Quadratur des Quadrats
Der Name Square für das neue Learning Center der HSG in St. Gallen ist nicht schlecht gewählt: Es soll wie ein öffentlicher Platz funktionieren – und es basiert gestalterisch auf dem Prinzip des Quadrats. Am jetzigen Wochenende wird der erste Bau von Sou Fujimoto in der Schweiz eingeweiht.
Text: Hubertus Adam – 11.02.2022
1963 zog die 1899 gegründete und 1938 vom Staat übernommene Handelsakademie auf den Rosenberg im Norden von St. Gallen – nunmehr als Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Der Neubaukomplex von Walter Maria Förderer, Rolf Georg Otto und Hans Zwimpfer kann mit seinen terrassierten Betonvolumina, der expressiven Treppenhalle im Hauptgebäude und der konsequent durchgehaltenen Detaillierung als Meisterwerk der brutalistischen Architektur gelten, das bis heute vorbehaltlos überzeugt. Immer wieder ist der Gang durch das Gebäude ein Erlebnis – nicht zuletzt aufgrund der Integration von bildender Kunst. Die hier nicht eine Alibiübung darstellte, sondern zum ebenso integralen wie dialogischen Bestandteil der Architektur geworden ist. Was für Namen: Max Bill, Georges Braque, Alexander Calder, Etienne Hajdu, Juan Miró, Pierre Soulages, Antoni Tàpies…
Platznot herrschte schon, als 1963 mehr Studierende die Hochschule frequentierten als ursprünglich geplant. Zahlreiche Erweiterungen sowie Campus-Dependancen waren die Folge; die grösste und augenfälligste Intervention auf dem Stammgelände war 1989 das Bibliotheksgebäude von Bruno Gerosa, das aus der orthogonalen Struktur der Ursprungsbauten nicht nur aufgrund seiner abgewinkelten Lage, sondern auch mit seiner postmodernen Formensprache ausbricht. Die einstige Bibliothek in den Obergeschossen des Hauptgebäudes konnte nun in zusätzliche Lernräume umgewandelt werden, doch an Arbeitsplätzen für Studierende mangelte es weiterhin. Dies führte 2017 zu einem Wettbewerb für ein Learning Center, mit dem Ziel «zusätzliche attraktive und für unterschiedliche Bedürfnisse ausdifferenzierte Lernplätze sowie Raum für experimentelle, studierendengesteuerte Lehrformen» zu offerieren, wie es im Jurybericht hiess. Es ging also um mehr als um eine quantifizierbare Menge von Stühlen und Tischen, nämlich um eine räumliche Idee für die Zukunft des Lernens, auch wenn niemand weiss, wie diese sich tatsächlich in zehn oder 20 Jahren darstellen wird. Learning Centers sind derzeit ohnehin im Trend, man denke nur an das von SANAA für die EPFL Lausanne, und sie dienen nicht zuletzt als Aushängeschilder für Universitäten, die im Zeitalter des Rankings verstärkt zueinander in Konkurrenz um Exzellenz, Attraktivität, Renommee und natürlich auch: Sponsorengeldern stehen. Der Architektur kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige, gleichwohl programmatisch auch widersprüchliche Doppelfunktion zu: Einerseits soll sie ikonisch wirken, anderseits aber grösstmögliche Flexibilität für sich verändernde Nutzungen bieten. Lacaton & Vassal schlugen eine grosse low-tech Struktur in Form eines Gewächshauses vor – eine Lösung, bei der, so der Jurybericht mit latenter Süffizanz, die Nachbarschaft zu den Schreibergärten «geradewegs zelebriert zu werden» scheine. Man könnte auch sagen: Zu wenig repräsentativ für die HSG. Andere Projekte scheiterten an der Konzeption zu grosser, offener und undifferenzierter Hallenstrukturen, so der Beitrag von Barão-Hutter. Schliesslich gelang Sou Fujimoto die Quadratur des Kreises, nein: die Quadratur des Quadrats. Sein Beitrag für den eingeladenen Wettbewerb unter acht Architekturbüros (weitere Teilnehmende: EM2N; Made in; Grafton; Meili, Peter; Christ & Gantenbein; Jurypräsident: Marc Angélil) mit dem bezeichnenden Titel «Open Grid, Choices of Tomorrow» erhielt den ersten Rang. Dass sich Sou Fujimoto am Wettbewerb beteiligte, ist wohl auch Albert Kriemler zu verdanken, dem Creative Director des in St. Gallen ansässigen Modelabels Akris. Das Defilee von Akris auf der Pariser Fashion Week im Frühjahr 2016 wurde in Zusammenarbeit mit dem japanischen Architekten entwickelt – die Models trugen von den Arbeiten Fujimotos inspirierte Kleider, und auf dem Catwalk stand ein Nachbau seines House N.
In für Schweizerische Verhältnisse ungewöhnlich kurzer Zeit konnte der Bau in St. Gallen. realisiert werden. Schon 2019 begannen die Bauarbeiten, und jetzt, zu Beginn des Jahres 2022, findet die Einweihung statt. Dies ist um so erstaunlicher, als die Finanzierung des Investitionsvolumens von 63 Millionen Franken rein über private Spenden erfolgte. Getragen wurde das Projekt von der HSG Stiftung, die das Land vom Kanton im Baurecht übernahm und den Square nun an die HSG vermietet. Die meisten Studierenden werden Square von der Bibliothek aus erreichen – der gedeckte halbkreisförmige, mit Holz verkleidete Gang wurde ebenfalls von Fujimoto entworfen.
Der «Grid» von Fujimotos Gebäude, das ziemlich genau dem Wettbewerbsprojekt entspricht, besteht aus einem Raster von 10 x 10 Metern. Der Erdgeschossgrundriss zeigt 5 x 5 dieser Elemente: zum Haupteingang im Westen hin schliessen sich weitere vier dieser Elemente an, so dass sich eine Art von Spitze ergibt. In den beiden Obergeschossen ist die Grundfläche zurückgestuft; dadurch ergeben sich verschiedene begehbare und zum Teil bepflanzte Aussenterrassen. Der Eindruck ist der einer leicht unregelmässigen Stufenpyramide aus Quadern (insgesamt sollen es 92 sein), die durch die komplette, leicht grünlich schimmernde Verglasung und die eleganten weissen Profile ihre gewünschte ikonische Wirkung erhält. Unmittelbar evident wird Fujimotos Intention, an die orthogonalen Formen des Ursprungsbaus anzuknüpfen, aber in einer gleichsam komplementären Materialisierung. Mit seinen puristischen und ätherischen Bauten sowie den ihnen zugrundeliegenden Rasterstrukturen steht Fujimoto wie kaum ein anderer für die derzeit tonangebende Tendenz der japanischen Gegenwartsarchitektur und ist damit besonders auch in Europa erfolgreich, wo er in Paris ein von der Architektin Marie de France geleitetes Zweigbüro betreibt. Vor wenigen Tagen erst wurde sein Konzerthaus in Budapest eröffnet, nun folgt also St. Gallen.
Bestimmt Glas das Aussenbild des Square, so wird das Sichtbetontragwerk zum raumbeherrschenden Element, sobald man das Innere mit seiner Nutzfläche von insgesamt 7000 Quadratmetern betritt. Der Raster von 10 x 10 x 5 ist das grundlegende Element, materialisiert in Stahlbetonstützen, Riegeln sowie Unterzugsdecken mit Hohlkörpereinlagen. Zentrum des Gebäudes bildet das Atrium, das mit seinen 15 x 20 Metern so in das Volumen eingeschnitten ist, dass der Stahlbetonraster hier, von den horizontalen Deckenelementen befreit, gewissermassen puristisch skelettiert exponiert wird. Besondere Herausforderungen für Schnetzer Puskas Ingenieure waren hier die Bewehrung der dreidimensionalen Knoten sowie die halbkreisförmig in den Luftraum auskragenden Treppenläufe, die mit einer Torsionsvorspannung versehen werden mussten. Licht und hell – der Beton wurde durch Zugabe von 60 Prozent Weisszement aufgehellt – zeigt sich das Innere, ganz anders als das eher dunkle, aber damit auch etwas wärmer wirkende Hauptgebäude von 1963, dem Fujimoto mit seinem eindrucksvollen Atrium seine Reverenz erweist. Fast überall sind Ausblicke möglich, Jalousien sowie ein feiner Siebdruckraster an den sonnenexponierten Glasflächen reduzieren den Lichteinfall. Helle Bodenplatten im Erdgeschoss, weiter oben heller Spannteppich – dazu Akustikplatten an den Decken mit einem subtilen Muster aus St. Galler Spitze, das Fujimoto im Textilmuseum entdeckt hat: deutliche farbliche Akzent setzen nur die zum Teil verschiebbaren bunten Panels auf allen Geschossen, die als Akustikelemente oder Raumteiler dienen und zum Teil auch die Leitungsführungen kaschieren. Nach oben nimmt die Farbigkeit an Intensität ab, der Raumeindruck wird ruhiger und die Nutzfläche verkleinert sich von Geschoss zu Geschoss. Ganz oben, wo im Altbau der Calder hängt, findet sich das Kunstobjekt Through the forest of thorns, a single path von Mai-Thu Perret – eine 60 Meter lange Kette mit 130 Objekten aus Messing, die in der Kunstgiesserei St. Gallen gefertigt wurden. Die Bronzeplastik Ourea von Tony Cragg steht vor dem Haupteingang.
Das Atrium nimmt einen grossen Teil des Gebäudes ein, und grosszügig dimensioniert sind auch die Verkehrsflächen, die es kreuzgangartig umgeben. Die Anzahl der distinkten Seminar- oder Arbeitsräume nimmt aufgrund der Gebäudegestalt nach oben hin ab.
Wie sich das Gebäude bewährt, wird die Zukunft weisen. Ohne Zweifel ist die Nutzung ambitioniert: Square versteht sich als «Experimentierfeld» für neue Formate des Lernens und Lehrens, als «Basislager», in dem Alumnae und Alumni auf aktuelle Studierende treffen, und als «Portal» der Hochschule, das für alle, für die Bevölkerung der Stadt, aber auch Gäste und Besuchende, also für jede und jeden offenstehen soll. Es gibt keine Rezeption, stattdessen eine Bar im Eingangsbereich, welche ins Haus locken soll. Die filigrane Lichtskulptur, welche den Raum darüber wirkungsvoll erhellt, wurde ebenfalls von Fujimoto entworfen und von Flos realisiert.
Im Square finden diverse Lehrveranstaltungen statt, aber eigentlich geht es gemäss HSG-Sprech um «enhanced serendipity», also um die Möglichkeit zu zufälligen Begegnungen. Um das zu gewährleisten, wurde mit Philippe Narval, zuvor Geschäftsführer des Europäischen Forums Alpbach und dort schwerpunktmässig mir Fragen zu Demokratie, Innovation und Nachhaltigkeit befasst, ein erfahrender Kommunikator als Intendant berufen. Die HSG Stiftung finanzierte nicht nur den Bau, sondern stellt für die kommenden zehn Jahre auch jeweils 1 Million Franken für die Programmierung zur Verfügung.
Noch wirkt der Bau etwas steril, die Praxistauglichkeit muss sich noch erweisen. Wie werden die weiten öffentlichen Flächen wirklich genutzt und bespielt? Ist der 10 x 10 Meter-Raster dafür geeignet? Wie funktioniert die Unterteilung, gibt es genügend Rückzugsmöglichkeiten? Es lohnt sich also, nach den Eröffnungsfeierlichkeiten zurückzukehren, wenn das Haus im realen Betrieb ist. Die offenen Türen sind ja garantiert.
Am Sonntag, 13. Februar 2022, lädt die HSG von 11 via 17 Uhr zum SQUARE Open House. Das Gebäude kann frei oder im Rahmen von Führungen besucht werden. Anmeldung ist nicht nötig, es gilt 2G+.
Schnelltests werden vor Ort kostenlos angeboten. Adresse: Guisanstrasse 20, 9010 St. Gallen