No Matter What
Mit dem Dokumentarfilm The Proof of the Pudding (2022) ist den Regisseuren Patrick Minks, Jaap Veldhoen und Wouter Snip ein naher und aktueller Blick auf den niederländischen Architekten Herman Hertzberger gelungen. Begleitet wird der heute 90-Jährige bei einer ganz persönlichen Bewährungsprobe, nämlich zu beweisen, dass sein architektonisches Lebenswerk und Vorzeigeprojekt des Strukturalismus, das Versicherungsgebäude Centraal Beheer in Appeldorn, auch anderweitig zu Wohnzwecken genutzt werden kann. Die modulare sowie freie Grundrissgestaltung wird auf die Probe gestellt und Hertzberger sucht mit seinem Team nach überzeugenden Lösungen, die derweil heruntergekommene Architektur vor dem Abriss zu retten. Regelmässig werden sie dabei von der Realität eingeholt, die den damaligen Zeitgeist herauszufordern scheint.
Text: Nele Rickmann, 09. Mai 2023
Centraal Beheer (1972) ist aus keinem Lehrbuch des Architekturstudiums wegzudenken. Fasziniert von der Ambivalenz gleichbleibender struktureller Wiederholungen und dennoch individueller Gestaltung sowie sozialer Strategie scheint die frühe Architektur Herman Hertzbergers aktueller denn je. Die damalige Verbindung zu Aldo van Eyck, der wiederum mit seinem Waisenhaus in Amsterdam (1960) den Startschuss für den niederländischen Strukturalismus gab, und die gemeinsame Arbeit an der Zeitschrift Forum prägten den jungen Architekten und machten ihn zu einem der bekanntesten Vertreter der Strömung.
The Proof of the Pudding (zu deutsch sinngemäss «Probieren geht über Studieren») zeigt die Zwickmühle, in der die für Kenner*innen so gefeierte Architektur gegenwärtig steckt. Centraal Beheer ist dabei kein Einzelfall – das Altersheim De Drie Hoven in Amsterdam, ebenfalls ein Vorzeigeprojekt von Hertzbergers in die Tat umgesetzten Theorien, bereits abgerissen. Das Gebäude in Appeldoorn hingegen verfällt langsam. Seit 2013 steht es leer, derweil ist der Boden von undichten Dächern feucht, Fensterscheiben wurden eingeschlagen und die Diskussion über das Entsorgen von Asbest macht auch hier nicht halt. Seit Jahren verortet sich die Architektur an der Grenze von Abriss und der Ernennung zum Nationalen Monument.
Damit Centraal Beheer nicht das gleiche Schicksal ereilt wie De Drie Hoven, kämpft Herman Hertzberger mit seinem Büro AHH Architekten und Laurens Jan ten Kate, der seit über 30 Jahren als Büropartner an seiner Seite steht, einen unerbitterlichen, langwierigen und zähen Kampf. Der Dokumentarfilm zeigt Hertzberger im Büro sowie privat in seiner Wohnung und im Ferienhaus in Norditalien nahe der französischen Grenze. Die Symbiose von Leben und Arbeit wird hier deutlich; auch abends im Dunkeln sitzt der 90-jährige Architekt am Schreibtisch in seiner Wohnung, macht Skizzen und blättert in alten Fotografien, die ihm seit je eine der wichtigsten Inspirationsquellen sind. Die Dokumentation spielt mit aktuellen Momenten, die Hertzberger als Zeitzeugen leben lassen, sowie mit Rückblicken, in denen er unter anderem Journalisten stolz durch das damals gerade eröffnete Centraal Beheer führt.
Ebenfalls eindrücklich – und im bereits erwähnten Kontext durchaus paradox – sind Interviews, die mit ehemaligen und von der Architektur begeisterten Versicherungsangestellten geführt wurden: Wenn man sie fragen würde, sie wäre die erste, die sich hier eine Wohnung nehmen würde, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin. Centraal Beheer mag gelungen sein, da der vor allem für Hertzberger so wichtige Aspekt der sozialen Komponente hier erfüllt scheint. Warum also hält sich die Diskussion von Abriss oder Umbau über ein ganzes Jahrzehnt?
Grund hierfür sind Fragen der Effizienz, der Nachhaltigkeit und der Finanzierung, was auch Hertzberger zu spüren bekommt: «Reality is a little more stubborn.» Fakt ist, und das wird auch in The Proof of the Pudding deutlich, der Investor Certitudo Capital, der 2015 Centraal Beheer kaufte, scheint sich zwar um die ausgearbeiteten Ansätze Hertzbergers zu bemühen, lässt sich aber nicht ganz überzeugen und holt 2021 Winy Maas von MVRDV als «gegenwärtigen Zeitgeist» mit an Bord. Dieser arbeitet an Umbaustrategien für Centraal Beheer und hält regelmässig Rücksprache mit AHH Architekten. Wie viel von dem eigentlichen Gebäude und der zugrunde liegenden Idee hinter den Verkaufsparolen von grüner Landschaft und 650 bis 800 neuen Wohnungen übrigbleibt, ist noch unklar. Fest steht allerdings, dass das Versicherungsgebäude im Unterschied zu seinen Nachbarbauten – den vier Bürotürmen und dem Atriumhaus, ebenfalls von Hertzberger – nicht abgerissen wird.
MVRDV verantwortete mit Winy Maas als «founder in charge» bereits den Umbau des Bürokomplexes Tripolis Park von Aldo van Eyck in Amsterdam. Mit übergrosser Geste wurde hier in direkter Umgebung des berühmten Waisenhauses interveniert und das ursprüngliche Tripolis-Ensemble mit einem gigantischen Volumen ergänzt, das teilweise über der alten Struktur sitzt und diese miteinschliesst. Die Problematik, wie man architektonische Ikonen in die Zukunft fortführt, wirft wiederum die Frage auf, ob es gegenwärtige Ikonen braucht, die mit Bigness noch Einen draufsetzen. Das kann gelingen, muss aber nicht. Wie Centraal Beheer und die der Architektur zugrunde liegenden Ideen in struktureller sowie sozialer Form in die Zukunft geführt werden, bleibt abzuwarten. Offen, aber hoffnungsvoll, endet The Proof of the Pudding mit einer Szene, die Hertzberger nach einer gemeinsamen Projektbesprechung mit Laurens Jan ten Kate und Winy Maas zeigt: «No matter what, I still want the ideas that are intrinsic to it, I want them to re-emerge again.»
> Anlässlich einer Herman Hertzberger gewidmeten Ausgabe wird sich archithese unter anderem dem Thema des Abrisses und der Um- und Weiternutzung seiner ikonischen Bauten mit besonderem Blick widmen. archithese 3.2023 Herman Hertzberger erscheint am 1. September 2023.