Pruitt Igoe
Sozialwohnungsbau in St. Louis, 1954-1976
Text: Henry J. Schmandt, George D. Wendel
erschienen in: archithese 5.1977, Grossüberbauungen, S. 3–15
Der Wohnbaukomplex Pruitt-Igoe in St.Louis (Missouri) nimmt einen bedeutenden Platz in den Annalen architektonischer Katastrophen ein. Für Familien mit niedrigem Einkommen konzipiert, umfasst dieser Komplex 33 Scheibenhochhäuser (11 Stockwerke), in denen 2780 Wohnungen auf einer Fläche von 57,5 Acres zusammengefasst sind. Wie bei den meisten «konventionellen» Sozialwohnbauten ihrer Zeit, also jenen Wohnbaukomplexen, die einer staatlichen Instanz gehören und von ihr verwaltet werden, war Pruitt-Igoe Teil von umfassenderen städtebaulichen Sanierungsbemühungen während der Nachkriegszeit, welche von der amerikanischen Bundesregierung in Zusammenarbeit mit lokalen Stadtverwaltungen in Angriff genommen wurden. Diese Bemühungen galten den zerfallenen, armseligen Slums der Stadtzentren, die durch extreme Übervölkerung und einen beachtlichen Zerfall des Baubestandes gekennzeichnet waren. Dementsprechend wurden auch die meisten amerikanischen Projekte für Sozialwohnbauten im näheren Umkreis des Geschäftszentrums angeordnet – so auch Pruitt-Igoe.
Nachdem Pruitt-lgoe anlässlich seiner Eröffnung (1954) von der Zeitschrift Architectural Forum aufgrund seiner innovativen und kostensparenden Entwurfsmerkmale sowie aufgrund seiner Gemeinschaftseinrichtungen über alle Massen gelobt worden war,1 kam es nach etwas mehr als einem Jahrzehnt so weit, dass der Soziologe Lee Rainwater über Pruitt-Igoe schrieb: «(Es ist) ... eine Schande für die Betroffenen ... , ein Schlagwort, gleichbedeutend mit dem Allerschlimmsten, was es in Sachen Ghettoleben überhaupt gibt ... , kein anderes öffentliches Wohnbauprojekt im ganzen Lande kommt ihm nahe, was leerstehende Wohnungen, Sorgen und Ängste der Bewohner und äusserliche Verwahrlosung angeht».2
Gegen Mitte der siebziger Jahre schliesslich kam man im Rahmen von komplexen Entscheidungsverfahren zu einer einfachen Lösung: die steigenden Unterhaltskosten, der exzessive Vandalismus, die steigende Zahl leerstehender Wohnungen sowie ständig zunehmende Verbrechen und eine weltweite Brandmarkung des Quartiers liessen keine andere Wahl: Pruitt-Igoe muss zerstört werden. Diesem letzten Schritt ging 1972 ein Experiment voraus: damals wurden drei der Gebäude in die Luft gesprengt, wodurch man herausfinden wollte, ob es zweckmässig sei, die Bauten auf diese Weise auszumerzen; oder ob sie eventuell im Sinne einer Renovation umgebaut werden könnten. Die weltweite Berichterstattung in den Medien führte dazu, dass sich weitherum die Vorstellung einstellte, Pruitt-Igoe sei damals völlig abgebrochen worden. Jedoch standen die restlichen dreissig Gebäude für einige weitere Jahre leer, bis auch sie im Sommer 1976 zerstört wurden – diesmal nicht mit Dynamit, sondern erstaunlich diskret – mittels der Rammkugel. Schlussendlich wurde der Schutt von Pruitt-Igoe in Lastwagen in eine riesige Steingrube in einem Vorort von St.Louis gefahren, die – ironischerweise – unmittelbar neben einem der reichsten Vorstadtgebiete Amerikas liegt.
Eigentümlichkeiten des sozialen Wohnungsbaus in Amerika
Um die Probleme, die auf diesem Gebiet aufgetaucht sind, zu verstehen, muss man sich verschiedene Tatsachen betreffend sozialen Wohnbau in den Vereinigten Staaten vergegenwärtigen. Viele dieser Probleme sind aus der einfachen Tatsache hervorgegangen, dass die amerikanische Form von Kapitalismus und «freiem Unternehmertum» sich während des vergangenen halben Jahrhunderts beinah ebenso stur gegen staatliche Eigentümerschaft und Verwaltung im Wohnbau gewehrt hat wie gegen den öffentlichen Besitz im Bahn- und Luftverkehr. Im Jahre 1975, mehr als 40 Jahre, nachdem die Bundesregierung das erste Programm für sozialen Wohnbau eingeführt hatte, befanden sich weniger als 2 % der Wohneinheiten der Nation im Besitz und unter Verwaltung der Öffentlichkeit.
Vor dem zweiten Weltkrieg waren Wohnungen, welche direkt durch die Regierung bereitgestellt wurden, auf relativ wenige tausend Einheiten beschränkt – meist für Arbeiter, die direkt oder indirekt in der Kriegsindustrie beschäftigt waren – sowie auf verstreute experimentelle Versuche, während der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre in den Industriezentren Obdach für arbeitslose Familien zu schaffen. Nach dem zweiten Weltkrieg sah Amerika einem Wohnungsmangel riesigen Ausmasses entgegen. Eine starke Zuwanderung von Landarbeitern in die Industriezentren sowie der durch den Militärdienst verzögerte und nun plötzlich einsetzende Schub von Familiengründungen brachten in der Nachkriegszeit eine starke Übervölkerung mit sich sowie eine grosse Nachfrage im Wohnbausektor. Um diesem Bedürfnis entgegenzukommen, baute die amerikanische Privatindustrie Millionen von Einfamilienhäusern in den Vororten. Niedrige Anzahlungen und tiefe Zinsen, durch die Subventionen der Federal Housing Administration ermöglicht, sowie eine blühende Nachkriegswirtschaft erleichterten eine massive Abwanderung junger Familien aus den Stadtzentren in die Vorortshäuschen. Auf diese Abwanderung folgte dann wiederum ein neuer Schub von Zuwanderern in die Stadtzentren der Nation – Schwarze und Weisse von niedrigem wirtschaftlichem Status und aus ländlichen Gegenden – auf der Suche nach Arbeit, besseren Wohnungen und dem «good life» der Metropolis.
Während dieser Nachkriegsperiode stiegen denn auch die Vereinigten Staaten in ihr erstes wirklich grossangelegtes Sozialprogramm ein, und zwar aufgrund einer im amerikanischen Bundessystem einmaligen Partnerschaft zwischen nationalen und lokalen Regierungsinstanzen. Diese Partnerschaft enthielt ein kompliziertes Arrangement, aufgrund dessen die Bundesregierung die Bauämter der Gemeinden unterstützte, um zerfallene Slumgebiete der Grossstädte aufzukaufen und zu räumen (Urban Renewal). Um wenigstens einige der Häuser, die in diesem «Sanierungsprozess» zerstört wurden, zu ersetzen, stellte die Bundesregierung den lokalen Instanzen Mittel zur Verfügung, um Wohnungen für Stadtbewohner mit niedrigem Einkommen zu bauen; diese blieben im Besitz der örtlichen Ämter und wurden durch diese unterhalten und verwaltet, jedoch hauptsächlich durch Mieten finanziert. Das Programm stellte allerdings kein grundlegendes nationales Engagement zur Erstellung von Wohnungen für die Armen dar; das Ziel des Gesetzgebers war – im Sinne eines Zugeständnisses an die amerikanischen Gefühle hinsichtlich des freien Unternehmertums – die Wirtschaft zu stimulieren, indem man denen, die zwar im Augenblick arm, aber potentiell sozial mobil waren, ein Sprungbrett offerierte, von dem aus sie Arbeit und damit genügende wirtschaftliche Mittel finden konnten, um in den privaten Häusermarkt einzusteigen.
Sozialwohnungen waren deshalb nicht für die Ärmsten der Armen gedacht, sondern für jene, die zumindest über ein gewisses Einkommen verfügten und somit auch einen bescheidenen Mietzins zahlen konnten (eine Gruppe, die von Zynikern oft «die Armen, die es verdienen, arm zu sein» genannt wurde). Ganz im Sinne dieser Philosophie wurden auch Höchsteinkommen festgesetzt, was bedeutete, dass die Bewohner auszuziehen hatten, wenn sie ein Einkommen erreichten, welches als dem der unteren Arbeiterklasse gleichstehend betrachtet werden konnte. Im Lichte dieser Hintergründe ist es nicht allzu erstaunlich, dass ein Projekt wie Pruitt-Igoe, 1950 auf dem Reissbrett eines amerikanischen Architekten konzipiert, genauso aussehen konnte, als wäre es von Le Corbusier für eine idealisierte Arbeiterklasse in einer algerischen oder europäischen Stadt ersonnen worden.
Rettungsversuche
Pruitt-Igoe war das vierte konventionelle Sozialwohnungsprojekt des Wohnungsamtes von St.Louis. Ursprünglich als zwei getrennte Projekte geplant – eines für Schwarze, das andere für Weisse –, wurden die zwei zusammengefasst, als das rechtliche Prinzip der «gleichen, aber getrennten Möglichkeiten» für die Rassen vom amerikanischen Obersten Gerichtshof als ungültig erklärt wurde (1954). Zu keiner Zeit war die Überbauung zu mehr als 90% belegt; und diese Rate konnte nur in den ersten paar Jahren nach Inbetriebnahme aufrechterhalten werden. In den 60er Jahren fiel diese Rate steil ab – bis schliesslich, Ende des Jahrzehnts, noch etwas mehr als ein Drittel der Einheiten bewohnt war. Schon vor dieser Zeit befanden sich die Bauten in einem Zustand schlimmer Verwahrlosung; überdies waren sie auch sozial heruntergewirtschaftet, was sich in extrem hohen Verbrechensraten und in zunehmendem Vandalismus äusserte. Weniger als ein halbes Dutzend Jahre nach seiner Erstellung hatte Pruitt-Igoe angefangen, einem Katastrophenherd zu gleichen (und war) «eine Schande, ein Betonghetto, die Karikatur einer Irrenanstalt aus dem 19. Jahrhundert».3
Aufgrund des Rückgangs der Mieter und der wachsenden Sicherheits- und Unterhaltsprobleme leerte das Wohnungsamt Anno 1970 siebenundzwanzig der Gebäude und siedelte die verbleibenden Bewohner in die verbleibenden sechs Bauten um. Drei Jahre später wurde durch Abstimmung beschlossen, die Überbauung ganz zu schliessen; und kurz danach, im August 1973, erklärte der Bürgermeister, dass die Stadt und HUD beschlossen hätten, alle Bauten dem Erdboden gleichzumachen. Anlässlich dieser Erklärung meinte der Bürgermeister, dass der Abbruch den «schrecklichen Zustand Pruitt-Igoes und das Stigma, welches seine Gegenwart auf unsere Stadt gebracht hat»,4 aufheben werde. Während der folgenden neun Monate wurden die verbliebenen Mieter ausgesiedelt, und Anfang 1976 begannen Abbruchgruppen die enorme Arbeit der Beseitigung des Riesenkomplexes. (Es ist beachtenswert, dass bis heute weder öffentliche noch private Instanzen irgendwelche Pläne für die Neuüberbauung des geräumten Terrains hervorgebracht haben.)
Die Entscheidung, Pruitt-Igoe zu zerstören, war der Höhepunkt einer Serie von erfolglosen Bemühungen, welche über die Jahre hin unternommen wurden, um die Lebensfähigkeit des Projektes zu sichern. Diese umfassten sowohl bauliche als auch soziale Massnahmen. Pruitt-Igoe wurde tatsächlich zum Ziel aller grösseren Interventionsstrategien der Regierung in den 60er Jahren. Es wurde speziell für den Einsatz der Armuts- (OEO-) und Städtemodellprogramme designiert; es wurde zum Brennpunkt für Dienstleistungen der Sozialämter, zum Gegenstand zahlreicher Studien der Sozialwissenschaften und zum Empfänger beträchtlicher Summen für bauliche Rehabilitation. Diese Aktivitäten sind zu zahlreich, als dass sie aufgezählt werden könnten, jedoch mögen einige Beispiele dazu dienen, sich ein Bild von ihrer Art und ihrem Ausmass zu machen.
1962 beschloss das Bundesministerium für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt (Health, Education and Welfare, HEW), einen Betrag von über 5 Mio. Dollar von seinem Budget PruittIgoe zuzuleiten, einem Versuch, die sozialen Probleme, welche dem Projekt anhafteten, zu lindern. Diese Gelder sollten über einen Zeitraum von vier Jahren für ein intensives Gesundheits-, Erziehungs-, Schulungs- und Wohlfahrtsprogramm eingesetzt werden. Aufgrund dieser Finanzhilfe richtete das Wohlfahrtsamt des Staates Missouri ein Büro in Pruitt-Igoe ein und wies ein Team von 45 Sozialarbeitern an, für die Bewohner Dienstleistungen an Ort und Stelle zu vermitteln. Eine Tageskrippe, eine Poliklinik und andere Dienstleistungen wurden eingerichtet; überdies wurde von einer ortsansässigen Universität eine vom Bund finanzierte Studie der Bewohner (75 000 Dollar) in Angriff genommen.
Diese Bemühungen um soziale Verbesserungen waren von baulichen Massnahmen verschiedenster Art begleitet. Im Jahre 1965 bewilligte HUD 7 Mio. Dollar, um die Baublöcke renovieren sowie generelle Reparaturen, strukturelle Änderungen, die Installation eines neuen Beleuchtungssystems und die Schaffung von Picknick- und Spielflächen durchführen zu können. Sieben Jahre später bewilligte es weitere 5 Mio. für bauliche Reparaturen, wobei ein Teil dieser Ressourcen dazu benützt werden sollte, festzustellen, ob die Hochhäuser in drei- oder vierstöckige Gebäude umfunktioniert werden könnten, wenn man die oberen Etagen abbrechen würde.
Zu dieser Zeit waren praktisch sowohl alle betroffenen Mietergruppen als auch die öffentlichen Instanzen davon überzeugt, dass Pruitt-Igoe entweder radikal restrukturiert und verkleinert oder aber evakuiert und abgebrochen werden müsse. Vorschläge, das erstere zu unternehmen, einschliesslich eines sorgfältig ausgearbeiteten, von HUD bewilligten und von der Firma Skidmore, Owings und Merrill entwickelten Aktionsplans, fanden nur wenig Begeisterung unter den Wortführern der Bewohner. Die Zweifel hinsichtlich der wirtschaftlichen Durchführbarkeit einer Wiederbelebung des Quartiers waren zu stark, als dass sie hätten überwunden werden können. Das scheinbar Unvermeidliche passierte schliesslich 1976, als der Komplex dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Warum dieses Scheitern?
Woran scheiterte Pruitt-Igoe? Warum wurde es, wie es ein Zeitungskommentator nannte, zum «grössten nichtmilitärischen Fiasko in der Geschichte der Nation»?5
Der konventionelle Sozialwohnungsbau in den Vereinigten Staaten hat sich nur wenige Sporen abverdient; viele Amerikaner betrachten das Programm an und für sich als einen Fehlschlag. Jedoch ist es in keinem anderen Falle eines grösseren amerikanischen Wohnbauprojekts zu jeder totalen baulichen und sozialen Katastrophe gekommen, die das Schicksal des Komplexes von St.Louis war. Bis jetzt ist keine definitive Antwort auf diese Frage gegeben worden, obwohl viele Gründe vorgetragen worden sind, das Scheitern zu erklären. Diese fallen generell unter vier Kategorien:
1. architektonischer Entwurf;
2. Platzwahl;
3. Merkmale der Bewohner und
4. Verwaltungspraktiken.
Je nach dem Standort dessen, der sich um eine Erklärung bemüht, wird denn auch die eine oder die andere Kategorie von Faktoren als Hauptursache hervorgehoben.
Der architektonische Entwurf
Den Entwurfsplänen von Pruitt-Igoe wie auch der bereits erwähnten Unempfänglichkeit der Architekten und Planer gegenüber den Bedürfnissen und Wertvorstellungen der Leute, die in den Wohneinheiten leben sollten, ist heftige Kritik entgegengebracht worden. Jedoch liegt die Verantwortung, wenn in diesem Zusammenhang von Veranwortung gesprochen werden kann, sowohl bei den Politikern als auch bei den Entwerfern. Das ursprüngliche Projekt von Minoru Yamasaki sah eine Kombination von Gartenwohnungen und Hochbauten mit einer Siedlungsdichte von 30 Einheiten pro Acre vor. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde dieser Entwurf massgebend abgeändert, da die Bundesinstanzen darauf bestanden, die niedrigen Gebäude zu eliminieren, um die Siedlungsdichte auf 50 Einheiten pro Acre zu bringen. Nicht weniger wichtig war die Tatsache, dass die Offerten der Bauunternehmer entschieden höher ausgefallen waren als erwartet, was sukzessive Änderungen verschiedener Aspekte des Projekts zur Folge hatte. Diese Kürzungen enthielten die Reduktion der für die Bewohner vorgesehenen Lebensfläche – überdies wurde praktisch jegliche gärtnerische Umgebungsarbeit fallengelassen, die öffentlichen WCs auf ebener Erde wurden eliminiert und somit die Jungen dazu gezwungen, Treppenhäuser und Aussentreppen als Ersatz zu verwenden. Die Treppenhauswände blieben unbemalt und sichtbare Heizungsröhren unisoliert; Freizeitanlagen waren nur in minimalem Umfang vorhanden. Wie Eugene Meehan in seiner Studie über öffentliche Wohnungspolitik bemerkte: «Die Bemühungen, (in Pruitt-Igoe) Kosten zu reduzieren, hatten ihren Schwerpunkt vor allem in jenen Dimensionen des Projekts, die das tägliche Leben der Bewohner am meisten berührten und welche geradezu zwangsläufig dazu führten, ihre Frustration und Unzufriedenheit zu maximieren».6
Die 33 Gebäude des Pruitt-Igoe-Komplexes waren im Entwurf identisch und in Reihen geordnet. Das Entwurfskonzept hielt sich an Le Corbusiers «vertikale Stadt», die als Licht- und Luft-Fänger in den Himmel aufragt. Diesem Komplex fehlte jedoch jede Beziehung zur Architektur von St.Louis oder zur Lebensform von Familien mit niedrigem Einkommen. Aus armiertem Beton, mit Mauersteinen verputzt, war jedes Gebäude rund um einen einzigen Aufzug organisiert, mit einem Treppenhaus an jedem Ende. Automatische Aufzüge hielten nur in jedem dritten Stock, was die Möglichkeit für eine weite Passage oder Galerie schuf, ca. 3,30 m tief und 25,5 m lang, die auf jeder dritten Etage aussen an der Fassade des Gebäudes entlanglief. Diese Gänge hatten sich die Architekten als «vertikale Nachbarschaften» vorgestellt, wo die Mieter der Zwischenstöcke sich treffen und ihre Kinder gefahrlos spielen könnten.
So phantasievoll der Gedanke der Schaffung von sozialen Minienklaven in den Gebäuden gewesen sein mag: die «Laubengänge» entwickelten sich schon bald zu Zufluchtsorten für aufsässige Jugendliche und Diebe; makabre Schleusen, durch die die Mieter durchmussten, um ihre Wohnungen zu erreichen – die fensterlosen Treppenhäuser, die die Stockwerke mit den Laubengängen verbanden, erwiesen sich als idealer Rahmen für Diebstähle, Überfälle und Vergewaltigungen. Was zur Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner gedacht worden war, war in wenigen Jahren zum Alptraum geworden.
Bemerkenswerterweise widersprechen die langen Passagen und andere architektonische Aspekte des Projektes jenen Entwurfsmerkmalen, die Oscar Newman in seinem Buch Defensible Space7 als verbrechenhemmend darlegt. Die hohe Wohndichte, verbunden mit blinden Treppenhäusern, fehlender Kontrolle seitens der Bewohner über Personen, die das Haus betreten, neutrale offene Flächen rund um die einzelnen Wohnblöcke und ein von dem «Skipstop»-Aufzugsystem hervorgebrachtes Verkehrsmuster boten in der Tat weitgehende Gelegenheiten für verbrecherische Handlungen aller Art.
Vielleicht die schlimmste unter den Einbussen, die durch die Sparmassnahmen bedingt waren, war die Reduktion der Wohnfläche in den individuellen Wohnungen und die Vergrösserung des Anteils an Zwei- und Dreizimmerwohnungen auf etwa 60% des Ganzen (weniger als 8 % der Wohnungen hatten mehr als drei Schlafzimmer). Diese Überdotierung an kleinen Wohneinheiten erwies sich als grober Fehler, ein Fehler, der das Wohnungsamt dazu zwang, grosse Familien in einen schon von vornherein engen Lebensraum zu pressen.
Die Implikationen dieses Faktors sind klar, wenn man von den Befunden neuerer Untersuchungen zum Problem der Übervölkerung ausgehen kann. Verschiedene Studien zeigen, dass die Wohndichte, gemessen an der Anzahl der Personen pro Raum, viel direktere Auswirkungen auf Erscheinungen sozialer Pathologie hat als die Wohndichte, gemessen an der Anzahl Bewohner pro Acre oder gemessen an der Anzahl Wohnungen pro Wohnblock.8 Die Tatsache, dass Pruitt-Igoe in allen diesen Messungen hohe Werte erzielte, besonders in der Wohndichte innerhalb der Haushaltungen, war ein ominöses Vorzeichen.
Platzwahl
Weit nördlich der Hauptachse von St. Louis gelegen, isoliert vom Geschäftszentrum sowie von den wichtigsten Industrie-Arbeitsplätzen und bar jeder kommerziellen Aktivität – abgesehen vom gelegentlichen Laden an der Ecke – war der Zerfall Pruitt-Igoes durchaus in der «Linie» der Gegend, in der es sich befand. Zu der Zeit, als das Projekt gebaut wurde, war das Gebiet, eines der ältesten Viertel von St. Louis, schon stark heruntergekommen und in einem Zustand äusserlichen Zerfalls: Die meisten Gebäude stammen aus der Mitte oder vom Ende des letzten Jahrhunderts, über zwei Drittel davon besassen keine angemessenen sanitären Installationen, fast ein Drittel war übervölkert und viele stark reparaturbedürftig. Die Verbrechensrate war hoch und der Drogenhandel allgegenwärtig. Die Gegend war schon seit langem ein Eingangshafen für arme Einwanderer gewesen. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten weisse ethnische Gruppen – hauptsächlich Iren, Deutsche und Italiener – die Mehrzahl der Bewohner gestellt. In den folgenden Jahrzehnten folgten ihnen schwarze Familien niedrigen Einkommens; und zu der Zeit, als Pruitt-Igoe seine ersten Bewohner aufnahm, war die umliegende Nachbarschaft zu 75 % schwarz.
1950 umfasste das Gebiet im Umkreis von ca. 500m von Pruitt-Igoe 5300 Wohneinheiten, die zu 99% besetzt waren. 1970 war diese Zahl auf etwas weniger als 4000 gesunken; damals waren also nur ca. 75% der Einheiten bewohnt – ein Trend, der seither nicht nachgelassen hat. Manche Beobachter schreiben diesen Zerfall dem negativen Einfluss zu, den der Komplex auf seine Umgebung gehabt hat. Andere behaupten, dass die Nachbarschaft schon vorher nicht mehr zu retten gewesen sei und dass PruittIgoe den Zerfall höchstens beschleunigt, nicht aber ausgelöst habe. Andere wieder argumentieren mit gleicher Überzeugungskraft, dass das Scheitern des Projekts den generellen Zustand der Gegend wiedergebe, in der es sich befinde.
Merkmale der Bewohner
Für viele Bewohner von St. Louis waren jedoch die Bewohner die Hauptursache des Kollapses von Pruitt-Igoe. In ihren Augen wurde der Komplex mit «wertlosen» und «unverantwortlichen» Armen gefüllt - dem städtischen «Lumpenproletariat». Dass alle Bewohner schwarz waren, trug noch zur Festigung dieses Eindrucks bei. Ganz im Gegensatz zu solchen Eindrücken zeigen die Statistiken des Wohnungsamtes, dass die Bewohner von Pruitt-Igoe in Sachen Einkommen, Beschäftigungsrate und Anteil an staatlicher Arbeitslosenunterstützung nicht sehr verschieden waren von denen anderer vergleichbarer Wohnbauprojekte in St.Louis. Jedoch fällt eine wichtige Abweichung ins Gewicht: PruittIgoe überstieg die anderen Wohnbaukomplexe von Anfang an, was den prozentualen Anteil von Familien angeht, denen eine Frau vorsteht. 1956 enthielt Pruitt-Igoe 30% ADC-Mütter (Aid to Dependent Children-Hilfe für abhängige, lies vaterlose Kinder), im Vergleich zu einem Durchschnitt von 15% in den anderen; 1960 waren die entsprechenden Zahlen bereits 40 und 23 % gewesen. Da ADC-Familien dazu tendieren, gross zu sein, hatte Pruitt-Igoe eine grössere Kinderbevölkerung als seine Nachbarquartiere. In Anbetracht der sterilen Architektur des Komplexes, seiner überaus unzulänglichen Freizeitanlagen und vor allem in Anbetracht des generellen Mangels an Arbeitsmöglichkeiten für Teenager – vor allem für schwarze Teenager – mag dieser Faktor durchaus zum hohen Grad an Vandalismus, der Pruitt-Igoe kennzeichnete, beigetragen haben. Dass es jedoch das ausschlaggebende Element für das Scheitern dieses grossen Unternehmens war, scheint sehr zweifelhaft.
Verwaltungspraktiken
Auch die schlechte Verwaltung durch das örtliche Wohnungsamt ist als ein Begleitfaktor des schnellen Zerfalls angeführt worden. Wenn man dieses Element betrachtet, müssen jedoch die Parameter, innerhalb deren sich die Tätigkeit des Wohnungsamtes abspielt, mit einbezogen werden. Es gibt Beweise dafür, dass das Amt in einer Anzahl von Fällen für schlechte Verwaltung zur Verantwortung gezogen werden kann. Seine Kontrolle der Unterhaltsarbeiten zum Beispiel war schlampig und unwirksam, und seine Beziehungen zu den Bewohnern waren allgemein schlecht. Jedoch waren seine Praktiken und Gebräuche dort am schädlichsten, wo sie entweder durch die Gesetzgebung oder durch Richtlinien des Bundes erzwungen oder das Resultat von Faktoren waren, über die das Wohnungsamt selbst wenig Kontrolle hatte.
Eine der wichtigsten Begrenzungen seitens des Amtes war seine fast ausschliessliche Abhängigkeit von Mietgeldern als Einkommen. Unter dem Bundeswohnungsgesetz konnte die Bundesregierung nur die Kosten der Bauschulden übernehmen, wodurch die örtliche Agentur gezwungen war, alle anderen Kosten aus Mietgeldern zu zahlen.9 Im Falle von Überbauungen, die voll besetzt sind, und von Bewohnern, die über genügend Einkommen verfügen, um normale Mieten zu zahlen, hätten eine solche Politik erfolgreich sein können. Im Falle Pruitt-Igoes, wo keine dieser Bedingungen erfüllt war, war sie eine Katastrophe. Zu keiner Zeit nach den ersten paar Jahren seiner Existenz brachte das Projekt mehr als 40% der Mieten auf, die für einen erfolgreichen Betrieb nötig gewesen wären.10 Überdies trugen die hohen Unterhaltskosten, durch exzessiven Vandalismus noch zusätzlich vergrössert, dazu bei, dass Gelder von den gesünderen Wohnbaukomplexen abflossen – und dies zum Schaden aller. Im Bemühen, solvent zu bleiben, war das Amt gezwungen, die Mieten zu erhöhen, Unterhaltskosten zu beschneiden und im Aussuchen neuer Mieter weniger wählerisch zu sein.
In welchem Ausmasse, wenn überhaupt, das Amt Pruitt-Igoe anders als die anderen Wohnbauquartiere behandelte und so zu seinem Zerfall beitrug, bleibt eine Frage der Vermutung. Manche Kritiker glauben, dass es zum «Auffangbecken» für die schlimmsten Problemfamilien wurde, jedoch ist nur wenig Beweismaterial zusammengetragen worden, welches diese Ansicht zu bestätigen vermag. Sicher ist, dass man dem Amt kaum vorwerfen kann; das Projekt «abgeschrieben» zu haben, bis zu dem Zeitpunkt, wo jegliche Hoffnung ohnehin verflogen war. Die zahlreichen Bemühungen in der Richtung auf eine künftige Rehabilitation der Blöcke widersprechen einer solchen Behauptung. Um den leitenden Direktor des Amtes zu zitieren – und die Analogie mit Vietnam liegt auf der Hand: «Es gab immer etwas, was wir tun zu können glaubten, um die Katastrophe wiedergutzumachen. Es hatte sich festgefahren, und wir stiegen immer wieder mit neuem Geld ein».11
In Anbetracht der äusseren Umstände und der Zwänge, denen das Amt unterlag, ist es fraglich, ob das schlussendliche Resultat durch irgendwelche Änderungen in den örtlichen administrativen Praktiken oder Strategien grundlegend hätte beeinflusst werden können.
Schlussfolgerungen
Kein einzelner Faktor scheint eine zufriedenstellende Erklärung für das Debakel von Pruitt-Igoe anzubieten. Zahlreiche Beispiele von Sozialwohnungsprojekten können aufgezählt werden, welche mit ähnlichen sozialen und baulichen Merkmalen (Hochhäuser, hohe Dichte, hoher Prozentsatz von «Welfare»-Bezügern) weiterfunktionieren. Mangels Vergleichsdata können keine endgültigen Schlussfolgerungen darüber gezogen werden, weshalb das Projekt zusammengebrochen ist, während andere weiterhin in Betrieb sind. Zwei grundsätzliche Theorien jedoch können angeführt werden, um zu versuchen, diesen Unterschied zu erklären. Nach der ersten Theorie war der Zerfall Pruitt-Igoes das Resultat einer einzigartigen Kombination oder Mischung von Faktoren, die, wenngleich allgemein bekannt auf dem Gebiet des sozialen Wohnbaus, doch in anderen Fällen nicht oder nicht im gleichen Masse vorhanden waren oder sind. Die zweite und aufreibendere Theorie ist die, wonach Pruitt-Igoe ein fortgeschrittenes Stadium in der geschichtlichen Evolution des sozialen Wohnungsbaus in den Vereinigten Staaten darstellt und ein Vorbote dessen ist, was anderswo zu erwarten ist. Obwohl die Erklärung unseres Problems wohl irgendwo in der Gegend der ersten Theorie liegt, ist die zweite nicht gegenstandslos. St. Louis ist eine der ältesten Städte des Landes; der äusserliche und der wirtschaftliche Zerfall der Stadt sind dramatisch gewesen; im Zustand ihrer Bauten – sowohl der öffentlichen als auch der privaten – tritt diese Situation besonders anschaulich zutage.
Einige Hoffnung darauf, die bestehende Substanz an konventionellen Szialwohnungen retten und das Los ihrer Bewohner verbessern zu können, darf von einem zweijährigen, von der Ford Foundation und HUD finanzierten Experiment in St. Louis geschöpft werden. Das Experiment von St. Louis - ein Versuch von Selbstverwaltung seitens der Mieter – wurde von qualifizierten Experten als positiv beurteilt, worauf HUD die Erweiterung des Experimentes auf sechs weitere amerikanische Städte angekündigt hat.12 Eine wichtige Frage, die aus diesem Test hervorgeht, ist die, ob die Mieterverwaltung sich am Ende nicht sogar noch weiter von der Aufgabe distanzieren wird, die wirklich Armen zu behausen, als es die lokalen Verwaltungen ohnehin schon taten. So besteht der vorherrschende Trend dieser «Mietergenossenschaften» darin, eine «wirtschaftliche Mischung» aus selbständigen und unterstützten Bewohnern zu finden, wobei den ersteren der Vorzug gegeben wird. Solch eine Politik führt zurück zum Kern der Frage, welche von einem früheren Mieter am besten umschrieben wurde, als er sagte: «Die eigentliche Frage ist nicht, was aus Pruitt-Igoe werden soll. Die eigentliche Frage ist, was aus Amerikas Armen werden soll».13 Solange diese Frage unentschieden bleibt, dürfte es noch mehrere Pruittlgoes geben.
Übers. S. Seiler und S. v.M.
1 «Slum Surgery in St. Louis», Architectural Forum (April 1951), S.128-136.
2 «The Lessons of Pruitt-Igoe», Public lnterest Nr. 8 (Sommer 1967), S. 116.
3 St. Louis Post Dispatch (29. Oktober 1966)
4 lbid. (24. August 1973).
5 lbid. (27.Juni 1975).
6 Public Housing Policy (New Brunswick: Center for Urban Policy Research, Rutgers - The State University, 1975), S. 64-65.
7 New York, MacMillan, 1973.
8 Cf. z.B. Daniel Strokols, «The Experience of Crowding in Primary and Secondary Environments», Environment an Behaviour 8 (März 1976), S. 49–86.
9 Erst 1969 wurde der Housing Act abgeändert, um die Mieten auf 25% des Einkommens des Mieters festzusetzen, wobei die Bundesregierung den Unterschied zwischen diesem Betrag und dem fairen Marktpreis wettzumachen hatte.
10 Vgl. in diesem Zusammenhang Eugene Meehan, Public Housing Policy, Kap. 5.
11 National Observer (3. April 1970), S. 7
12 Center for Urban Programs, Tenants Management Corporations in St. Louis Public Housing: The Status Quo after two Years (St. Louis, Center for Urban Programs, Dezember 1975). Siehe auch «Experiments to Improve Public Housing», Washington Post (6.Juli 1976), S. 1.
13 St. Louis Post Dispatch (21.Januar 1970).
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese, 5.1977, Grossüberbauungen.