Hans Schmidt und Hannes Meyer in Moskau
Veränderung eines funktionalistischen Bewusstseins
Die Architektur der Stalin-Ära wird von vielen westlichen Architekturkritikern noch immer als eine «tragische Episode» am Rande der Architekturgeschichte betrachtet – in diesem Zusammenhang giesst Anatole Kopps soeben erschienenes Buch* Öl ins Feuer alter Vorurteile. – Dass sich die beiden Schweizer Architekten Hans Schmidt und Hannes Meyer während ihres Aufenthaltes in der UdSSR von den orthodoxen Standpunkten der modernen Architektur entfernt haben, das gilt als eine wenig ruhmreiche Episode ihrer Karriere, etwas, worüber man nicht gerne spricht. So macht z.B. Claude Schnaidts vorzügliche Monografie über Hannes Meyer (1965) einen vielsagenden Bogen um die sowjetischen Erfahrungen des früheren Bauhausdirektors. Doch kommt Meyers Interesse an einer Architektur, die an volkstümliche Traditionen anknüpft und bewusst versucht, populäre Ideale zu verkörpern, heutigen Bemühungen vieler Schweizer Architekten – ob sie nun im eigenen Lande oder, wie Meyer, in einem Entwicklungsland arbeiten - überraschend nahe.
Autor: Christian Borngräber – erschienen in archithese 23+24.1978 Unterbrochene Stadt, S. 37–40.
Von Mart Stam vorgeschlagen, wird Hans Schmidt im Oktober 1930 ein Mitglied der Brigade Ernst May und fährt in die UdSSR, um dort als verantwortlicher Architekt im Bereich Wohnungsbau zu arbeiten.1 Hannes Meyer wird nach seinem Hinauswurf aus dem Bauhaus im selben Jahr nach Moskau an das VASl (Höheres Institut für Architektur und Bauwesen) berufen und leitet ausserdem eine Brigade mit sieben jungen Bauhausabsolventen.2 Zwischen beiden Brigaden gibt es weder in der Arbeit noch im Privatleben gute Querverbindungen, jedoch Gemeinsamkeiten in den Grundfragen der baulichen Organisation.
Funktionalistisches Bewusstsein bestimmt den Arbeitsbeginn von 1930/31, ist Anlass für eigene Schwierigkeiten und Ausgangspunkt zu Veränderungen. 1927 begann Hannes Meyer den Bauhausunterricht «funktionell-kollektivistisch-konstruktiv». Er hielt bei der Gestaltung der «Neuen Welt» die «rücksichtslose Verleugnung der Vergangenheit» für notwendig, sah im idealen Wohnhaus genauso wie Le Corbusier eine «Wohnmaschinerie» und berief sich auf das Gedankengut der Schweizer Zeitschrift ABC-Beiträge vom Bauen. Hans Schmidt, Emil Roth und Mart Stam bekannten sich 1927 als ihre Herausgeber zur Maschine, «die keinen Kompromiss mit pazifistischen Phrasen kennt», unter der Überschrift «ABC fordert die Diktatur der Maschine»3.
Diese Sehnsucht nach der Herrschaft der Maschine und die Vorliebe für ihre Ästhetik galt ungebrochen bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise. Erschreckende Tatsache wurde danach: Das Neue Bauen hat in Deutschland diesen schweren Bedingungen nicht standhalten können und darüber hinaus durch überstürzte Rationalisierung zur Verschärfung der Krise selbst beigetragen.4 Ernst May verliess das Neue Frankfurt, weil er das Ende grosser sozialer Bauaufgaben vorausfühlte, und betonte immer wieder: «Ich habe mit Politik nichts zu tun.»5 Dagegen Hannes Meyer:
«lch fahre in die UdSSR, um dort zu arbeiten, wo sich eine wirklich proletarische Kunst entwickelt, wo der Sozialismus entsteht. wo die Gesellschaft existiert, für die wir unter den Bedingungen des Kapitalismus gekämpft haben.»6
Die Lage an der Architekturfront
Das Bild der sowjetischen Architektur der zwanziger Jahre wurde im Ausland vor allem durch die OSA (Verband Moderner Architekten) und ihre Zeitschrift Sovremennaja Architektura (Modeme Architektur) geprägt. Es war ein bruchstückhaftes, verzerrtes Bild, vom Westen um so bereitwilliger akzeptiert, als sich die OSA als Teil der «Internationalen Front der modernen Architektur» verstand. Umgekehrt erschien umfangreiches Bildmaterial des Neuen Bauens in der Sovremennaja Architektura und Artikel westlicher Autoren, darunter auch 1928 in überarbeiteter Fassung «Die Neue Welt» von Hannes Meyer. Noch vor Ankunft der beiden Brigaden begann in der UdSSR jedoch die Kritik an konstruktivistischer, rationalistischer, funktionalistischer Architektur. Luchmanov, Anhänger der Bauten Melnikovs, kritisierte, in welch umfangreichem Mass die Sovremennaja Architektura Ideen und Projekte der kapitalistischen Architektur propagierte: «Und unsere Jugend nimmt sie sich zum Vorbild.»7 Eine letzte Verbindung zurn Westen sehen die Kritiker zu jener Zeit nur noch im Kampf gegen den Eklektizismus. «Aber nur da!», wie Roginskaja bekräftigt. «... all diese Vegetarierlosungen der Bequemlichkeit, der Rationalisierung und letztendlich des Komforts sind so amorph, so einfältig und klassenlos, dass da ein jeglicher Ideologe bürgerlicher Kunst gern mit beiden Händen zugreift.»8
Die 1929 gegründete YOPRA (Allunionsverband Proletarischer Architekten) polemisiert gegen den Funktionalismus, weil er auf der Basis des Finanzkapitals entstand. Hannes Meyer tritt kurz nach seiner Ankunft in Moskau der VOPRA bei. Und er ist es, der als Mitglied der Vorbereitungskommission zum Bau des Sowjetpalastes auf der Suche nach einem geeigneten Bauplatz Stalin vorschlägt, die eklektizistische Erlöserkathedrale abzureissen.
Im Verlauf des ersten Fünfjahresplans wird in der UdSSR die abstrakte Zeichensprache einer an der Maschinenästhetik orientierten Architektur kraftlos und bleibt abschreckend. Hannes Meyer sieht im rostenden Stahlgerüst von Le Corbusiers Centrosojuz-Gebäude im Herzen Moskaus ein mahnendes Beispiel: «Diese ,Orgie' in Glas und Beton wird nicht vollendet werden, sondern stillgelegt, allein des Materials wegen.»9
Diese «Fetischmaterialien moderner Architektur», wie sie Ernst May bezeichnet, gehören in der UdSSR Anfang der dreissiger Jahre zum Defizit. Marmor ist durchaus leichter zu beschaffen als Stahl und für die Metro ein preiswerterer Bodenbelag als der strapazierfähigste aus anderem Material. Diese neuen «Paläste für Millionen von Passagieren» verweisen darüber hinaus auf die unbefriedigten Bedürfnisse der Vergangenheit. So brachten z.B. die Arbeiter selbst alte Möbelstücke aus den Zarenpalästen in ihre neueröffneten konstruktivistischen Klubs von 1928.10 Soziale Experimente, wie z.B. Kommunehäuser, in denen auch Bruno Taut 1930 eine Gefahr der weiteren Proletarisierung des Arbeiters sah, haben in der sowjetischen Architektur der dreissiger Jahre keinen Platz mehr. Der konkrete Aufbau des Sozialismus wird zum festen Bezugsrahmen. Mordvinov, Gründungsmitglied der VOPRA, schreibt 1930 gegen desurbanistische Stadtplanung im Sinne Leonidovs, Mitglied der OSA. Gleichzeitig wirft er ihm vor, durch utopische Fantasien, die Studenten vom realen Aufbau abzubringen, anstatt ihnen bei den alltäglichen Schwierigkeiten zu helfen. Gestützt auf erste wirtschaftliche Erfolge im ersten Fünfjahrplan, fordert die Izvestija 1932 die «Befreiung von der ausländischen Abhängigkeit». «Vom Westen nimmt man nichts», heisst es bei der VOPRA. Ein letzter Blick dorthin ist die Ausstellung «Moderne Deutsche Architektur» im September 1932 in Moskau. Miljutin, dessen Buch über den Aufbau sozialistischer Städte enthusiastisch im Westen gefeiert wurde, greift in seiner Eröffnungsrede der Ausstellung als Architekt und Stellvertretender Volkskommissar die westlichen Architekten an:
«Einen ,prinzipiellen' Verzicht aber auf die Mittel der künstlerischen Gestaltung kann man nicht anders werten als Nihilismus, als Widerspiegelung des Niedergangs der kapitalistischen Rationalisierung ... als extremste Entwicklung des Funktionalismus.»11
Klassizismus ist Kulturerbe
1931 beantwortet Hannes Meyer sieben Fragen der tschechischen «Levà Fronta» (Linke Front). Neben den bekannten Sätzen zu funktionalistischer Architektur heisst es dort:
«Ich halte die Verneinung der Kunst am Bau, wie sie von einem Teil der zeitgenössischen kapitalistischen Architekten praktiziert wird, für ein Zeichen des Scheiterns der bürgerlichen Kultur.»
Er selber kämpft gegen jene reformatorischen Architekten, die
«die Architektur der Willkür des neuen Formalismus' preisgegeben und sich einen neuen Fetisch aus nackten Wänden geschaffen haben.»12
Alle sieben Fragen und Antworten werden im Januar 1934 im letzten Hefe der Sovetskaja Architektur (Sowjetische Architektur) vorn Chefredakteur Miljutin abgedruckt. Nach der Meinung Hannes Meyers sind die Emotionen der Arbeiterklasse in vollstem Umfang in der Architektur zu berücksichtigen. Heroik und revolutionärer Wille gelten für ihn als unerschöpfliche Quelle. Die Emotionen der Arbeiterklasse zeigten sich am deutlichsten 1925/26 im Wettbewerb zum Leninmausoleum und 1931/32 in der zweiten Phase des Wettbewerbs zum Sowjetpalast. Zu beiden Wettbewerben reichten Arbeiter eigene Entwürfe ein, die nichts mit einer funktionalistischen Formensprache gemeinsam hatten und mit ihrer Symbolik die sowjetische Architektur der dreissiger Jahre nachhaltig beeinflussen. Das Projekt «Die Kunst den Werktätigen» zeigte eine Erdkugel, auf der eine Leninfigur steht, denn nach dem Motto
«Lenin, das ist die ganze Welt, und die ganze Welt, das ist Lenin»
sollte das Mausoleum gebaut werden. Den Sowjetpalast gestalteten die Arbeiter aus dem sowjetischen Staatswappen, aus Hammer und Sichel, aus dem Sowjetstern oder aus den Buchstaben SSSR.
Im Dezember 1933 schreibt Hannes Meyer in der Architektura SSSR über seine Arbeitsmethoden:
«In letzter Zeit interessiere ich mich erneut für klassische und überhaupt alte Architektur, denn ich habe für mich das Problem des ,nationalen Ausdrucks' in der sozialistischen Architektur entdeckt.»13
Nationaler Ausdruck? Architektonisches Ensemble14? Erst nach 1926 gab es in Moskau die ersten konstruktivistischen Bauten. Im russischen Zarenreich waren die Anfänge der modernen westlichen Architektur von William Morris bis Otto Wagner unbemerkt geblieben und 1910 die besten Entwürfe noch immer im Klassizismus zu suchen. Will man, wie Hans Schmidt, den Fehler vermeiden, die sowjetische Architektur als ein «Kind ohne jede Vergangenheit», «ohne jedes ABC» zu betrachten, so kann es für die Weiterentwicklung in den dreissiger Jahren nur eine Zusammenarbeit mit den Akademikern geben. Die neugeschaffenen Ateliers für Architektur und Stadtplanung leiten sowohl Vertreter der modernen als auch der akademischen Architektur. «Welches sowjetische Werk der Architektur halten Sie für das am besten geglückte und den heutigen Aufgaben am meisten entsprechende?»15 Hans Schmidt entscheidet sich 1932 für den Erweiterungsbau des Moskauer Stadtsowjets von Fomin. Er gehört seit den zwanziger Jahren mit Ščusev und Žollovskij zu den drei führenden Akademikern der Sowjetunion und entwickelt seit der Oktoberrevolution die Formensprache einer sowjetischen Dorik. Ščusev zitiert in seinen Entwürfen das russische Empire, beherrscht durchaus auch die moderne Formensprache, wendet sich jedoch Anfang der dreissiger Jahre gegen «asketische Architektur». Žoltovskij kopiert und variiert zeit seines Lebens die Bauten Palladios. Darüber hinaus ist er ein einflussreicher und bewunderter Lehrer der Baukunst des alten Griechenlands an der Akademie für Architektur in Moskau. Seine Vorlesungen sind berstend voll. Hans Schmidt berichtet von der grossen Faszination seiner Vorträge; «Den jungen, von führenden Meistern des Konstruktivismus erzogenen Studenten tut sich eine unbekannte Welt auf.16
1932 ist dies die «Neue Welt», und für Hans Schmidt war es rückblickend «Ein notwendiger Weg»17 für die UdSSR.
Die Akademie für Architektur
Noch vor Beginn des zweiten Fünfjahrplans (1933-1937) hat sich Hannes Meyer von seiner Brigade gelöst. Die gemeinsame Arbeit beschrieb er im Sommer 1931 in Vorträgen auf der Proletarischen Bauausstellung in Berlin, dann in Leipzig und im Herbst wieder in Berlin in der Marxistischen Arbeiterschule:
«may hat gewissermassen die idealaufgabe, vollständig neue Städte zu bauen: das ist der ,kuchen'. ich möchte vom ,brot' erzählen. wir haben städte aus feudalistischer zeit übernommen, wir müssen sie umbauen zu sozialistischen städten.»18
Zurück in Moskau leitet er im Institut für Städtebau die Abteilung für Ostsibirien und den Fernen Osten und ab 1934 in der Akademie für Architektur die Wohnungsbau-Abteilung. Er gehört ausserdem zum Redaktionskollektiv der Zeitschrift Akademija Architektury (Akademie für Architektur), die die Fragen des klassischen Erbes und der zeitgenössischen Architektur bearbeitet. Im Jahrgang 1934 werden dort zum erstenmal Entwürfe von Boullce und Ledoux vorgestellt. Ende 1934 gibt derselbe Verlag die Zeitschrift Architektura Za Rubežom (Ausländische Architektur) heraus. Hannes Meyer und Anton Urban sind die ausländischen Mitglieder des Redaktionskollektivs, Hans Schmidt. Grete Schuette-Lihotzky und Walter Schuette schreiben auch für diese Zeitschrift. Den grössten Umfang der Hefte beansprucht die moderne westliche Architektur, doch werden auch die aktuellen klassizistischen Strömungen besprochen. Hannes Meyer bewundert die Arbeit des Schweden lvar Tengbom, dessen Stockholmer Konzertgebäude im klassizistischen Stil 1926 eröffnet wurde. Dieser Architekt ist für ihn ein «erstklassiger Baumeister» und arbeitete mit «grosser Meisterschaft».
«Genauso wie im grossen Saal, Stil zeigt sich auch in allen Nebenräumen und in jedem Teil dieses hervorragenden Werkes der Baukunst die besondere, allergrösste Meisterschaft lvar Tengboms: ein erstaunliches Gefühl im Umgang mit dem Material und eine ungewöhnlich hohe Kultur in der Gestaltung der Architekturdetails.»19 lm ersten Sammelband der Akademie für Architektur, der Anfang 1936 in Druck geht, werden auch zwei Städte der ehemaligen Brigade Ernst May besprochen, Magnitogorsk und Stalinsk. Das erste Quartal von Stalinsk wird entschieden abgelehnt, gilt als negativstes Beispiel für schematische Planung, übertriebene Standardisierung, für «Eintönigkeit und seelenloses Bauen».
Konstruktivismus ist Kulturerbe
Nach Ernst Mays Abreise und Hannes Meyers Trennung von seiner Brigade werden die verbleibenden ausländischen Architekten unter der Leitung von Hans Schmidt im Gorstroiprojekt zusammengefasst. Bekanntestes Gruppenprojekt ist die Weiterplanung von Orsk. Hans Schmidt verarbeitet die Kritik an Mart Stams vorausgegangenem Plan für Makcevka. Er betont die Strassenzüge, die ein Quartal begrenzen, indem er ganz im Gegensatz zu früheren Planungen, Häuser an ihnen entlang führt. Durch jedes Quartal läuft eine Art Hauptschneise, die von Wohn- und gesellschaftlichen Bauten gesäumt wird. Die Schlussvariante des Generalplans von 1935 berücksichtigt die sowjetischen Forderungen nach Repräsentation und breiten Magistralen: Hans Schmidt drückt in Abänderung der ersten Variante, die noch mit Mart Sram entstand, die Stadt an der Ost-West-Achse auseinander und legt dorthinein das Stadtzentrum.
Der Aufbau von Orsk beginnt unter einfachsten Verhältnissen, Maschinen und sogar Handwerkszeug fohlen. Zwölf gelernte Maurer arbeiten mit tausend ungelernten Kräften, ihre fachliche Weiterbildung wird Teil des Aufbauprogramms. Wie in allen anderen neuzugründenden Städten wird zuerst auch in Orsk ein provisorisches Barackenlager errichtet. Anschliessend entsteht nach städtebaulicher Planung ein zweiter provisorischer Bauabschnitt mit zweigeschossigen Häusern in russischer Holzbauweise. Dieser Bauabschnitt ist für längere Dauer geplant. Bis 1937 werden in den ersten beiden Quartalen 450 Drei-Zimmer-Wohnungen, ein Kindergarten und eine Grundschule in massiver Bauweise bezogen. Hans Schmidt arbeitet an der Akademie für Architektur zusammen mit Grete Schuette-Lihotzky in der Wohnungsbau-Abteilung. 1934 gewinnen beide einen internen Wettbewerb für den Bau und die Möblierung von Standardwohnungen. Es sind kühle, sparsame Entwürfe, die sich gegen den Überschwang barocken Zierats sowjetischer Kollegen durchsetzen. Sie werden jedoch nicht ausgeführt. Unter der Leitung von Ginzburg arbeiten 1933/34 Vesnin, Golosov, Ladovskij und Hans Schmidt an der architektonischen Planung der Eisenbahnlinie «Moskva-Donbass». Anfang 1933 wurde für dieses Projekt eine Gruppe aus dreissig Architekten vom Verband Sowjetischer Architekten zusammengestellt. Die Haltepunkte an der Eisenbahnlinie sollen zu Ortschaften von 900 bis 13 000 Einwohnern anwachsen. Bahnhofsgebäude, soziale Einrichtungen und Wohnhäuser werden farblich differenziert: gelb, blau und terrakotta für jede Baugruppe. Hans Schmidt übernimmt die Planung der Station «Nesvetaj», eine kleine Ortschaft mit rund 1000 Einwohnern. Er entwirft zweigeschossige Wohnhäuser mit steilem Pultdach und durchlaufendem offenen Vorbau zum Ausblick in die freie Landschaft, charakteristische Kennzeichen aller Wohnbauten und Bahnhofsgebäude an dieser Eisenbahnlinie.
Rückblick
Im Juni 1936 verlässt Hannes Meyer die UdSSR. Einerseits aus persönlichen Gründen, weil er zu lange schon von seinen Kindern getrennt lebt, andererseits aus beruflichen Gründen, weil er nicht nur entwerfen, sondern wieder bauen will und sich an der Akademie für Architektur nur als «Türsteher» fühlte. Hans Schmidt, Grete Schuette-Lihotzky und Walter Schuette gehen ein Jahr später, im August 1937, weg. Ihre Verträge sind seit Ende 1935 abgelaufen. Darüber hinaus herrscht Vorkriegsstimmung und verschärftes Misstrauen gegenüber den Ausländern in der UdSSR. Hans Schmidt und Grete Schuette-Lihotzky berichten von mehreren Fällen nationalsozialistischer Unterwanderung auch bei den Architekten. Von ihren Kollegen aus dem Verband Sowjetischer Architekten scheiden sie in bestem Einvernehmen, nach deren Worten «bleiben sie für immer sowjetische Architekten»20.
Hannes Meyer schreibt 1 942 in Mexiko:
«Der sowjetische Architekt wird nicht behindert durch die übliche zeitgemässe Anmassung, dass Architektur nur eine technische Angelegenheit sei. Dieser Gedanke wurde von den Massen beiseite geschoben. Beim Aufbau ihrer Städte wollen sie von künstlerischen Werken umgeben sein, die die Helden der Kollektivarbeit feiern ... Sie Wollen durch Skulpturen und Wandgemälde die Erbauer des Sozialismus ehren ... Die Massen erwarten von den Genossen Architekten, dass sie die Nationalkulturen, die Folklore und die lokalen Bauformen aufgreifen und nicht imitierend weiterentwickeln ... Die Sowjetkultur kann nicht auf einem Schutthaufen gedeihen. Jede neue Kultur muss das Beste aus der Vergangenheit für ihre eigene kontinuierliche Entwicklung auswählen.»21
Keine Frage, die besten Beispiele der sowjetischen Architektur der dreissiger Jahre nutzen die neuen konstruktiven Möglichkeiten und das klassische Erbe in einer Synthese der Künste und betonen die nationalen Unterschiede in den einzelnen Sowjetrepubliken.
Anmerkung
* Anatole Kopp L'architecture de la période stalinienne, Grenoble, 1978
1 Nach Auskunft von Grete Schuette-Lihotzky, Wien, April 1978, halle die Brigade Ernst May im Oktober 1939 folgende 17 Mitglieder: Hans Burkart (Städtebau), Max Frühauf (Bauleitung), Wilhelm Hauss (Installation), Werner Hebebrand (Krankenhausbau), Walter Kratz (Wohnungsbau), Karl Lehmann (Tiefbau), Hans Leistikow (Grafische Gestaltung), Alben Löcher (Städtebau), Erich Mauthner (Städtebau), Ernst May, Hans Schmidt (Wohnungsbau), Walter Schuette (Schulbau), Grete Schuette-Lihotzky (Kinderanstalten), Walter Schulz (Bauleitung), Walter Schwagenscheidt (Städtebau), Marl Stam (Wohnungsbau), Ulrich Wolf (Gartenbau).
2 Rene Mensch, Klaus Meumann, Konrad Püschel, Bela Scheffler, Philipp Tolziner, Anion Urban, Tibor Weiner.
3 ABC-Beiträge zum Bauen, Zweite Serie 1927/28 (4), S. 1–2
4 Vgl. Christian Borngraeber, «Les prérentions sociales de Ja Nouvelle Architecture et leur échec dans le Nouveau Francfort», in: Paris-Berlin, Rapports et Contrastes. France-Allemagne 1900–1933, Katalog Paris, 1978, S. 373–379.
5 Stadtrat Mays Russlandplätie, in Bau welt. 1930 (36), S. 1156
6 Sovrenunnaja Archltektura. L930 (IV. Umschlagseite)
7 N. Luchmanov, Architekura kluba, Moskva 1930, S. 49.
8 F. Roginskaja, «Ocerednye zadači na fronte proizvodstvennych iskusstv» (Die nächsten Aufgaben an der Front der Produktionskünste), in lskusstvo V Massy, 1930 (2), S. 7
9 Bauen, Bauarbeiter und Techniker in der Sowjetunion – Nach einem Vortrag von Hannes Meyer, in Das Neue Russland, 1931 (8/9), S. 48
10 vgl. Christian Borngräber, «Neue Lebensweise der Produktionskollektive in sozialen Kraftwerken, Arbeiterklubs, Architektur und Alltag», in Kunst ir, die Produktion! Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung 1927–1933, Katalog, Berlin 1977, S. 158–183.
11 Ausstellung der Modernen Deutschen Architektur, «Ansprache des Gen. N. A. Miljutin (Stellvertretender Volkskommissur für Volksaufklärung der RSFSR)», russisch und deutsch in Sovetskaja Architektura, 1932 (5/6), S. 19
12 G. Majer (H. Meyer), «Architektor v klassovoj bor'be - otvety na vopros ,Leva Front' (Der Architekt im Klassenkampf – Antworten auf die Fragen der `Linken Front´», in Sovetskaja Architektura 1934 (1 ), S. 59
13 G. Majer (H. Meyer), « Kak ja robotaju» (Wie ich arbeite), in Architekutra SSSR, 1933 (6), S. 35
14 Vgl. G. Majer (H. Meyer), «Novye zilye doma v Moskve – Bolšoj perelom» (Neue Wohnhäuser in Moskau – Der grosse Umschwung), in Architektura SSSR, 1934 (12), S. 11
15 H. Schmidt, «Die Architektur an der Schwelle des zweiten Fünfjahresplans – Antwort auf eine Umfrage», in H. Schmidt, Beiträge zur Architektur 1924–1964. Berlin (DDR)/Basel, 1965, S. 87
16 H. Schmidt, «Ein notwendiger Weg», in Deutsche Architektur 1958 (1), S. 48, nachgedruckt unter der Überschrift: «Zur Geschichte der Sowjetarchitektur», in n. Schmidt, Beiträge ... a.a. O.
17 Die ursprüngliche Überschrift «Ein notwendiger Weg» von 1958 wurde 1965 verändert in «Zur Geschichte der Sowjetarchitektur». Vgl. Anmerkung 16
18 «vortrag hannes meyer in leipzig», in bauhaus 7, Organ der Kostufra
19 G. Mejer (H. Meyer), «Koncertny j dom v Stokgolme» (Das Konzerthaus in Stockholm, in Architektura Za Rubezom, 1935 (2), S. 16
20 Auskunft von Grete Schuette-Lihotzky, Wien, April 1978
21 H. Meyer, «The soviet architect», in Task, 1942 (5), S. 27, und H. Meyer, «El arquitecto sovietico», in Arquitectura, 1942 (9), S. 9
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese 23+24.1978 Unterbrochene Stadt.