Sinnlichkeit und Wirklichkeit der Dinge
Zum Tod von Martin Steinmann
Sechs Jahre, zwischen 1980 und 1986, hat Martin Steinmann zusammen mit Irma Noseda archithesegeleitet. Es war die Zeit, in der eine junge Architekt*innenszene in der Deutschschweiz mit ersten Bauten in Erscheinung trat. Ohne ihn als Wegbegleiter wären die späteren Karrieren kaum möglich gewesen.
Sicher war Martin nicht immer davon angetan, wie sich archithese nach seinem Weggang 1986 weiterentwickelt hat. Das direkt zu sagen, dafür war er zu kollegial. Aber ich spürte es mitunter, wenn wir uns trafen. Was sich immer wieder einmal ergab – ob im Vorfeld des 40jährigen archithese-Jubiläums 2011, anlässlich meiner Zeit als Leiter des S AM Schweizerischen Architekturmuseum in Basel oder bei Gesprächen über die strategische Ausrichtung des gta-Archivs in Zürich.
Das gta-Archiv spielte für Martins wissenschaftliche Karriere eine entscheidende Rolle. 1942 geboren, hatte er sich nach anfänglichem Liebäugeln mit Germanistik doch für das Studium der Architektur an der ETH Zürich entschieden und 1967 bei Alfred Roth diplomiert. Die erste Berufserfahrung bei dem von ihm hochgeschätzten Ernst Gisel führt indes zur Ernüchterung: Er empfindet den Bürochef als komplett «averbal»; es fehlt an Kommunikation, an Argumentation, an theoretischem Rüstzeug. Glücklicher Zufall, dass kurz zuvor das gta gegründet worden ist: Martin Steinmann wird 1968 Assistent des gta-Gründers Adolf Max Vogt und übernimmt ab 1972 die Bearbeitung des CIAM-Nachlasses. Die frühen Jahre des gta, das zu dieser Zeit weder einen wirklichen Ort noch eigenes Personal besitzt, sind chaotisch. Kontakte zu anderen sammelnden Institutionen bestehen nicht, es ist eine Zeit der Improvisation. Martin, der sich gerade für die Frage des Wohnungsbaus in der Zwischenkriegszeit interessiert, wühlt sich durch Korrespondenzen und Kongressberichte, für Architekten, die gemeinhin an Zeichnungen und Darstellungen erfreuen, eine spröde Lektüre. Das Buch, das dann 1979 erscheint und die Jahre des CIAM zwischen 1928 und 1939 thematisiert, kann bis heute als Standardwerk gelten. Der von Jos Bosmann betreute zweite Band, der die Nachkriegsphase umfassen sollte, ist leider nie erschienen.
Neben seiner Archivtätigkeit widmet sich Martin anderen Projekten. Von zentraler Bedeutung für die Schweizer Architekturgeschichte der Zeit ist die 1975 mit Thomas Boga von der Ausstellungsabteilung der ETH veranstaltete und von einem Katalog begleitete Schau Tendenzen. Neuere Architektur im Tessin, welche die neueren Architekturtendenzen im Südkanton auch international bekannt macht. Mit Martin Fröhlich widmet er sich im gleichen Jahr dem nicht gebauten, imaginären Zürich. Basis für die Publikation bildet ein Beitrag, der zuvor in archithese erschienen ist.
Gewissermassen gehört Martin Steinmann zu den Mitarbeitenden der ersten Stunde – sein frühester Beitrag erschien im Urbanismus-Heft, mit dem Stanislaus von Moos als Gründungsredaktor 1972 den zweiten Jahrgang einläutete. Das Impressum führt ihn seither als ständigen Mitarbeiter mit Wohnsitz Zürich, und so ist er beispielsweise – gemeinsam mit Bruno Reichlin – für das legendäre Realismus-Heft des Jahres 1976 verantwortlich, zu dessen Ziel Stanislaus von Moos im Vorwort schreibt: «Der Begriff Realismus wird so zum Anlass einer kritischen Revision des Begriffs Architektur überhaupt.» Als Martin dann zu Beginn des Jahres 1980 – archithese hat sich gerade von Werk getrennt und tritt wieder als eigenständiger Titel in Erscheinung – zur Redaktion hinzustösst, kann Stanislaus von Moos zurecht festhalten: «Martin Steinmann betritt die archithese-Redaktion also nicht als Debütant, sondern als gutes Omen.» Programmatisch schreibt Martin im Heft 1.1980 über «einfache» und «gewöhnliche» Architektur und schlägt damit den Bogen vom «ugly» und «ordinary» von Venturi / Scott Brown zur Schweizer Gegenwartsarchitektur, für die beispielhaft unter anderem Werke von Michael Alder stehen. Aber auch das Blaue Haus in Oberwil von Herzog & de Meuron, damals gerade in Ausführung, findet Beachtung.
Zwei Jahre später – Stanislaus von Moos hat die Redaktion Ende 1980 verlassen und Martin leitet die Zeitung nun mit Irma Noseda – erhält das fertiggestellte Blaue Haus einen neuerlichen Auftritt, nunmehr begleitet von einem Text von Martin, der resümierend und charakterisierend in der ihm eigenen Diktion schliesst: «Absage schliesslich an eine Wirklichkeit hinter den Dingen zugunsten der Wirklichkeit der Dinge selber; zugunsten ihrer Sinnlichkeit.» Stellung zu beziehen sei Aufgabe einer Architekturzeitschrift, nicht Ausgewogenheit, heisst es im Editorial zum gleichen Heft 1.1982 zum Thema «Auseinandersetzung mit der Architektur in der Schweiz». Es lohnt sich, dieses Heft einmal wieder zur Hand zu nehmen, wegen der präsentierten Bauten (darunter die Siedlung Hammer I von Diener & Diener), aber auch aufgrund der instruktiven Synopse der Architekturströmungen in der Schweiz seit 1950, die Heinrich Helfenstein zusammenstellt und folgende Rubriken umfasst: Bezugspunkt Frank Lloyd Wright, Bezugspunkt Le Corbusier, Bezugspunkt Mies van der Rohe, Bezugspunkt Bauhaus, Ernst Gisel, Bauen unter dem Vorrang des Plastischen, Synthetische Heimat, Einfache Architektur, Auseinandersetzung mit der Tradition, Architektur und Territorium, Architektur und Stadt. Der frühe Zumthor wird mit seinem Haus Räth in Haldenstein vorgestellt, das in den offiziellen Monografien des Architekten später nicht mehr auftaucht; im gleichen Heft wird das Interviewformat eingeführt (1.1984, Gespräche mit Architekten), dem auch die Ausgabe 5.1985 folgt – «Reden über Holz».
Die junge Architekt*innenszene in der Schweiz, welche das Land über Jahrzehnte und bis heute prägen sollte, findet mit der archithese ihr Podium: Martin Steinmann besitzt – nicht zuletzt aufgrund seiner langen Zeit an der ETH – enge Kontakte zu den Protagonist*innen und publiziert nicht nur ihre Projekte, sondern kontextualisiert sie auch mit Theoriebeiträgen. Wohl nie war archithese so nah am architektonischen Schaffen wie in den sieben Jahren, in denen Martin die Zeitschrift leitetet – nicht zuvor unter Stanislaus von Moos, für den als Kunsthistoriker eine internationalere Optik massgebend war, aber auch nicht unter den diversen späteren Redaktionen. Martin verstand sich nicht als Architekturhistoriker, auch nicht als Architekturkritiker, sondern als Architekt, der sich für Architekturgeschichte interessiert. Vor allem aber ist er Wegbereiter und Wegbegleiter für die neue Generation von Architekt*innen. Das Werk von Diener & Diener verfolgt er über Jahrzehnte, zwischen 2007 und 2015 wird er als Architekt tätig und plant und realisiert zusammen mit Roger Diener und dem Künstler Josef Felix Müller die Erweiterung des Kunsthauses in Aarau. Martin ermöglicht seinen Berufskolleg*innen das, was er seinerzeit bei Ernst Gisel vermisst hat: intellektuelle Reflexion, theoretisches Rüstzeug, das Sprechen über die Dinge.
Die Nummer 3.1982 blickt auf das Nachbarland Österreich. Hier wird eine junge Architektengeneration entdeckt, die hinsichtlich der Haltung den Berufskolleg*innen in der Schweiz verwandt ist. Es entstehen Freundschaften, es entwickelt sich ein nachhaltiger Austausch – Roger Diener, Meili Peter oder Herzog & de Meuron erhalten Aufträge in Österreich, und umgekehrt gründet Adolf Krischanitz später ein Zweigbüro in Zürich.
Daneben setzt Martin die Tradition historisch orientierter Hefte fort – etwa mit Ausgaben über Hans Bernoulli oder die Architektur der (moderaten) Moderne von Franz Scheibler, Hermann Siegrist und Adolf Kellermüller in Winterthur. Besonders verdienstvoll: Das monografische Heft über Kay Fisker (4.1985), den damals ausserhalb von Dänemark kaum jemand kennt. Martins Eingangsessay gibt Auskunft über Martins Erkenntnisinteresse: «Die Tradition der Sachlichkeit und die Sachlichkeit des Traditionalismus».
Das Engagement bei der archithese endet abrupt, Martin und Irma Noseda machen sich selbstständig. Seine neue Karriere beginnt 1987, als er Professor an der ETH Zürich wird. Er macht den deutschschweizer Minimalismus in der Romandie bekannt, und er gründet die Zeitschrift Faces. La forme forte heisst ein programmatischer Aufsatz des Jahres 1991, der dann auch der 2003 Sammlung seiner wichtigsten Texte den Titel gibt. 2007 erfolgt die Emeritierung in Lausanne, aber Martin bleibt seiner Leidenschaft, der Architektur und dem Schreiben über Architektur treu. Martin ist niemand, der wahlweise über vieles oder alles schreibt; er schreibt über das, was ihn interessiert. Mit grosser Prägnanz, mit grosser Konstanz. Am 10. März ist Martin Steinmann in Aarau gestorben. Seine Stimme fehlt uns.
Hubertus Adam