Nicht wissende User – ahnungslos Beteiligte
Digitale Welten und die
(Selbst-)Wahrnehmung der Architektur
Science-Fiction-Story oder leicht konsumierbare Popkultur, esoterische Heilsversprechung oder virtueller Staat? Digitale Welten verwischen die Grenzen zwischen Naturwissenschaften, Computertechnologie und Architektur zugunsten eines totalen, imaginären Erlebnisses. Verträumte Faszination und handfeste Verwirrungen sind die Folge. Vir tuelle Welten können aber auch als subversive Alternativen zur Realität fungieren oder als Anlass dienen, alltägliche räumliche Abläufe neu zu denken. Und nicht zuletzt stellt sich angesichts ihrer pluridisziplinären Herkunft die Frage, was als Architektur verstanden wird und was es für die Disziplin bedeutet, wenn bei der Entwicklung dieser Definition der Kreis der Beteiligten erweitert wird.
Autor: Peter Mörtenböck – erschienen in archithese 4.2002 Neue Medien, S. 8–13.
Utopische Entwürfe von Gebäuden, Städten und ganzen Weltmodellen entstehen auf dem Bildschirm und ziehen die Fachöffentlichkeit in Bann. Noch besteht eine gewisse Faszination angesichts der neuen Architekturformen, die sich mit fortgeschrittener Computersoftware, Visualisierungs- und Animationsprogrammen herstellen lassen. Dabei hat digitale Architektur den Computer längst verlassen und ist zu einem Markenzeichen für eine breite Produktpalette geworden, die vom seriösen Baufachhandel bis zum billigen Dekomaterial reicht.
Diese neuartigen Formen von Architektur und die Wege ihrer Produktion werfen aber immer mehr Fragen auf, die über die ursprüngliche Problematik der Übersetzung vom Virtuellen ins Reale weit hinausgehen: etwa die Frage nach den kulturellen Ausgangspunkten und Zielsetzungen beim Einsatz digitaler Medien in der Architektur.
Mein Interesse gilt hier vor allem der Art, wie verschiedene solcher Projekte aus den Bahnen der Aktivitäten, über die Architekturproduktion kategorisiert werden kann, ausbrechen – und damit Effekte erzielen, die weitaus grösser und umfassender sind als jene, die das ausgehandelte Aktionsfeld der Architektur heute entstehen lässt. Die Planung neuartiger Objekte könnte eine Veränderung in sozialen und materiellen Gegebenheiten induzieren. Besonders wichtig erscheinen mir indessen Ansätze, bei denen die Veränderung darin besteht, neue architektonische Strategien in der Distribution von konzeptuellen Möglichkeiten zu sehen; auf diese Weise können architektonische Kompetenzen neu verteilt und ein Bewusstsein für selbst produzierte Veränderungen entwickelt werden.
Esoterische High Tech
Gut sichtbare Zeichen für die Aktivität an der Schnittstelle von Lebenswissenschaften und Technik sind popkulturelle Phänomene wie Sonys Roboterhund AIBO und Filme wie eXis - tenZ oder Matrix, die dazu neu geschaffene Bühnen bespielen. Mit ihren neuen Möglichkeiten im Digitalen mischt auch Architektur hier mit.
Ein besonders anschaulicher Fall ist das digitale Architekturprojekt E-Area, das seit einigen Jahren an verschiedenen Orten zirkuliert. Wenngleich das konkrete Projekt nicht unter der Prominenz von digitaler Architektur zu finden ist und auch nicht stellvertretend für eine solche zu Unrecht auf ein Kollektiv verkürzte Richtung stehen soll, möchte ich es dennoch hier herausgreifen: Sein formaler Gestus und die Aussagen, über die es sich mitteilt, können eine Grundlage bieten, um zu verstehen, mit welcher Komplexität, in wessen Interesse und unter welchen metaphorischen Verstrickungen sich der Zusammenschluss von Naturwissenschaften, Computertechnologie und Architektur zunehmend zu einem Schauspiel verdichtet, das totales Erleben als eine Art von Befreiung auszuweisen imstande ist.
E-Area ist das Projekt eines tschechischen Architektur- und Designzentrums in Prag, das mit aktuellster Technologie die Welt neu erfassbar machen soll. Das E im Projektnamen stehe nach eigenen Angaben nicht nur für Elektronik, sondern zugleich auch für Encephalus, für Ego, für Empathie, für Europa, für die ganze Erde und für Evolution. Die Bedeutung von E-Area sei keine geringere als die, einen weiteren Schritt in der Evolution des Homo sapiens zu markieren.1
Dazu entwickelt das Projekt Zielvorstellungen, in denen sich eine Fülle populärer Erzählungen zwischen New Age, Science-Fiction und Cyber-Euphorie widerspiegeln: Es soll als eine Vielfalt von Formen auftreten können, die sich auf Geist und Emotion gleichermassen beziehen würden. Es soll ein Verstärker der menschlichen Sinne sein, der das Sichtbare mit dem Unsichtbaren zusammenbringt, das Unhörbare mit dem Hörbaren und das Unerfahrbare mit dem Erfahrbaren. Mensch, Universum und Natur würden zusammengeführt werden, indem E-Area durch eine «gewaltfreie» und «ökologische » Expansion des Menschen die virtuelle Dimension erschliesst.
Diese angestrebte Expansion findet in den Vorstellungen des Projekts mittels intelligenter Technologie statt, die das Gebäude Aufzeichnungen über seine individuellen Nutzer führen lässt. Es merkt sich den kulturellen Hintergrund, die Berufsinteressen, die Strategien des Wissenserwerbs und das Teilnahmeverhalten jedes Einzelnen, um eine Personalisierung seiner Kommunikation mit ihm durchführen zu können. An Details wird angestrebt, jeden Besucher mit einem in Stimme, Aussehen und Denken kompletten alter ego festzuhalten. Diese Personalisierung könne verwendet werden, um einen virtuellen Spiegel unseres Selbst zu erstellen. Aus der Information, die das System über uns hat, wäre es in der Lage, ein Doppel von uns zu materialisieren. Wir könnten mit diesem Doppel unseren Körper verlassen, um uns selbst über das Auge eines anderen anzusehen, um uns zu analysieren und besser zu verstehen. Dieser Schritt, der im utopischen Projekt als «Dezentrierung» bezeichnet wird, würde eine Rückkehr zur Einsicht in die Natur und in die Gesetze des Universums bringen. Der Erde und dem Leben generell wäre dadurch der dringend nötige Respekt erwiesen.
Virtuelle Evolution
In anderen Worten soll der Entwurf eine bindende, schützende Hülle sein, in der sich Bereiche zueinander bewegen, während sich das ganze Konstrukt immer mehr auseinander bewegt und expandiert. Wir können das im Grunde auch als ein klassisches Modell der Ausbreitung territorialer Ordnungsmacht verstehen: Der menschliche Körper stülpt sich in miteinander konvergierende Bereiche hinein und fliesst in den Bahnen eines Beobachtens, Aufzeichnens und Kontrollierens über die Architektur nach aussen. Er wird zu einer Evolutionsmaschine naturalisiert und neutralisiert, die neue Ideen und neue Schönheit hervorbringen soll. Damit propagiert E-Area seine Architektur als Eroberungs- und Überlebens instrument und zugleich als weiteres Glied in der Kette der natürlichen Evolution – alles neue Leben entspringt scheinbar (wie man aus der Projektdarstellung vermuten könnte) der High-Tech-Punkthalterung.
In der weitläufigen Komplexität solcher Projekte ist der institutionelle Rahmen, in dem ihre Wirksamkeit einsetzt, ein interessanter Aspekt. E-Area fügt sich über einen Auftritt im renommierten Royal Institute of British Architects in London (1999) in den Kontext eines autorisierten Architekturdiskurses ein, nicht ohne auch gleichzeitig eine abenteuerliche Science-Fiction-Story zu sein oder ein Stück leicht konsumierbarer Popkultur. Es ist auf vielen Ebenen vertreten, die das Projekt aus der Territorialisierung von Bedeutung freispielen. Diese besondere Vielschichtigkeit lässt das Projekt in jedem Segment seines Auftritts getrennt von klaren Kausalitäten und Bedeutungsmustern zur Geltung kommen, ohne im Einzelnen wirklich fest verankert sein zu müssen. Verankert ist es jedenfalls im modernen Mythos der Herrschaft über die natürliche Welt, wie wir ihn in einem bei Hegel zu findenden Bestreben abgebildet sehen, uneingeschränkt in der Welt zu Hause zu sein, völlig mit sich selbst übereinstimmend und eins mit der Welt – «ich bin meine Welt durch die Beherrschung der geschaffenen Technologien und durch die Kontrolle meines Körpers». Dieser Sinn von Modernität besteht darin, absolut zu Hause zu sein und dazu vor allem bei sich selbst anzusetzen.
Das weitgehend körperlos gewordene moderne Subjekt glaubt an seine Fähigkeit, sowohl die Maschinen, die es erschafft, als auch das Tier, das es ist, dominieren zu können. Es versucht, seine Animalität gleichzeitig mit seiner Technizität zu überwinden. Wir erschaffen so mit Architektur das Tier als ein technisches Gerät neu, um uns der Stabilität unseres Daseins zu versichern: Funktionelle Dinge wie Bewegungsmelder, Überwachungskameras und intelligente Wände waren nur die Vorstufe zu einer anvisierten Ausstattung von Gebäuden mit emotionalen Facetten, die der Rhetorik ihrer Architekten nach (stellvertretend für uns) lachen, schwitzen oder leiden können sollen, die wir als Bedienstete betrachten, deren neue Funktion es ist, mit einem Stück Eigenleben ausgestattet zu sein. Diese monströsen Formen der Architektur retten uns, einem Fetisch gleich, vor dem Horror unserer eigenen Zerbrechlichkeit. Wir wissen zwar, dass die am Computer generierten artifiziellen Räume Leben nicht beinhalten können; Architektur baut aber über den Prozess der Auslagerungen des Lebens aus dem eigenen menschlichen Körper eine geheime, monströse Beziehung zum Leben auf.
Architektur ohne Materie
Der Kybernetiker Norbert Wiener hat bereits 1954 dazu formuliert, dass der Begriff des Organismus eine Opposition zu Chaos, Auflösung und Tod darstellen könne, wenn er als Botschaft und nicht als Materie verstanden werde. Zugleich besteht aber eine anhaltende Faszination am Umstand, dass sich Architektur gerade über ihre Materialität dem Verfall widersetzen kann. Wir befinden uns offenbar diesbezüglich nun an einem wichtigen Wendepunkt: Wenn sich Architektur künftig – mit Hilfe von Informationstechnologie – nicht mehr in Übereinstimmung mit sich selbst verhalten, sondern ständig ändern wird, dann wird es nicht mehr zum Rückblick auf einen auf Dauer bewahrten Körper kommen können.
In der am Computer stattfindenden Neuschreibung der Disziplin muss sich somit Architektur einem als Botschaft und Information gedachten Organischen angleichen. Sie muss an sich – und nicht über ihr Material – leben können. Um das zu tun und um die Faszination am Leben stiftenden Potenzial der Architektur aufrechtzuerhalten, bräuchte es aber ein geradezu antithetisches Verhältnis von entworfener Form und organischem Körper. Dies zu behaupten, würde jedoch die bereits problematische Opposition von Individuum und dem, dessen Realisierung das Individuum ist (von Subjekt und Leben), nur weiter vertiefen. In dieser widersprüchlichen Situation sieht sich das Projekt einer digitalen Architektur also heute gefangen.
Mit dieser Grundproblematik verbunden ist der Gebrauch spezifischer epistemologischer Ansätze, die auf tradierten Erkenntnismodellen aufbauen und mittels neuer Technologien altes Wissen neu produzieren – anstatt den komplexen Wandel digitaler Kultur als eine Chance zu begreifen, neues Wissen zu produzieren, beziehungsweise das, was wir als Wissen verstehen, einer neuen Betrachtung zu unterziehen und der Vielfalt an Akteuren innerhalb der Wissensproduktion gerecht zu werden. Dies wird beispielsweise im häufig gebrauchten Versprechen deutlich, die digitale Produktion von Architektur würde uns das Betreten von Räumen ermöglichen, die zuvor unbetretbar waren. Ich möchte hierzu einen Vergleich einbringen, den Rebecca Solnit in ihrem aktuellen Buch Wanderlust verwendet, um zunächst zu argumentieren, dass die Tür zu diesen anderen Räumen nie geschlossen war. Im Weiteren aber möchte ich damit einen weitaus wichtigeren Punkt ansprechen, nämlich den, dass die Rhetorik digitaler Architektur, die auf das Öffnen dieser Tür fokussiert, ein Formulieren vieler Anliegen zurückhält, die ich für eine Weiterentwicklung digitaler Kultur für relevant halte.
Ausgetretene Pfade
Rebecca Solnit betrachtet in einem Kapitel über das Begehen des Symbolbereichs das religiöse Pilgern als eine besondere Form des Gehens, in der die Pilgernden entlang der Stationen des Kreuzwegs zwar nicht in Jerusalem selbst Einzug finden, sich aber über den Akt der rituellen Wiederholung und Imitation in die zentrale Geschichte der Christenheit hinein bewegen. Denselben Weg zu gehen, im selben Raum, entlang derselben Bilder, wird zum Mittel, dieselbe Person zu werden und die gleichen Gedanken zu denken.2 Das möglichst genaue Einnehmen derselben Handlung und Rolle wird in der Pilgerfahrt zur Kondition für die Erfahrung der Gläubigen. Das Öffnen der Tür zur anderen Welt verlangt dabei nach einer imitierenden Anpassung an die Rahmenerzählung, nach dem rituellen Eindringen in die altbekannte Erzählung, die ihr als eine immer wiederkehrende Routine zugrunde liegt.
Wenn digitale Architekturen lediglich wiederholen, was an Erzählungen vorliegt, verbleiben sie innerhalb der tradierten, von schöpferischem Geist einerseits und eingeplanten Bewohnern andererseits geprägten Vorstellungen von Architekturproduktion und übersehen, dass digitale Kultur in anderen Lebensbereichen bereits ein vielfaches Begehen neuer Wege formt, die zu neuen, vielstimmigen und vernetzten Erzählungen führen. So besteht ein wichtiger Wandel, den digitale Technologien heute in jedem Segment unseres Alltags vermitteln, gerade im erlebten Brüchigwerden der gewohnten Realität, in einem erhöhten Bewusstsein, dass wir nicht nur in der Lage sind, gemachte Rollen einzunehmen, sondern die Rollen selbst zu gestalten; und des Weiteren darin, Wissen und Strategien zu entwickeln, wie Realität als offene Quelle in Gebrauch genommen werden kann, wo Rollen ständig neu produziert und narrativiert werden. Unter diesen Umständen ist ein Begehen alter Wege wenig produktiv. Sie enthalten nicht die wichtigen Begriffe des Unvorhersehbaren und Unkalkulierbaren, die unserem Leben Sinn und Wert geben. Rebecca Solnit beschreibt dazu die Werbung einer Enzyklopädie auf CD-ROM, die mit dem Slogan operiert: «You used to walk across town in the pouring rain to use our encyclopedias. We’re pretty confident that we can get your kid to click and drag.»
Nach Rebecca Solnit ist es aber weniger die neuartige Enzyklopädie (ein ins Digitale übernommenes und bekanntes Instrumentarium) als das negativ bewertete «Gehen im Regen », das einen Gewinn an neuer Erfahrung darstellen könnte:3 Dieses Gehen enthält eine Auseinandersetzung mit den unvorhersehbaren Vorfällen zwischen offiziellen Ereignissen, dem Performativen und Ungeschriebenen, das ohne fertiges Protokoll und ohne institutionellen oder sonstigen Rahmen stattfindet. In diesem Sinn sind es weniger die Wissensformen und Archive, an denen wir ständig bewusst arbeiten, die für einen Zugewinn in unserer Erfahrung von Bedeutung sind, als die vielen unbeabsichtigten, nebensächlichen, widersprüchlichen und verdrängten Ereignisse, die Anlass zur Restrukturierung unserer Erfahrungs- und Vorstellungswelten bieten können.
Der Einbruch der Realität
Interessant ist hierzu ein Geschehen rund um die digitalen Welten von ActiveWorlds,4 einem Betreiber, dessen Produkt AlphaWorld – ein als Metropole entwickelter virtueller Landstrich in der Grösse Kaliforniens – eine der derzeit grössten virtuellen Welten im Internet darstellt. Die Architektur dieser Welt ist weitgehend unreguliert im Selbstbau durch die «Bewohner » von AlphaWorld zustande gekommen und wächst ständig weiter.5 Das Centre for Advanced Spatial Analysis (CASA) am University College London hat 1998 diesen virtuellen Raum als Forschungsgegenstand genommen, um das Wachstum von vernetzten virtuellen Räumen genau aufzuzeichnen und zu studieren.6 Bei diesem Versuch, eine eigene virtuelle Modellwelt zu entwickeln, wurde der Server, den CASA dem Experiment zur Verfügung gestellt hatte, gegen die Intention der Forscher von «Saboteuren» und «Vandalen» so weit blockiert, dass keine geordnete virtuelle Bautätigkeit mehr stattfinden konnte. Deshalb entschieden sich die Verantwortlichen, den Überschuss an unbeabsichtigtem Material wieder zu entfernen, um das von ihnen anvisierte Phänomen weiter nach den gewohnten Richtlinien beobachten zu können.7 Der Server wurde einfach freigeräumt, anstatt den ungeplanten Zwischenfall als einen entscheidenden Parameter zu begreifen, der als Wirklichkeit in das sorgsam geplante Top-down-Artefakt eindringt und uns zu einem Nachdenken über das Verhältnis virtueller Welten zu unseren realen Wünschen, die wir in Bezug auf Orte, Räume und Geografien entwickeln, anregen könnte.
In diesem Zusammenhang sorgte im März dieses Jahres der Aufnahmeantrag von mehr als 3000 Pakistani in einem virtuellen Staat für Aufsehen: Sie hatten im Internet um Staatsbürgerschaft in Ladonia angesucht, ohne zu wissen, dass es sich bei Ladonia um einen imaginären Staat handelt:8 Gründer von Ladonia ist der schwedische Künstler Lars Vilks, dem die Behörden aufgetragen hatten, ein im öffentlichen Raum unbewilligt errichtetes Kunstwerk wieder zu entfernen. Um der staatlichen Kontrolle die Stirn zu bieten, rief er 1996 seinen eigenen Staat rund um das Kunstwerk aus. Seither existiert Ladonia nicht nur als selbst ernanntes staatliches Territorium von etwa einem Quadratkilometer Grösse, sondern auch im Internet als Adresse, auf der Staatsbürgerschaften angeboten werden – nach dem Vorfall im März 2002, der das virtuelle Territorium plötzlich mit den Dynamiken realer Politik, mit der angestrebten Migration von tausenden Menschen und mit anderen staatlichen System konfrontierte, allerdings mit dem Hinweis, dass Ladonia weder Arbeit noch Wohnsitz anbieten kann.9
Neue Systeme statt neuer Formen
Ein solches Unternehmen, eine parallele Welt inmitten der aktuellen Konditionen staatlicher Regulative (und dabei im Widerspruch zu ihnen) auf künstlerischer Ebene zu realisieren, findet sich nun auch in einigen verstreuten Ansätzen im Architekturbereich, in denen es darum geht, Formen sozialer Kohäsion und räumlicher Produktivität über das Schaffen von parallelen Lebenswelten – in virtuellen und in materiellen Dimensionen – neu zu denken, darunter das dänische Kollektiv N55 oder das Atelier van Lieshout (AVL). Es handelt sich dabei um Kunst- und Architekturteams, die neue Medien weniger zu einem Gewinn neuer Ästhetiken und Formensprachen benutzen als in ihrer Arbeit vielmehr den Aspekt der Distribution von räumlicher Produktion hervorheben, um den Prozess der Erzeugung räumlicher Realitäten auf die vorhandene Vielfalt von sozialen und kulturellen Gruppierungen auszuweiten. Digitale Medien werden in diesen Ansätzen zur Produktion von Architektur nicht dazu gebraucht, elitäre Formmodelle zu generieren, bei denen Partizipation im Zuliefern von spezialisierten Humanressourcens besteht, sondern um kulturelle Praktiken zu fördern, mit denen neue und umfassendere Systeme von Kollektivität, Kooperation und Selbstbestimmung entwickelt werden können.
N55 haben von ihrem selbst gebauten Spaceframe im Kopenhagener Hafen aus mit einem Hinterfragen der uns geläufigen Alltagskonventionen begonnen, um neue «Raummodule » zu entwickeln, die sich für unterschiedliche Alltagsbereiche verwenden lassen: Module für Hygieneeinrichtungen, Schlafstätten, Land, Arbeit usw. Zu diesen Modulen gibt es genaue Bauanleitungen, die fortlaufend ergänzt und im Internet allen Interessierten zum Nachbauen frei zur Verfügung gestellt werden. Auch AVL beschäftigt sich in seinem Projekt AVL-Ville (2001) mit diesen grundlegenden Konditionen, konzentriert aber seine Aktivitäten auf ein festes Territorium im Rotterdamer Hafengelände, wo der Stadtstaat AVL-Ville errichtet wurde. Neben eigener Währung und eigenem Wirtschaftssystem umfasst dieser Staat die bekannten Arbeiten des AVL-Kollektivs, vom Wohnmobil bis zu Produktionsstätten für Waffen, Alkohol und Medikamente, sowie ein ständig weiterentwickeltes Repertoire an neuen Einrichtungen, die das Leben für die Mitglieder des Kollektivs und für die Öffentlichkeit bereichern sollen.
Architektur, neu definiert?
Ein derartiges Neudenken alltäglicher räumlicher Abläufe mag wie eine Antwort auf die im Kunst- und Architektur - betrieb vorhandene Überspezialisierung, Selbstbezogenheit, Ironie und Theorielastigkeit erscheinen. Dies bloss als Gegenposition zu anderen aktuellen Architekturströmungen zu verstehen, die sich neuer Medien bedienen, würde aber am entscheidenden Punkt vorbeiführen, an dem ein solcher Versuch ansetzt – am Hinterfragen der Konditionen, die bestimmen, was wir als Architektur verstehen und wen wir in der Entwicklung dieses Verständnisses als Beteiligte akzeptieren.
Wohin bewegt sich Architektur, wenn ihr mit der Proli - feration neuer Medien ein Publikum gegenübersteht, das zweierlei Konventionen nicht erfüllt – zum einen die Bereitschaft, sich in die angebotene Konsumentenrolle einzufügen, und zum anderen die Konvention der Kennerschaft, von der Architektur historisch belastet ist? Der virtuelle Staat Ladonia, der Stadtstaat AVL-Ville und die im Internet zirkulierenden Bauanleitungen von N55 erproben dies in unterschiedlicher Weise. Sie zeigen, wie es sein kann, wenn Architektur die widersprüchliche Realität virtueller Welten dazu benutzt, über den engen Kreis ihrer Produktionsabläufe hinauszutreten und ausserhalb stehend, jenseits der Kategorien, über die Architektur traditionell gedacht wird, in einem ganz anderen Ausmass und mit einer ganz anderen Resonanz auf ein uneingeweihtes Publikum trifft. Dieses uneingeweihte Publikum und sein Unwissen in Bezug auf die institutionalisierten Gebräuche, Traditionen, Typologien, Sprachen, Darstellungsformen und hinsichtlich all dem, was zum guten Geschmack in der Architektur zählt, sind aufgrund des neu entstandenen Selbstverständnisses innerhalb digitaler Kultur zu einem wichtigen Parameter im Neudenken von Architektur geworden.
Betrachten wir Architektur als ein dynamisches Archiv mit Ablagerungen vieler verschiedener Wissensstränge, dann erscheint es illusionär, dass die skizzierte neue Begegnung und ihr noch weitgehend unklares Potenzial unser bisheriges Wissen um Architektur einfach nur ergänzen würde, ohne dabei die Ordnung des Archivs mit zum Thema zu haben. Ein Indiz dafür ist die eingekehrte Bewegung im stattfindenden Cross - over vieler Bereiche im Feld der Architektur, von der Biologie und Gentechnik über neue Kunstformen hin zur sozialen Intervention und erweiterten Lebenspraxis. Die Mode der biologistischen Modelle digitaler Architektur zum Ende des vergangenen Jahrhunderts schien – über ein Naturalisieren und Neutralisieren historischer Prozesse – einen geradezu romantischen Ausweg aus der ungelösten Problematik der sozialen und kulturellen Verantwortlichkeit von Architektur zu bieten. Am Ende dieser Modelle tauchen nun erste Strategien auf, mit denen nicht nur über das Verhältnis digitaler Medien zur Architektur neu nachgedacht wird, sondern die traditionelle Perspektive von Architektur, ihr klar definiertes Verhältnis von Klienten und Produzenten und ihre Trennung von Fiktivem und Realem, Entwurf und Bauwerk ihrer Rollen enthoben werden.
Peter Mörtenböck ist Architekt und Theoretiker, Professor für Kulturgeschichte an der Technischen Universität Wien; zahlreiche Gastprofessuren, u. a. Kunstuniversität Linz, Goldsmiths College, University of London.
1 http://www.E-Area.cz und Plakat zur Ausstellung E-Area im Londoner Royal Institute of British Architects (RIBA), 1999.
2 Rebecca Solnit, Wanderlust: A History of Walking, London und New York 2001, S. 68f.
3 a. a.O., S. 10.
4 http://www.activeworlds.com
5 vgl. Peter Mörtenböck, Die virtuelle Dimension: Architektur, Subjektivität und Cyber space, Wien 2001, S. 69f.
6 http://www.casa.ucl.ac.uk/30days
7 Andrew Smith, «30 Days in Active Worlds», Beitrag zur Konferenz Cities at the Millen nium, RIBA London, Dezember 1998.
8 BBC News Online titelte am 11. März 2002: «Pakistanis’ ‹new life› in imaginary country» (http://news.bbc.co.uk), The Times of India: «People flock to seek citizenship in Internet country» (http://timesofindia.indiatimes. com/).
9 http://www.vilks.net/ bzw. http://www.aim.se/ladonia
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese 4.2002 Neue Medien.