Von der Not zur Tugend
GRAMAZIO & KOHLER: EINFAMILIENHAUS IN RIEDIKON
Weil die lokale Baugesetzgebung Fensterbänder nicht zuliess, wurde ein Haus nahe dem Greifensee mit einer Holzlattenfassade versehen. Der Zuschnitt durch eine CNC-Fräse ermöglichte wellenähnliche Verläufe, welche Blicke definieren und überdies im Inneren für wechselnde atmosphärische Stimmungen sorgen.
Autor: Hubertus Adam
erschienen in archithese 2.2010, Grosser Massstab, S. 22–25.
Riedikon mit ungefähr achthundert Einwohnern ist ein Ortsteil von Uster und liegt nahe der Südspitze des Greifensees. Reste des ehemaligen Dorfes sind durchaus noch zu erkennen, doch eigentlich gilt Uster mit seinen Ortsteilen als Pendlerdestination im Speckgürtel von Zürich und hat durch diesen ökonomischen Druck in baulicher Hinsicht ästhetisch zweifellos nicht gewonnen. Wenn Riedikon nicht an die unter striktem Schutz stehende und namensgebende Riedlandschaft des Sees stiesse, sähe es hier aus wie anderswo.
Am Rande des Dorfkerns, aber in zweiter Reihe und damit begünstigt durch einen unverbaubaren Blick zum Greifensee, bot eine Parzelle das Potenzial zur baulichen Nachverdichtung. Die Platzierung des neuen Volumens entsprach der Lösung einer Gleichung mit mehreren Unbekannten: Da waren zum einen das limitierte Baufeld und der nötige Abstand zu den Nachbargrundstücken; da war zum anderen der Wunsch, den Blick auf den See auch für das schon bestehende Gebäude freizuhalten; und da bestand schliesslich die Notwendigkeit, die Zufahrt so zu dimensionieren, dass damit ein Kehren der Fahrzeuge möglich würde. Ein rechteckiges Volumen, mit seiner westlichen Breitseite zum See hin orientiert, bildete den Ausgangspunkt für den Entwurf von Gramazio & Kohler. Durch zwei Schnitte an der Westseite wurde die Ausgangsform verändert – mit dem einen schufen die Architekten Platz für den Kehrplatz, mit dem anderen bewahrten sie die Sichtbeziehung zum Nachbarhaus. Der aus der Mitte verschobene Punkt, an dem beide Schnittachsen in einem leicht spitzen Winkel aufeinandertreffen, wurde zugleich als Scheitelpunkt des Firstes definiert. Gibt sich das Gebäude auf seiner südlichen Stirnseite wie vorgeschrieben als Satteldachhaus zu erkennen, so erscheint es von Norden her – je nach Blickwinkel – als Gebäude mit Pultdach oder als expressiv sich zuspitzendes Volumen.
Die Idee, die Obergeschosse nicht mittels konventioneller Fenster zu belichten, sondern durch Fensterbänder unterhalb des Dachansatzes, stiess indes bei den lokalen Behörden auf Widerstand – widersinnigerweise werden in der Kernzone von Riedikon stehende Fenster von maximal 1,5 Quadratmetern Fläche zur Norm erklärt. Dies führte zu dem Konzept, das gesamte Haus mit einer Lattenstruktur zu verkleiden, die eher an ein landwirtschaftliches Nutzgebäude denn an ein Einfamilienhaus erinnert – als veiling bezeichnen Gramazio & Kohler ihr Projekt. War die hölzerne Hülle, die aus 315 senkrecht zur Fassade stehenden Latten von 15 Zentimetern Breite und drei Zentimetern Stärke besteht, schon einmal erfunden, so überlegten Gramazio & Kohler, ob man sie nicht mit weiteren sinnvollen Funktionen versehen könne. Mithilfe einer CNC-Fräse wurden die Bretter beidseitig schräg angeschnitten und an genau bestimmten Stellen ausgedünnt. Mit einer Modulation, die wellenartig über die Fassade läuft, wird diese nicht nur lebendig gemacht – überdies konnte auf die Anforderungen des Sonnen- und Blendschutzes reagiert werden. Und schliesslich öffnet oder limitieren die Ausfräsungen Blicke, je nachdem ob diese gewünscht sind oder nicht.
Besonders reizvoll zeigt sich die Konsequenz dieser Strategie im Inneren. Als Tragwerk fungieren zwei schottenartige Wände, welche den zentralen Kern umgreifen. Sie ermöglichen das freie Auskragen der Deckenplatten; die Betonwände des Obergeschosses sind damit von der Dachkonstruktion gelöst. Zu dem massiven Beton tritt das Schwarz des Asphaltbodens, der Einbauten und der Falttüren, die es erlauben, das ringartig aufgebaute Raumkontinuum zu unterbrechen. So tritt zu der filigranen Fassade ein massiver Kern, der von aussen so nicht zu erwarten ist. Er wird konterkariert, aber auch moduliert und akzentuiert durch die Weichheit des Lichts, das durch die vor den Fenstern befindliche Lattenstruktur einfällt. Blickt man direkt auf die Fenster, so treten die staketenähnlichen Bretter kaum in Erscheinung; in der Schrägsicht schliesst sich der Ausblick, obwohl das Licht weiterhin einfällt. Zu einem beinahe kinematografischen Parcours avanciert der Rundgang durch das Obergeschoss: Das an- und absteigende Fensterband, die von der Brüstung zur Wand sich entwickelnden Betonscheiben, die Knicke in der Geometrie lassen einen sich unter dem wechselnden Licht stets wandelnden Raumeindruck entstehen. So wird das Haus zu einer Wahrnehmungsmaschine, zu einer Apparatur der Sensibilisierung. Digitale Technologien, die sonst vielfach formaler Eigengesetzlichkeit folgen, finden hier auf überzeugende Weise mit einem Schweizer Architekturverständnis zusammen: Gewissermassen wirkt das Haus in Riedikon wie eine Liaison von Handwerklichkeit und Hightech. Auch wenn die Hülle Applikation bleibt, also nicht im eigentlichen Sinne durch Notwendigkeit begründet scheint, so ist hier aus der Not eine Tugend geworden – indem dem digitalen Entwurfs- und Fertigungsverfahren ein fast unspektakulärer, aber umso wirksamerer Anwendungsbereich erschlossen wurde.
Architektur: Gramazio & Kohler Architekten, Zürich – Fabio Gramazio, Matthias Kohler; Projektleitung: Raffael Gaus; Mitarbeit: Anya Meyer, Cristian Veranasi, Manuel Bader, Damaris Baumann, Gabriel Cuellar, Peter Heckeroth, Claudia Nasri, Silvan Oesterle; Tragwerksplanung: iberg bauengineering GmbH; Bauplanung: Thomas Melliger.
> Der Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht in archithese 2.2010 Grosser Massstab.