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Ortsbildschutz vs. Verdichtung nach Innen?

Für Jahrzehnte war Zürich ein schwarzer Fleck bei der Erfassung schützenswerter Siedlungen in der Schweiz. Seit dem 1. Oktober 2016 ist das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung – ISOS für die Stadt Zürich in Kraft. 75 Prozent der Stadt wurden ins Inventar aufgenommen. Nicht nur die Altstadt sondern auch die Quartiere aus der Gründerzeit oder Siedlungen aus den fünfziger Jahren wurden inventarisiert. Warum wurde die Lücke jetzt geschlossen? Welche Konsequenzen dies für die Stadtentwicklung und -planung von Zürich hat, erklärt Dr. André Odermatt – Geograph, Stadtrat und Vorsteher des Hochbaudepartements im Gespräch mit archithese.

 

Interview: Anne-Dorothée Herbort – 9.01.2017
Foto: Markus Frietsch

 

Anne-Dorothée Herbort: Was ist das ISOS? Was verbirgt sich hinter dieser Abkürzung?

André Odermatt:Der Schutz historisch bedeutender Ortsbilder ist eine Bundesaufgabe, verankert im Natur- und Heimatschutzgesetz von 1966. Der Bundesrat wurde damit verpflichtet ein Bundesinventar zu erstellen und dieses regelmässig zu revidieren. Ganz genau heisst es Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler BedeutungISOS.

 

ADH: Fünfzig Jahre war die Stadt Zürich ein schwarzer Fleck auf der Karte des ISOS. Warum wurde sie gerade jetzt ins Inventar aufgenommen?

AO: Zürich ist wie ein paar andere Gemeinden eine Art Nachzügler und bildet nun den Abschluss. Mit der Aufnahme von Winterthur und wenigen anderen ist nun das Inventar komplett; die letzte Tranche wurde vom Bundesrat am 1. Oktober 2016 in Kraft gesetzt.

 

ADH: Welche Teile, Quartiere oder Objekte der Stadt Zürich wurden ins Inventar aufgenommen?

AO: Es sind nicht bloss «Teile» – «flächendecken» trifft es besser. Es sind in etwa 75 Prozent, also dreiviertel der Stadtfläche: Die Altstadt, alte bäuerliche Dorfkerne, die gründerzeitliche Stadt mit dem Blockrand und die Quartiere mit einer aufgelösten, villenartigen Bebauung. Zudem wurde ein grosser Teil der Siedlungen aus den 1950er-Jahren, wie zum Beispiel die Siedlung Friesenberg praktisch komplett aufgenommen. Auch viele Genossenschaftswohnungen gehören dazu. Nur die Entwicklungen der letzten Jahre, etwa Leutschenbach oder Zürich-West sind nicht inventarisiert worden.

 

ADH: Nach welchen Kriterien wurde inventarisiert?

AO: Primär wurden die Siedlungsstruktur und das Ortsbild begutachtet. Es kann also sein, dass ein Ortsbild als schützenswert eingestuft wird, ohne dass es schützenswerte Einzelobjekte beinhaltet. Die Methodik ist ein System mit verschiedenen Schutzstufen (a, b, c). Ein beachtlicher Teil des Zürcher Stadtgebietes wird mit dem schwächsten Schutzziel «c» eingestuft. Dies lässt Entwicklung zu und so gesehen sind die 75 Prozent schon zu relativieren.

 

ADH: Immer wieder war zu hören, das ISOS sei veraltet und lediglich ein Papiertiger des Bundes.

AO: So kann man das nicht sehen. Es ist über Jahrzehnte entwickelt worden und bildet ein ergänzendes Instrument für eine sorgfältige Weiterentwicklung der Kommunen.

 

ADH: Was bedeutet die Aufnahme der Stadt Zürich ins Inventar der national bedeutenden Ortbsilder der Schweiz nun ganz konkret? Welche Auswirkungen hat es auf die städtebauliche Entwicklung? Welche Konflikte ergeben sich im Zusammenhang mit dem neuen Raumplanungsgesetz? Ist die «Verdichtung nach Innen» in Gefahr, weil die Spielräume nun verschwindend klein geworden sind?

AO: Wir haben zwei Aufträge vom Bund erhalten und befinden uns nun in einem grundsätzlichen Zielkonflikt. Die eine Anweisung lautet: Verdichtung und Entwicklung nach Innen und Stopp der Zersiedelung. Die andere heisst: Erhalt der schützenswerten Ortsbilder. Das beisst sich und das bringt man nicht ohne fachlich abgestützte Kompromisse zusammen.

Es geht künftig darum, diese beiden Ansprüche gegeneinander abzuwägen und so gut wie möglich in Einklang zu bringen. Dazu muss man vor allem die rechtliche Situation beachten. Bei der Ausführung einer Bundesaufgabe ist der Bund verpflichtet das Inventar direkt anzuwenden. Zum Beispiel musste die ETH ihr Bauvorhaben am Hönggerberg durch das Bundesamt für Kultur absegnen lassen. Der Stadtrat muss in diesem Fall keine Interessensabwägung machen.

Für die Stadt Zürich hingegen hat das ISOS bei der Planung lediglich Konzeptcharakter und fliesst in die Interessenabwägung ein. Dabei wägt der Stadtrat das Ziel einer Stadtentwicklung durch «Verdichten nach Innen» gegen das öffentliche Interesse am Erhalt von schützenswerten Ortsbilder nationaler Bedeutung ab. Die zuständige Behörde muss aufzeigen, dass das Bauvorhaben wirklich einen Beitrag an die «innere Verdichtung» leistet und zum Beispiel die Wohnungszahl dadurch deutlich erhöht würde. Oder es wird offen gelegt, dass die Wohnungen in einem Neubau wesentlich günstiger wären als im ISOS-erfassten Gebäude.

Bei der Interessensabwägung, die der Stadtrat immer schon hat vornehmen müssen, kommt nun einfach ISOS noch dazu. Der Stadtrat muss bei der Begründung offenlegen, dass er ISOS bei seinen Überlegungen miteinbezogen hat. Der Siedlungsteil muss als Ganzes betrachtet und baustrukturell begutachtet werden. Die wertvollen Qualitätsmerkmale werden herauskristallisiert, wie zum Beispiel die Durchgrünung oder das Wegsystem. Es muss ein gesamtheitlicher Blick unter der Berücksichtigung des ISOS gepflegt werden. Stadtplanung ist komplex und wird nun noch komplexer.

 

ADH: Die Stadt Zürich hat eigene Inventare, die sie regelmässig erneuert und erweitert. Trotzdem wurde das gesamte Gebiet noch einmal aufgenommen.

AO: Es hat bei uns schon Stirnrunzeln hervorgerufen, dass das ISOS nochmals über alles einen flächendeckenden Schutz legt, obwohl wir eigentlich schon vor dem 1. Oktober eine Güterabwägung aus einer Ortsbildschutzoptik und aus einer Einzelschutzoptik durchgeführt haben. Mit einer fachlich ausgewiesenen Denkmalpflege-Kommission sind wir professionell unterwegs. Sie ist zwar mehrheitlich auf den Objektschutz fokussiert, aber sie wird durch die Bau- und Zonenordnung, also durch Planungsgrundlagen, wie die «Kernzone» für die Altstadt oder die Zone der «alten Dorfkerne» wie in Unteraffoltern oder Schwammendingen oder die «Quartiererhaltungszone» unterstützt. Diese Instrumente entsprechen dem Geist vom ISOS und mit der BZO 2014 sind die Ziele von ISOS auch vom Gemeinderat nochmals gestützt worden.

Wir haben die Zonenordnung und den Einzelobjektschutz zusammengeführt. Es braucht Zeitzeugen, aber man muss ja nicht gleich alles flächendeckend unter Schutz stellen. Die Kriterien der Inventarisierung des ISOS nehmen keine Rücksicht auf die kommunalen oder kantonalen Gesetzgebungen, sondern beurteilen alle Gemeinden mit einem gleichen Raster, damit die Ortsbilder miteinander verglichen werden können. Das kann ich aus wissenschaftlicher Sicht nachvollziehen, auch wenn sich die Welt seit 1966 ziemlich verändert hat.

 

ADH: Sehen Sie aber auch Potenziale des Gesetzes für die Entwicklung von Zürich?

AO: Man kann die neue Inventarisierung des ISOS schon auch als Chance sehen. Ich kann rückblickend auf die Umstrukturierung von Neu-Oerlikon sagen, dass die Stadt von der ursprünglichen Fabrikbebauung mehr hätten erhalten sollen. Die gleiche Diskussion wurde damals auch in Bezug auf Zürich-West geführt. Natürlich kann es sein, dass man zu Gunsten einer Entwicklung einen grossen Teil aus dem Inventar entlässt. Es gibt aber auch die Möglichkeit die Struktur zu übernehmen, so wie wir es bei den Wohnbauten mit Höfen an der Seebahnstrasse machen. Dort wird es auch bei den Ersatzneubauten aufgebrochene Hofränder geben. Wir sehen mitunter in den Typologien einen kulturellen Wert, den man in der Planung durchaus integrieren kann. Das ISOS will ja auch keine Konservierung eines «Standes X» machen. Es handelt sich um eine Momentaufnahme, die eine Entwicklung zulassen muss. Stadtplanung ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Die Anwendung von ISOS erfordert Fachwissen und Weitsicht. Beides haben wir in Zürich.

 

Die Erarbeitung des Bundesinventars der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung ISOS stützt sich auf Artikel 5 des Bundesgesetzes vom 1. Juli 1966 über den Natur- und Heimatschutz. Demnach ist der Bundesrat verpflichtet, nach Anhören der Kantone Inventare von Objekten von nationaler Bedeutung zu erstellen. Das ISOS ist nicht abschliessend. Es ist regelmässig zu überprüfen und zu bereinigen; über die Aufnahme, die Abänderung oder die Streichung von Objekten entscheidet der Bundesrat. Heute umfasst das ISOS 1274 Objekte, in der Regel Dauersiedlungen mit mindestens 10 Hauptbauten, die auf der ersten Ausgabe der Siegfriedkarte vermerkt und auf der Landeskarte mit Ortsbezeichnung versehen sind. Das Bundesinventar erbringt schweizweit vergleichbare Ortsbildaufnahmen und ist mit anderen Inventaren koordinierbar. Als landesweites Ortsbildinventar ist es weltweit einmalig.

 

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