Neue Heimat Revisited
Der gemeinnützige Konzern Neue Heimat aus Westdeutschland war einst das grösste Wohnungsbauunternehmen der Welt – bis ein Skandal Mitte der 1980er-Jahre der Erfolgsgeschichte ein Ende setzte. Gleich vier Publikationen schauen aktuell auf diese Geschichte zurück. Die Intentionen der Autoren sind dabei vielfältig: Sie wollen aufarbeiten, positive Aspekte wieder (-entdecken) oder schlicht Wissen vermitteln. Denn die Bauten der Neuen Heimat sind zahlreich und im aktuellen Kontext von Nachverdichtung und energetischer Ertüchtigung, sollte ein angemesserner Umgang mit damit gefunden werden.
Text: Julian Bruns – 9.4.2019
Zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren baute die Neue Heimat (NH) über 450 000 Wohnungen in Westdeutschland und der ganzen Welt. Zuerst ging es um den Wiederaufbau nach dem Krieg, dann um die Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung in den Jahren des Wirtschaftswunders. Als der Wohnungsmarkt allmählich gesättigt war, kamen Quartierzentren, Konzerthallen, Gemeindehäuser, Kliniken, Kommunal- und Gewerbehäuser hinzu. Um die profitorientierten von den gemeinnützigen Tätigkeiten zu trennen, wurde 1969 die Neue Heimat Städtebau gegründet. Ein internationaler Ableger für Projekte auf der ganzen Welt folgte kurz danach. Später stieg die NH auch in das Geschäft der Altstadtsanierungen ein. 1982 nahm die Erfolgsgeschichte aber ein jähes Ende: Ein Spiegel-Bericht deckte Veruntreuungen einiger Vorstandsmitglieder in Millionenhöhe auf. Diese hatten sich persönlich an den Mietern bereichert. Im Zuge der Aufarbeitung kam zusätzlich eine hohe Verschuldung zu Tage, sodass der Grosskonzern schlussendlich abgewickelt wurde. Die Liegenschaften wurden verkauft, zunächst an andere Genossenschaftsverbände oder Kommunen, später – als die Gesetzeslage sich änderte und die Immobilienkonjunktur anzog – auch an Privatunternehmen. Vor allem im Süden Deutschlands wurde die Chance verpasst, durch das Aufkaufen der Konkursmasse städtischen Wohnraum zu schaffen. Die Folgen sind heute wieder spürbar. In Zeiten schnell steigender Mietpreise in den Städten wird die Lage für Geringverdiener langsam kritisch und die Städte haben meist nur wenig eigene Immobilien, um eine Alternative bereitzuhalten.
Warum jetzt?
Andres Lepik, Direktor des Architekturmuseums der TU München und Mitherausgeber eines Ausstellungskatalogs (dazu später mehr) nennt die Gründe, weshalb es höchste Zeit sei für eine Neubetrachtung der Geschichte und der Bauten der Neuen Heimat: Knapp 40 Jahre nach dem unrühmlichen Ende läge der genossenschaftliche Wohnungsbau in Deutschland quasi immer noch brach. Den Städten und Kommunen fehlten Instrumente, wie es die Neue Heimat in Westdeutschland der Nachkriegsjahre bis zur Wende eines war, um dem Ruf nach «bezahlbarem Wohnraum» gerecht zu werden. Es müsse also von aktuellem politischen Interesse sein, die Geschichte und damit die Fehler der Neuen Heimat aufzuarbeiten, vor allem weil der Wohnungsbaugenossenschaft durch das skandalöse Ende immer noch ein schlechter Ruf anhaftet und die positiven Aspekte nahezu in Vergessenheit geraten sind. Ausserdem können derzeit noch viele Akteure und Zeitzeugen berichten und helfen die Bauten einzuordnen. Schlussendlich stehen von den rund 460 000 gebauten Wohnungen der NH die meisten immer noch und werden auch bewohnt. Um den dringenden Fragen nach Sanierung, Erhalt, Umbau oder Weiterentwicklung auf den Grund zu gehen, sei eine Einordnung und Bewertung der Bauten notwendig.
Vier Publikationen, eine Ausstellung
Das Hamburgische Architekturarchiv konnte einen grossen Teil des Nachlasses der NH retten, archivieren und katalogisieren. Seit den 1980er-Jahren wird an diesem Archivbestand geforscht. Für das «Projekt Neue Heimat» spannten das Hamburgische Architekturarchiv, die Hamburgische Architektenkammer sowie das Architekturmuseum München der Technischen Universität zusammen. Daraus entstanden eine umfangreiche Publikation mit dem Anspruch «zu zeigen und zu dokumentieren, was die Neue Heimat denn gebaut hat» sowie die Ausstellung Die neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten, die aktuell in München, später in Hamburg zu sehen sein wird, mitsamt gleichnamigem Ausstellungskatalog. Ausserdem wertet Michael Mönninger in einer separaten Publikation die konzerneigene Zeitschrift Neue Heimat Monatshefte aus. Andreas Hild und Andreas Müsseler von der TU München widmen zudem dem 50. Geburtstag der Münchener NH-Siedlung Neuperlach eine Sammlung von studentischen Arbeiten.
Alles über die Neue Heimat
Wer es ganz genau wissen möchte, sollte zur knapp 800 Seiten starken und grossformatigen Publikation Neue Heimat. Das Gesicht der Bundesrepublik. Bauten und Projekte 1947–1985 greifen. Herausgegeben hat sie der ehemalige Geschäftsführer der Hamburgischen Architektenkammer Ullrich Schwarz, mit dem erwähnten Anliegen die Archive zu öffnen und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit den heutigen Rahmenbedingungen des Wohnungsbaus anzuregen. Denn möglicherweise könne «man aus der Vergangenheit durchaus das eine oder andere für die Gegenwart lernen». Dies zu tun bleibt allerdings den Leserinnen überlassen. Ausblicke oder Handlungsempfehlungen gibt es keine.
Den Kern der Publikation bildet ein Essay von Dirk Schubert. Annähernd das halbe Buch besteht aus seiner detaillierten Chronologie mitsamt geschichtlicher, kultureller und gesellschaftlicher Einordnung sowie der (Bau-)Tätigkeiten der NH. Kurze Unterkapitel, unzählige Projektbeschriebe sowie eingeschobene Porträts wichtiger Persönlichkeiten machen den umfangreichen Fliesstext mehr zu einem Nachschlagewerk, denn zu einem Lesebuch und helfen bei der gezielten Suche. Die anderen, ebenso gegliederten Kapitel widmen sich beispielsweise dem profitorientierten Tochterunternehmen Neue Heimat Städtebau, den Expansionsbestrebungen der Neuen Heimat International sowie der zeitgenössischen Rezension in Printmedien, Film und Fernsehen.
Feldstudien
Konkreter wird die Publikation Neuperlach ist schön. Zum 50. Einer gebauten Utopie der TU München. Sie versammelt studentische Arbeiten aus dem Studio von Andreas Hild, die sich mit dem baulichen Potenzial von Neuperlach in München befassen – einer der grössten Siedlungen in Deutschland und ebenfalls von der NH gebaut. Ausgangslage war die Erkenntnis, dass die Siedlung eine für München vergleichsweise geringe Dichte aufweist und damit räumliche und infrastrukturelle Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Wie in einem typischen Semester des Architekturstudiums beginnt die Publikation mit umfangreichen Analysen der Bestandsbauten sowie historischen Referenzobjekten. Es folgen Entwürfe aus mehreren Bachelor- und Masterstudios, die verschiedene Ansätze der Nachverdichtung ausprobieren: Mit neuen Baukörpern, welche die Grossform zu Blockrandbebauungen schliessen, zusätzlichen Punkthochhäusern, Aufstockung, Andockung, neuen Kopf- oder Verbindungsbauten versuchen die Studierenden das enorme Potenzial der Siedlung auszuschöpfen, einen sozialen Mehrwert zu generieren und ein besseres Image für das in Verruf geratene Quartier zu schaffen. Zwischendrin eingestreut sind immer wieder Essays von Architekten, Historikerinnen und Theoretikern, die entweder an den Semestern beteiligt waren oder ähnliche Projekte auf den Weg gebracht haben. So stellt zum Beispiel Markus Peter von Meili, Peter & Partner Architekten die Sanierung des Telli B und C im Aarau (seit 2016) vor.
Primärquellen auswerten
Die spezifischste Publikation hat Michael Mönninger, Professor für Geschichte und Theorie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, geschrieben. ‹Neue Heime als Grundzellen eines gesunden Staates›. Städte- und Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne. Die Konzernzeitschrift Neue Heimat Monatshefte 1954–1981 besteht aus einer Analyse mit einem Kommentar und einem Quellenteil. Im ersten sind die über 300 Ausgaben der Konzernzeitschrift auf Themen wie Selbstdarstellung, Leitbilder und Utopien untersucht worden. Darin zeigt Mönninger auf, dass die Schriftenreihe erstens ein wichtiger Indikator für das Selbstverständnis und das öffentliche Auftreten der NH und zweitens ein publizistisches Werkzeug zur Durchsetzung der Konzerninteressen bei Politikern und Planern war. Gerade die Nähe der Herausgeber und Autoren zu den Entscheidungsträgern und Ausführungsorganen «schürte konkrete Umsetzungshoffnungen und setzte produktive Gestaltungsenergien frei». So stand in der Schriftenreihe weniger ein baukultureller, architektonischer Diskurs im Fokus, als die «oft kruden Handlungsperspektiven der Machbarkeit». Anders als bei einem gemeinnützigen Bauträger zu erwarten, werden auch die Bewohner zumeist auf ihre Funktion reduziert und nicht als aktive Subjekte, Akteure oder gar ökonomische Anteilhaberinnen wahrgenommen. Der zweite und umfangreichere Teil besteht aus über 70 ausgewählten Originaltexten und -abbildungen. Gerade das Nachlesen und «Überprüfen» von Mönningers Analysen in den Originalquellen ist aufschlussreich. Beispielsweise ist man fast schockiert von so viel völkischem und nationalistischem Gedankengut, mit dem Ernst May in der ersten Ausgabe 1954 für eine neue, moderne Architektur plädiert. Das zeigt einmal mehr, dass die nationalsozialistische Ideologie von der Ideologie des «neuen Menschen» und dem «Effizienz»-Gedanken der Moderne nicht allzu weit entfernt war. Bemerkenswert auch, dass May bereits ein Jahr später gegen die Auflösung der Stadt und vor allem die Landschaftszersiedlung anschrieb und sich damit gegen den Bau von Einfamilienhäusern aussprach.
All-in-one
Ebenfalls aus der Hamburger Archivforschung hervorgegangen ist die Ausstellung Die neue Heimat. 1950–1982. Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten, kuratiert von Hilde Strobl und aktuell in der Pinakothek der Moderne in München und anschliessend im Museum für Hamburgische Geschichte zu sehen.
Der gleichnamige Ausstellungskatalog, herausgegeben von Andres Lepik und der Kuratorin, zeigt sich im Vergleich zur ausführlichen «Chronik» zwar ein bisschen schöner, flotter, und vor allem handlicher, kann aber natürlich dafür nicht dieselbe Tiefe vorweisen. Es scheint, als sei der Katalog ein Best-of der drei anderen Publikationen. So hat Michael Mönninger selbst eine Zusammenfassung seiner Publikation über die Schriftenreihe der NH beigesteuert und in einem anderen Kapitel berichten Hild und Müsseler in Kurzform vom Potenzial Neuperlachs. Der Ausstellungskatalog ist aber nicht nur ein guter Einstieg in die komplexe Thematik, sondern wartet auch mit zwei Essays auf, die für Architektinnen und Landschaftsplaner besonders interessant sind: Einmal wird über die Freiraumgestaltung für Kinder berichtet. In einem anderen Aufsatz geht es um die Bautechnik und die Rationalisierung der Bauprozesse. Auch auf der Projekteben mussten sich die Herausgeber aus Platzgründen auf knapp 30 Bauten beschränken, die sieben Aspekten oder Kategorien zugeordnet und jeweils kurz mit Bildern und Plänen erläutert sind. Ein Fotoessay von Myrzyk und Jarisch zeigt exemplarisch den heutigen Zustand einiger Siedlungen. In den Bildern zeigt sich mal das schlummernde Potenzial und mal die harte trostlose Realität vieler Grosssiedlungen der Bundesrepublik. Da dies aber weiterhin die Wohnrealität für viele Menschen in Deutschland ist, wird es umso mehr Zeit sich damit auseinanderzusetzen.