Prekäre Gleichgewichtszustände
System, Konzept und Komposition – diese drei Begriffe stehen im Zentrum von Pascal Flammers Architektur. Weil sie sich in seinen Entwürfen überlagern, teilweise bewusst widersprechen oder irritieren, ermöglichen sie mehrdimensionale Lesbarkeiten. Flammers Werke changieren dadurch zwischen Einfachheit und Komplexität, Benennbarkeit und Mehrdeutigkeit, Logik und Chaos und es entstehen Entwürfe, die sich einer oberflächlichen Konsumierbarkeit entgegenstellen, den Betrachter intellektuell fordern und ihn dadurch in ihren Bann ziehen.
Autor: Michel Frei – erschienen in archithese 6.2015 Tradition - Adaption - Innovation, S. 76–83.
In Pascal Flammers Entwürfen schwingt etwas Mystisches mit – seien es die rohen Strukturen seiner Studentenprojekte, die Skulptur aus gestapelten Modellen als Beitrag für den Swiss Art Award (2013) oder sein in der nebligen Landschaft leuchtendes Wohnhaus in Balsthal. Alle Projekte scheinen Fragen zu stellen und diese in ihrer physischen Präsenz zu artikulieren. Sie machen deutlich, wie intensiv und fundamental sich Pascal Flammer mit Fragen der Architektur auseinandersetzt und dass das Nachdenken über die Grundbedingungen der Disziplin zentraler Bestandteil seines Schaffens ist. Im Fokus steht der Mensch mit seinen Emotionen, Ängsten, Wünschen und existenziellen Grundbedürfnissen wie Geborgenheit, Schutz, Gemeinschaft und sozialem Austausch. «Wie würde ich an diesem Ort leben wollen?» ist eine Frage, die sich Pascal Flammer bei jedem Projekt stellt und bei der er von seiner eigenen Person ausgeht. Für ihn ist das existenzielle Grundwesen aller Menschen nämlich gleich, womit der Selbstreflexion eine universelle Gültigkeit zukommt. Flammer sieht seine Projekte denn auch als Vorschläge für mögliche und gleichsam präzise formulierte Lebenswelten, die sich im architektonischen Raum manifestieren.
System
Geprägt von seinem Lehrer Valerio Olgiati entwickeln sich Flammers frühe Projekte aus einem Interesse am System als strukturierte Ganzheit, wobei das System verstanden wird als Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen oder miteinander verbunden sind, dass sie als eine sinngebundene Einheit angesehen werden können. In diesem Sinn müssen auch seine Räume als Teil eines Systems verstanden werden, denn auch sie sind nie isoliert, sondern stehen in einem ableitbaren, logischen Verhältnis zueinander. Sehr eindrücklich wird dieses Interesse am System anand eines frühen Studentenprojekts sichtbar: dem Haus mit zwei Treppen, das Flammer 2000 in der Entwurfsklasse von Valerio Olgiati konzipierte, als dieser als Gastdozent an der ETH Zürich lehrte. Das Haus wirkt in seiner Radikalität wie ein Architekturmanifest. Flammers Entwurf ist für einen fiktiven Standort in einer wunderbaren Parklandschaft gedacht und soll entsprechend der Entwurfsaufgabe sein eigenes, imaginiertes Architekturbüro aufnehmen. Das Haus ist dreigeschossig und erhebt sich mit einem Seitenverhältnis von 1:2 auf einem rechteckigen Grundriss. Das einzige raumhaltige Element ist ein Kern, der zwei einläufige, übereinanderliegende Treppen aufnimmt und die Geschosse zoniert. Er bildet das statische Rückgrat, von dem die Geschossplatten allseitig auskragen. Um dies zu ermöglichen, werden Massnahmen notwendig, welche isoliert betrachtet durchaus konventioneller Natur sind, in ihrem Zusammenspiel jedoch zu einer verblüffenden Komplexität führen. Im obersten Geschoss verlaufen vier Wände im 45-Grad-Winkel vom Kern in die Gebäudeecken und teilen so den Grundriss in ebenso viele Räume. Die Wände sind statisch aktiviert und leiten die Vertikalkräfte der Bodenplatte in den Kern ab. Damit sie sich in ihrer Mitte nicht durchbiegt, wird die Platte zudem von Pfosten nach oben gezogen. Die Dachebene darüber leitet die Kräfte wiederum seitlich über dreiecksförmige Aufbordungen der Deckenplatte ab. Ein ähnliches Prinzip wird für die Geschossplatte des ersten Obergeschosses angewendet. Hier werden die Ecken über Zugstäbe gehalten. Zusätzlich stützt auf jeder Gebäudeseite ein mittig in der Fassadenebene angebrachter Pfosten die Platte.
Damit wäre das gesamte System erklärt und gewissermassen entmystifiziert – und trotzdem bleibt eine gewisse Faszination. Das Haus ist eben nicht bloss leblose Logik, ist nicht wie ein Rätsel, das, sobald gelöst, seine Faszination verliert. Pascal Flammer bezeichnet das Haus als «kaputtes» System. Kaputt deswegen, weil es formal nicht eindeutig zugeordnet werden kann und eine Mehrfachlesbarkeit zulässt. Der Entwurf etabliert einen Bezug zur Maison Dom-ino von Le Corbusier mit ihrem Piloti-System. Allerdings ist auffällig, dass die scheinbaren Pfeiler nicht durchlaufen und somit der vertrauten tektonischen Logik eines stützenden Tragwerks widersprechen. Das Gleichgewicht ist fragil, das Haus droht zusammenzustürzen. Stützen fehlen; das Gebäude scheint sich in einem prekären Zustand des Zerfalls zu befinden, oder gar ganz Ruine zu sein.
Pascal Flammer weist darauf hin, das das Haus, obwohl nur aus nackter Struktur bestehend, paradoxerweise kein Gebäude ist, bei dem das Tragwerk formal im Vordergrund steht. Vielmehr wird der Betrachter an einen griechischen Tempel erinnert, da diese Ikonografie im Haus mitschwingt. Man erkennt das Giebelfeld, sieht den umlaufenden Säulenkranz und den als innenliegende Cella lesbaren Treppenkern. Doch auch strukturell gesehen ist das Haus durchaus mit einem Tempel vergleichbar, da auch dessen Zeichenhaftigkeit aus seiner Tragstruktur ableitbar ist. Erst im Lauf der Zeit und durch die Kanonisierung seiner Form wurde daraus vordergründig ein Bild, dessen Analogie aus heutiger Sicht als historisierend empfunden wird.
Ein System – und sei es noch so komplex – ist grundsätzlich entschlüsselbar, wenn man sich nur genügend lange mit ihm auseinandersetzt. Dadurch verliert es jedoch seinen ursprünglichen Reiz und wird zur «kalten Struktur». Architektur hingegen soll emotional binden. Eine reine Struktur kann dies nur vordergründig leisten. Deswegen arbeitet Pascal Flammer bewusst mit dem Moment der Irritation und der Verschleierung, um den Betrachter zu fesseln. Er vergleicht dies mit der Zauberei. Wir erinnern uns, wie wir als kleine Kinder mit gebanntem Blick einem Zauberer zusahen und krampfhaft versuchten, seine Tricks zu verstehen. Wir wollen die Welt begreifen – egal, ob wir nun die Kinder sind, die dem Zaubertrick beiwohnen, oder die Betrachter eines Gebäudes –, und doch können wir gewisse Elemente nicht entschlüsseln, weil unsere normierten Sehgewohnheiten uns das Erkennen des Tricks verunmöglichen. Im Haus mit zwei Treppen steckt dieses Moment der Verschleierung in den auf Zug belasteten Pfosten. Entsprechend der statischen Logik müssten sie viel schlanker sein als die auf Druck belasteten. Weil sie jedoch alle gleich dimensioniert sind, kollabiert die stringente Logik des Systems und eröffnet neue Lesarten.
Raum
Auch wenn in verschiedenen von Pascal Flammers Projekten dem Tragwerk eine zentrale Rolle zukommt, ist dieses doch stets untergeordnet und wird nie zum Selbstzweck. Im Vordergrund steht immer der architektonische Raum. Seine Qualitäten sind im Haus mit zwei Treppen zwar direkt aus dem Tragsystem ableitbar, schaffen aber gleichzeitig ein spezifisches Raumangebot, das eine mögliche Art der Nutzung vorschlägt. Im Erdgeschoss sind die Gebäudeecken freigespielt, wodurch sich das Haus optisch nach aussen öffnet und sowohl die Landschaft als auch den Besucher ins Gebäude hineinzieht. Im ersten Obergeschoss, wo sich die Büros befinden, ist der Raum durch die Eckpfosten klar definiert. Die Wand ist quasi maximal zur Seite geschoben, wodurch ein gerahmter und damit kontrollierter Blick auf die Landschaft definiert wird. Noch einmal anders ist die Raumqualität im obersten Geschoss, wo sich neben einem Büro ein Besprechungsraum und die Bibliothek befinden. Durch die vier diagonal verlaufenden Wände und den Treppenkern im Rücken entstehen vier nach aussen orientierte Raumnischen, die eine gewisse Intimität innerhalb des offenen Systems ermöglichen. Trotz der scheinbaren Einfachheit des Hauses erzeugt die strukturelle Logik des Tragwerks vielschichtige räumliche Qualitäten.
Dieses Pendeln zwischen Einfachheit und Komplexität ist eine Eigenschaft, die Pascal Flammer an den Innenräumen des Architekten Kazuo Shinohara bewundert. Viele der Themen, die ihn beschäftigen, etablieren Bezüge zum Werk des 2006 verstorbenen japanischen Architekten. Eine Referenz, die er offen anspricht, und die er mit anderen Architekten – wie Valerio Olgiati oder Christian Kerez – teilt. Im bislang einzigen von Pascal Flammer realisierten Gebäude, dem Haus in Balsthal, lässt sich der Einfluss Shinoharas gut nachvollziehen: im Einbinden der Tragstruktur als raumbildendes, oft skulptural in Erscheinung tretendes Element oder im unmittelbaren Umgang mit dem Erdboden. Beide Themen finden sich analog im sogenannten Summer space im Tanikawa House (1974): das exponierte Tragwerk und der ebenerdige, durch die Neigung des freigelegten Hangs unterstützte Bezug zur umgebenden Landschaft.1
Konzept
Das Verhältnis zur Landschaft ist ein Thema, das Pascal Flammer in verschiedenen Projekten beschäftigt. Die Auseinandersetzung ist aber vor allem als konzeptionelle, abstrahierte Folie zu verstehen und weniger als kontextuelle Realität. Das ist wiederum beispielhaft am Haus in Balsthal ablesbar. In gewisser Weise ist es der Villa der römischen Antike verwandt. Beides sind Architekturen, die nur von Städtern konzipiert werden konnten. Während die antike Villa zumindest einige wenige landwirtschaftliche Komponenten hatte, ist das Haus in Balsthal jedoch eine radikal urbane Architektur. Das Gebäude partizipiert lediglich an der Landschaft – sie hat keinerlei praktischen Nutzen mehr und ist auf ihre sinnliche Erfahrbarkeit beschränkt. Das entspricht der Vorstellung eines Stadtmenschen, der sich Natur allem voran als Gegenwelt zum urbanen Raum vorstellt. Durchaus ambivalent wird Landschaft dabei zugleich als gefährlich sowie als sinnlich und wohltuend wahrgenommen. Kein Bauer käme auf die Idee, seinen Wohnraum ins Erdreich zu graben, um dadurch Teil der Wiese zu werden. Wie ein Tier in einer Mulde, so Flammer, würden die Bewohner in Baltsthal Zuflucht finden und Geborgenheit verspüren. Eine Intention, die gleichzeitig jedoch durch die bis zum Erdboden reichende Verglasung und das Fehlen eines Sockels konterkariert wird. Jedes vorbeistreifende Tier kann seine Nase an die Scheibe drücken, wodurch der Wohnraum unmittelbar der Umwelt ausgesetzt ist. Er wird damit auf einer körperlichen Ebene Teil der Natur, was eine radikal entgegengesetzte Beziehung zur Landschaft ausdrückt wie sie beispielsweise Ludwig Mies van der Rohe mit dem Farnsworth House (Plano, 1951) artikulierte. Sein auf allen Seiten verglaster Wohnraum scheint über der Wiese zu schweben und ist damit dem Erdboden entrückt.
Der in die Erde gesenkte Wohnraum in Balsthal ist Zentrum des Hauses; ein Ort der Gemeinschaft, an dem sich das tägliche Leben abspielt – sei es nun Kochen und Essen, Spielen oder Arbeiten. Anders das Obergeschoss: Der Blick ins Tal ist durch Fenster gefasst, die Landschaft wird zum gerahmten Bild und damit zum Objekt distanzierter Betrachtung. Pascal Flammer spricht vom Prospekt der Renaissance, wo sich die beherrschte, kultivierte Landschaft durch die Fenster eines Palazzo erschliesst. Die vier Räume des Obergeschosses sind stark auf sich selbst bezogen, was durch ihre unerwartete Vertikalität noch unterstrichen wird. Hier findet man Ruhe und kann sich zurückziehen. Gleichwohl ist auch hier die Gemeinschaft ein räumliches Thema. Es gibt keinen Gang: Die Zimmer sind entlang der Fassade durch Schiebetüren verbunden. Schliesst man sie, werden die zwischen den Zimmern liegenden runden Fenster in zwei Hälften geteilt, wodurch spürbar bleibt, dass alle Räume Teil eines grösseren Ganzen sind.
Strukturell ist das Bauwerk eng dem Entwurf des Hauses mit zwei Treppen verwandt. Auch hier ist es primär das System des Tragwerks, das raumbildend wirkt. Im Obergeschoss teilen Wände entlang zweier Achsen den Grundriss in vier Felder. Um die vier durch diese Schnitte entstehenden Räume effizient zu erschliessen, schiebt der kleinstmögliche Vorraum eine Querwand um Türbreite aus der Gebäudemitte. Die Längswand überspannt die gesamte Gebäudelänge und wirkt damit statisch als riesiger Überzug, der ein stützenfreies Erdgeschoss ermöglicht. Die Aussenwände des Obergeschosses sind als Scheiben ausgebildet und werden – radikal reduziert – über zwei Pfosten, ein Andreaskreuz und einen kleinen, strassenseitig liegenden Kern abgetragen. Um den Anschein eines schwebenden Obergeschosses entstehen zu lassen, sind die vertikalen Elemente aus den Gebäudeecken geschoben, was zugleich eine statische Logik hat. Die gegen die Feldmitte gerückten Auflagepunkte optimieren das Tragverhalten der darüberliegenden Aussenwände. Interessanterweise ist auch bei diesem Gebäude – gleich wie beim Haus mit zwei Treppen – die Struktur zwar ein wesentliches Element des Entwurfs; trotzdem hat man nicht das Gefühl, dass sie die Architektur dominieren würde. Vielmehr wird sie auf gleichsam poetischer Ebene Teil von ihr und unterstützt in ihrer Zeichenhaftigkeit die Raumwirkung. Diese spannungsgeladene Einheit aus Raum und Tragstruktur hat ihre Analogie ebenfalls in Kazuo Shinoharas Werk. In Bauten wie dem Tanikawa House (Naganohara, 1974) oder – noch viel ausgeprägter – im House on a Curved Road (Tokyo, 1969) wird das Tragwerk auf ebenso radikale Art zum Bedeutungsträger im architektonischen Raum.
Komposition
Der dritte Begriff, der Pascal Flammer als Entwurfsmethode interessiert, ist die Komposition;2 ein Begriff, der lang als negativ behaftet aus dem Architekturdiskurs verbannt war. Zu stark war die Verbindung zu der von der Moderne abgelehnten Lehre der École des Beaux-Art. In der jüngeren Vergangenheit scheint der Begriff jedoch wieder vermehrt im Architekturdiskurs auf und wird vor allem von jungen Architekten als mögliche Entwurfsmethode vertreten. Wörtlich übersetzt heisst Komposition «Zusammen-Stellen» – was andeutet, dass sie unterscheidbare Grundelemente voraussetzt, die zueinander in Beziehung gesetzt werden. Neben klassischen Prinzipien der Komposition wie Symmetrie oder Rasterung können auch labilere Ordnungen gesucht werden, die Gegensätzliches zueinander in ein Verhältnis setzen und Kontraste artikulieren. Pascal Flammers Projekte beinhalten beide Kategorien – sowohl die klassische als auch die moderne Ordnung der Symmetrie, die sich als prekärer Zustand des Gleichgewichts beschreiben liesse.
Im Vergleich zum Konzept ist die Komposition weitaus riskanter. Arbeitet man mit einem Konzept, so lassen sich Entscheidungen stets anhand festgelegter Regeln auf ihre Kompatibilität überprüfen. Bei der Komposition gibt es hingegen keine singulären Regeln, sondern mehrere, hierarchielose, die sich während des Entwurfsprozesses in steter Bewegung befinden und sich gegenseitig stimulieren. Der Architekt als Autor übernimmt damit persönlich Verantwortung für den Entwurf, ohne dass er diese auf ein System oder ein Konzept rückverlinken könnte.
Flammers Entwurf für ein Gebäude nahe Quidinish auf der Isle of Harris (2013) lässt sich als Komposition dreier geometrischer Grundformen beschreiben: Kreis, Halbkreis und Rechteck. Bei diesem Projekt handelt es sich um den Vorschlag für ein Haus für einen Geschäftsmann, der sich einen Alterswohnsitz in der rauen Landschaft der Äusseren Hebriden vor der Nordwestküste Schottlands wünscht. Für Pascal Flammer gibt es zwei Konditionen, welche diesen Ort charakterisieren – das Meer und die Steine.3 Entsprechend schlägt er zwei Räume vor: Der eine ist durch einen kreisrunden Grundriss beschrieben und offen; er fasst einen Teil der felsigen Landschaft als grossen Hof und wirkt damit gewissermassen domestizierend. Der andere hat einen halbkreisförmigen Grundriss und ist als Innenraum zum Ozean orientiert. Beide Formen berühren sich tangential. Ihr Berührungspunkt markiert gleichzeitig den Übergang vom einen in den anderen Raum. Ein Übertritt, der auf intellektueller Ebene nicht radikaler sein könnte – ein unvermittelter Wechsel von der gefassten, zentrierten Welt der umfriedeten Landschaft hinaus in den unermesslichen Raum des Ozeans. Als vermittelndes Element hilft einzig das Rechteck, das sich leicht in den Kreis schiebt und damit gewissermassen eine räumliche Schwellensituation artikuliert.
Die gesamte Grundrisskomposition und die Relation der drei Formen ist geometrisch beschreibbar: Das Rechteck liegt mit einer Seite auf dem Radius des Kreises – in einem Abstand, der wiederum durch die Tangentialbeziehung des ihm eingeschriebenen Halbkreises definiert ist. Trotz der Entschlüsselbarkeit des Systems ist die Spannung, die es durch die Inbeziehungssetzung von Gegensatzpaaren provoziert, bereits im Grundriss förmlich spürbar und überführt das Projekt in eine metaphysische Ebene, die nunmehr über das Empfinden und das Gefühl erfahrbar wird.
Zwischen Einfachheit und Komplexität
Wahrscheinlich liegt gerade in der Überlagerung von System, Konzept und Komposition die Faszination, die aus Pascal Flammers Projekten hervorgeht. Verschiedene junge Architekten wie Raphael Zuber, Angela Deuber, Go Hasegawa oder Pezo von Ellrichshausen scheinen diese Interessen und die daraus resultierende Haltung zu teilen. Als Gegenthesen zur Beliebigkeit einer effekthaschenden Architekturproduktion setzen sie auf starke, elementare Geometrien und einfache, präzise Konzepte. Klar strukturierte, als schlüssiges System konzipierte Räume bilden ein solides Grundgerüst, dessen Kraft aus dem Kontrast von scheinbarer Einfachheit und räumlicher Komplexität erwächst. Projekte entstehen, die bei aller Klarheit doch stets von einer mystischen Sinnlichkeit geprägt sind.
Gerade in der Reflexion möglicher Konditionen des Wohnens sind viele ihrer Projekte vergleichbar. Go Hasegawas Wochenendhaus Pilotis in a Forest in Gunma in der Nähe von Tokyo (2010) beispielsweise thematisiert genau wie das Haus in Balsthal – oder vielleicht in noch radikalerer Weise – den exponierten Wohnraum inmitten der Natur. Bei Hasegawa ist der Gemeinschaftsraum nur durch den Betonboden innerhalb des dichten Waldes markiert, eingefasst von minimal schlanken Pilotis, auf denen das eigentliche Haus sitzt. Der Besucher ist der wuchernden Natur ausgesetzt und wähnt sich gleichzeitig doch in einem domestizierten Raum. Darin spiegelt sich ein Verhältnis zur Umwelt, das bereits in der Romantik zentrales Thema der Architektur war. Schon damals wurde die Nähe zur Natur gesucht, allerdings war die Annäherung eine sehr viel distanziertere. Sie wurde aus sicherer Distanz beobachtet und war gefasst durch Architektur oder mittels Infrastruktur bequem erschlossen. Die Menschen der Romantik waren fasziniert vom Erhabenen und Schauerlichen der nebligen Bergwelt, die sie als Kontrastfolie in Form der fantastischen Landschaftsmalerei im Stile Caspar Wolfs in ihre Wohnräume hängten: der Blick in die ungezähmte Natur durch den Prospekt des Bildes. Verglichen hiermit ist der Bezug zur Landschaft im Haus in Balsthal oder im Projekt Hasegawas ein viel direkterer, körperlich spürbarer – und gleichwohl ist auch ihr Naturbezug ein durchaus romantischer. Das Poli Haus (Insel Culiomo, 2005) von Pezo von Ellrishausen beschreibt ebenfalls diesen radikalen Gegensatz zwischen zugleich als schön und bedrohlich wahrgenommener Natur und der ihr entgegengesetzten intimen Welt des Wohnens. Wie eine uralte Ruine – auch ein verbreitetes Motiv der Romantik – steht das Haus auf einer schroff abfallenden Klippe und behauptet sich durch seine massige Körperlichkeit inmitten der gewaltigen Landschaft. In Analogie zur Burg verspricht das Haus Geborgenheit und stellt der Lebensfeindlichkeit der rauen Umgebung eine introvertierte, geschützte Welt entgegen.
Vergleichbar mit den Inhalten der Romantik kann in der Haltung, die sich in den Projekten dieser Architekten spiegelt, eine Abkehr von den klassischen Idealen der Reinheit, der Harmonie und dem Streben nach fester Ordnung gesehen werden. Ihre Themen sind viel stärker durch das Gefühl, das Irrationale und das Unbewusste geprägt. Damit schaffen sie Räume, die ihre Wirkung sehr direkt entfalten und den Betrachter unvermittelt in ihren Bann ziehen. – «It’s magic», wie es Marc Angélil im Anschluss an einen Vortrag von Pascal Flammer auf den Punkt gebracht hat.
Michel Frei ist Architekt. Er hat an der ETH Zürich und der Graduate School of Design der Harvard University Architektur studiert. Von 2010 bis 2011 war er Redaktor der Architekturzeitschrift trans. Derzeit arbeitet er bei Herzog & de Meuron in Basel.
1 Wie in Shinoharas House of Earth war im ursprünglichen Projekt für das Haus in Balsthal zudem noch ein Keller vorgesehen, der sich als ins Erdreich gegrabener Raum vom Haupthaus löste – ein Motiv, das Pascal Flammer im Haus in Ligurien (ab 2009) noch einmal aufgegriffen hat.
2 Vgl. hierzu: Pascal Flammer, «Fingerpainting for Venus», in: trans 26, Lust, ETH Zürich, 2015, S. 147–148.
3 Pascal Flammer, Rocks and Sea. Quidinish Isle of Harris Scotland, online unter: aefoundation.co.uk, Stand: 17.10.2015.
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