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Protostructure

Architektur bestimmt den Alltag ihrer Nutzer mit. Doch wie umfassend oder gering sollte der Einfluss des Gestalters sein? Was wäre, würden er sich als Moderatoren sozialer Prozesse begreifen und lediglich Strukturen anbieten, in die fortwährend neue Nutzungen implantiert werden können, die immer neuer Aneignung offen stünden? So etwa, wie es sich die Avantgardisten der 1960er- und 1970er-Jahre erträumten? Diese Fragen standen im Fokus des Symposiums Protostructure am 7. Juni 2017 im House 2 auf dem Toni-Areal, das vom EPFL-Institut ALICE und archithese auf die Beine gestellt wurde. Es sprachen Tanja Herdt, Manuel Herz, Agathe Mignon sowie Milica Topalovic. Yona Friedmann wurde per Video zugeschaltet.

 

Text & Fotos: Elias Baumgarten – 9.6.2017

 

Zwischen Didaktik und sozialer Agenda
Agathe Mignon, Doktorandin an der EPF Lausanne, sprach über die hölzerne Struktur House 1, welche 2016 mit Erstsemestrigen der Hochschule unter Anleitung von Dieter Dietz gestaltet und gebaut wurde und in vielerlei Hinsicht den Weg zu House 2 vorspurte. Bei House 1 handelte es sich um eine Ballonframe-Konstruktion, die wie ein Gerüst verschiedene, von EPFL-Studios je als Team Effort entworfene Räume und Erschliessungen aufnahm. Dabei übten die Studierenden Verhandlungsprozesse ein, denn ihre Entwürfe sollten aus den würfelförmigen Parzellen in die benachbarten ausgreifen.
Doch Mignon möchte House 1 nicht nur als didaktisches Werkzeug verstanden wissen, um Teamplayer auszubilden. Vielmehr docke sich das Projekt bei den Theorien eines John Habraken, Herman Herzberger oder Yona Friedman an, sagt sie; alle drei Architekturtheoretiker verfolgten eine soziale Agenda, wollten Wohnen und Stadt neu gedacht wissen und befassten sich deshalb mit Protostructures. Vielleicht tragen Projekte wie House 1 das Potenzial in sich, Architekten auszubilden, die künftig handfeste Entwürfe für neue Formen des Zusammenlebens liefern; die weiterspinnen, was gegenwärtig etwa in der Ausstellung Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft im Vitra Design Museum in Basel zu sehen ist.

 

Cedric Price als Vorbild
Nur wenige Wochen ist es her, dass Tanja Herdts Buch Die Stadt und die Architektur des Wandels. Die radikalen Projekte des Cedric Price Vernissage feierte. Einmal mehr gewährte sie Einblick in ihre Forschung zum Visionär aus Grossbritannien. Dieser habe mit seinen Gestaltungen Moderator sozialer Aktivitäten sein wollen und Architektur als Emanzipationsmaschine begriffen, die den Nutzern die Kontrolle über Design und Raum zuspiele. Price soziale Vision sei eine individualisierte, doch starke und Bottom-up organisierte Gemeinschaft gewesen, sagt Herdt. Für ihn habe es keine fertigen Bauten gegeben, sondern nur Etappen im Lebenszyklus hochflexibler, aneigenbarer Objekte. Wohl auch deshalb sei Price zum Wegbereiter des Prozessdesigns avanciert und seine sozialen Ideen fänden Wiederhall in Projekten wie dem Wohnhaus r50 von Ifau Architekten und Jesko Fezer in Berlin-Kreuzberg, das aktuell auch Teil der Ausstellung Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft im Vitra Design Museum in Weil am Rhein ist; Indiz dafür, dass Cedric Price utopische Ideen heute in innovativen Ansätzen für das Wohnen weitergespielt werden.

 

Stadt versus Land?
Milica Topalovic beschäftigt sich in ihrer Forschung mit dem Wandel ländlicher Regionen und urbaner Entwicklung im In- und Ausland. Doch inwiefern beschäftigt sie sich in ihrer Forschung mit Protostructures? Topalovic sieht beispielsweise in den Kommunalgrenzen der Schweiz eine solche Struktur am Werk. Denn diese Gliederung habe eine umfassende soziale und politische Bedeutung. Sie sei der Garant für Basisdemokratie und dezentrale Selbstverwaltung.
Topalovic legte zudem mahnend den Finger in die Wunde eines Auseinanderdriftens von Stadt und Land. In Europa und den Vereinigten Staaten wachse derzeit eine politisch brisante Entfremdung zwischen Landbevölkerung und den Eliten in den Metropolregionen. Sie macht diese Entwicklung für den Erfolg reaktionärer und rechtspopulistischer Politiker verantwortlich. Gerade auch deshalb arbeitet sie mit ihren Studierenden an Projekten, welche rurale Gebiete aufwerten und eine Abkopplung verhindern sollen.

 

Vom Lager zur Protostructure
Manuel Herz sprach über Flüchtlingscamps. Und obschon das Lager eigentlich das gerade Gegenteil einer Protostructure sei, zeigte er mit den Camps der Sahrauis in Algerien, die in Folge des bewaffneten Konflikt um die Westsahara ihre Heimat verlassen mussten, einen spannenden Sonderfall. Denn diese Flüchtlingslager verwalten die Vertriebenen selbst und unterhalten dort sogar eigene protostaatliche Organisationen wie Parlament und Ministerin auf fremdem Territorium.  So entstand – ganz im Sinne Yona Friedmans – ein faszinierender sozialer Mikrokosmos.
Herz gewährte einen spannenden Einblick in die Verlinkung von Politik und Architektur in den Sahraui-Lagern. Demnach gebe es dort keine Gestaltungsentscheidung ohne politische Dimension. Die Zuhörer lernten etwa, dass die Sahrauis ihre Hütten bewusst mit leich transportablen Textilien dekorieren, um den provisorischen Charakter ihres Aufenthalts zu unterstreichen.

 

Was liefert der Architekt?
Ausgehend von Herz' Referat wurde schliesslich diskutiert, wie viel Infrastruktur – physisch oder in Form eines Sets an Regeln – eine Protostructure bieten müsse, um durchzustarten. Und während Dietz nach der Grundstruktur der Sahraui-Lager fragte, die verändert oder gefüllt werde, sah Herz die Vorrausetzung für deren Einzigartigkeit in ihrer grossen Dichte und der politischen Kultur der Menschen dort; hierin liege im Fall die nötige «Infrastruktur». Tanja Herdt ergänzte, es müssten Strukturen angeboten werden, die es im Sinne Price' ermöglichten, eine offenere Gesellschaft zu formen. Der Architekt sei dann Prozessmanager und kanalisiere Energien. Doch matchentscheidend sei die Frage nach der Adaptionsfähigkeit des Systems. Denn im Zweifel würden sich Menschen ihrer Umgebung anpassen – nicht umgekehrt.

 

> Am 6. Juni 2017 veranstalteten ALICE und archithese das Symposium Open Space im House 2.

> Tanja Herdts Buch über Cedric Price feierte mit einer Podiumsdiskussion zwischen der Autorin, Marc Angélil, Stanislaus von Moos und archithese-Chefredaktor Jørg Himmelreich Vernissage.

> Mehr zu House 1 lesen Sie in archithese 1.2017 Swiss Perfomance. Ausserdem im Heft: Eine Kritik zu Dietz' Haus in Chigny von Martin Tschanz.

> Das Buch All About Space erzählt die Entstehungsgeschichte mit grossformatigen Zeichnungen, beeindruckenden Fotos und lesenswerten Essays von House 1.

> Hands-on scheint derzeit das didaktische Flaggschiff an Hochschulen im In- und Ausland. In archithese 2.2016 Bildungslandschaften lesen Sie dazu Jørg Himmelreichs Aufsatz «Ideenwelten und Materie (wieder) zusammenführen.» Zudem erwarten Sie spannende Portraits zu hands-on-Studios von Dirk Hebel, Tom Emerson, Anja und Martin Fröhlich und Annette Spiro.

> Manuel Herz diskutierte in archithese 2.2016 Bildungslandschaften mit Christian Auer, Elias Baumgarten, Anna Jessen, Tom Munz und Andrea Wiegelmann die Zukunft der Schweizer Architekturausbildung.

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