vor kurzem war es noch unvorstellbar, dass Fabriken geschlossen sind, keine Kreuzfahrtschiffe durch Venedig tuckern, man in Peking nicht im Smog erstickt und kein Billigflieger in Mallorca landet. Vielleicht merken wir, dass Einschränkungen wirklich möglich sind.

 
 

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