Napoli Super Modern
Ausstellung mit Fernweh-Potenzial
Basierend auf dem gleichnamigen Buch des Pariser Büros LAN eröffnete im Mai die Ausstellung Napoli Super Modern im S AM Schweizerisches Architekturmuseum Basel. Geschickte Raumteilungen, liebevoll gearbeitete Modelle und Reliefs sowie eindrucksvolle Bilder in Fotografie und Film geben den Besuchenden einen Einblick in die italienische Metropole und erläutern anschaulich die lokalen Besonderheiten einer etwas anderen Moderne.
Text: Nicole Müller, 21. Juli 2022
Ein Windhauch fährt sanft durch den dünnen Vorhangstoff, der als Einstieg in die Ausstellung die Räume des S AM von der Eingangshalle und dem Museumsshop trennt. Träge schwingt er vor und zurück. Darauf grossflächig abgedruckt, ein Foto: Wir stehen auf einer Anhöhe, blicken hinab auf die Stadt, die sich als dichter Gebäudeteppich die Bucht entlangdrängt. Collagenartig stapeln sich Häuser, Fassaden und Dachterrassen vor dem Meer mit Kränen und Booten, im Hintergrund Berge – Neapel. Dieser Stadt mit ihrem ganz eigenen heterogenen Charme hat das Büro Local Architecture Network (LAN) 2020 das Buch Napoli Super Modern gewidmet. In Zusammenarbeit mit dem damaligen Autor*innenteam zeigt das S AM in Basel seit Mai die gleichnamige Ausstellung.
Ausnahmsweise richtet sich das Augenmerk einmal nicht auf die Evergreens Mailand, Venedig oder Rom, sondern auf eine Stadt, die aus architektonischer Sicht seit jeher eine eher untergeordnete Rolle spielte. Doch gerade in unserer heutigen Zeit, in welcher Architektur mehr denn je unterschiedlichen Erwartungen gerecht werden muss – von ökologischen bis hin zu technologischen und ästhetischen –, lohnt sich ein genauerer Blick auf Neapels Architektur, genauer gesagt auf die der Jahre 1930 bis 1960. Denn obgleich die Epoche geprägt war von Faschismus und dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, gelang den eher unbekannten lokalen Architekten schon damals, was heute zunehmend als wesentliche Herausforderung gilt: Gebäude zu schaffen, die auf globale Phänomene reagieren und gleichzeitig lokalen Fragestellungen antworten.
Versöhnliche Moderne
Walter Benjamin bezeichnete Neapel einmal als «poröse Stadt»,1 als ein Zusammenprallen gegensätzlicher Kräfte und gleichzeitig stetiger Variation des physischen, sozialen und relationalen Gefüges. Schon während der Renaissance herrschten vor Ort mindestens vier verschiedene Architektursprachen vor, die sich im Vergleich weniger stark vermischten, als dies in anderen italienischen Städten der Fall war. Auch die Moderne fand in ihrer «reinen» Form nur bedingt Einzug in die Stadt – Le Corbusier, so heisst es im Buch, missachtete Neapel. Die Autor*innen machen unter anderem die damals weiterhin intakten historischen Netzwerke für das Ausbleiben einer radikalen Moderne verantwortlich. Entstanden ist ein lokaler «Anti-Idealismus», der sich mit der Notwendigkeit einer Anpassung an die komplexen landschaftlichen Bedingungen überlagert. Der landschaftliche Kontext aus Hügeln und Tälern, Höhlen und Felsbänken war mit einer modernen Stadtplanung unvereinbar. So ist es nun eine «versöhnliche» Moderne, die man beim Flanieren durch die Strassen Neapels vortrifft; eine Architektur, die im heterogenen städtischen Kontext eine vermittelnde Funktion zwischen Historie und Gegenwart erfüllt.
«Make the City»
Naheliegend verbindet die ausgewählten Gebäude zuallererst der zeitliche Rahmen, in dem sie entstanden sind. Jedes der Gebäude ist zudem als ein Teil des städtischen Gefüges zu verstehen, nicht als unabhängiges, singuläres Objekt. Die Architekten nutzten die Stadt als zentrale Referenz und schrieben sie weiter. Einen Anspruch auf Vollständigkeit hat die Sammlung nicht, die ausgestellten Gebäude reichen von sozialen Wohnbebauungen wie der in Rione Cesare Battisti (1946–1947) bis hin zu öffentlichen Repräsentationsbauten wie dem Teatro Mediterraneo (1939–1940), von kleinmassstäblichen Stadtbausteinen wie der Fuorigrotta Station der Cumana-Eisenbahn (1939–1940) bis zu markanten Setzungen wie dem Postgebäude (1933–1936) oder dem Hochhaus der Società Cattolica Assicurazioni (1956–1958).
Die Ausstellung ist in fünf Abschnitte gegliedert. Hinter dem eingangs erwähnten Vorhang erwarten uns in grafischer Harmonie Stadtkarte und Timeline, um die Gebäude in den städtischen und historischen Kontext einzubetten. Auch die Architekten werden mittels Portraits in Postkartengrösse kurz vorgestellt. Hier deutet sich ein Mittel an, auf das in der Ausstellung noch des Öfteren zurückgegriffen wird: das Relief. Die für das Buch angefertigten, feinen Strichzeichnungen der Gebäudefassaden entwickelten die Architekt*innen für die Ausstellung zu Reliefs weiter. In aufwändiger Kleinstarbeit wurden die Layer der Ansichten in papiernen Schichten übereinander geklebt und geben den vormals zweidimensionalen Zeichnungen so eine greifbare Tiefe.
Das Zentrum der Ausstellung bilden drei durch raumhohe Vorhangwände geteilte Räume. Mittig angeordnet schaffen Aussparungen ein Raumkontinuum und formen eine zentrale Achse, die teilweise durch Präsentationstische durchbrochen wird. Prägendes Mittel von Buch und Ausstellung sind die Fotografien von Cyrille Weiner, die er eigens für das Projekt anfertigte. Gerahmt, aufgezogen oder auf den Vorhangstoff gedruckt entfalten die Bilder ihre Wirkung innerhalb der Ausstellung stets unterschiedlich. Die thematische Aufteilung der Räume basiert auf einem Text von Umberto Napolitano: «The Persistence of the City in Form (1), Language (2), Function (3)».2 Den räumlichen Abschluss und die Hinwendung zur menschlichen Dimension Neapels bildet die im letzten Raum projizierte dokumentarische und filmische Erzählung von Bêka und Lemoine: eine Stadtwanderung vom Lungomare bis auf den Vesuv.
So heterogen wie die Stadt selbst ist auch die Ausstellungsgestaltung. Durch die Diversität von Modellen, Bildern und Film, durch wiegende Vorhänge und statische Ausstellungsobjekte, durch Symmetrie und Bruch erhält die Ausstellung im S AM ein kleines Stück von der Lebendigkeit der echten Stadt. Auf ansprechende und einprägende Art wird aufgezeigt, was es heisst, das Gewebe einer Stadt durch Architektur fortzuschreiben. Den Macher*innen von Napoli Super Modern kann lediglich vorgeworfen werden, dass sich nach dem Besuch ein leises Fernweh einstellt, das gut und gerne einige Tage anhalten kann.
Die Ausstellung ist noch bis zum 21. August im S AM Schweizerisches Architekturmuseum Basel zu besuchen.
1 Andrea Maglio, «Of a ‹conciliatory› Modernity: Naples 1930–1960», in: Benoit Jallon/Umberto Napolitano/Le Laboratoire R.A.A.R., Napoli Super Modern, S. 25.
2 Umberto Napolitano, «Altermodern Napoli. A Vademecum of ‹City Making›», in: Benoit Jallon/Umberto Napolitano/Le Laboratoire R.A.A.R., Napoli Super Modern, S. 45–62.
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> In archithese 2.2015 schrieb Angelika Schnell über die «Ideologiekritik der modernen Architektur».