Mehr Feingefühl für den Brutalismus
Text: Jørg Himmelreich – 15.5.2012
Fotos: Thomas Wolf
«Brutalismus ist wieder in»
behauptete Dirk van den Heuvel als Referent der Internationalen Brutalismus-Konferenz, die vom 9.-11. Mai 2012 in Berlin statt fand. Diverse Fotoausstellungen und viele neue Büchern geben ihm recht. Mit «CCCP-Architektur» beispielsweise hat es der Russische Brutalismus auf die Coffeetables geschafft. Auch im Internet steigt die Beliebtheit: Der Blog fuckyeahbrutalism zeigt Betonbauten aus Europa, USA, Japan und Israel und subsummiert damit grosszügig verschiedenste Sichtbetonbaute unter einem Label. Doch was genau ist unter dem Begriff zu verstehen und was ruft das neue Interesse hervor? Lediglich die expressive Ästhetik, die Direkt- und Rauheit?
Alte und neue Kritik
Diese Begeisterung wird nicht allgemein geteilt. Die meisten Benutzer stehen den Bauten der 1950er und -60er Jahren skeptisch gegenüber. Dem aus dem angelsächsischen stammende Begriff Brutalismus ist der Stamm «brut» eingeschrieben, womit eigentlich eine «Direkt-» und «Unmittelbarkeit» gemeint ist. Doch wird er häufig als «brutales» Bauen missverstanden. Auch städtebaulich und ästhetisch gibt es Kritik. Brutalistische Bauten gelten oft als überdimensioniert und deplatziert – obwohl die Architekten eigentlich das Gegenteil intendiert hatten. Das ungeliebte Technische Rathaus (1974–2010) in Frankfurt am Main und das Historische Museum (1972–2011) wurden beispielsweise kürzlich abgerissen, um durch eine Teilrekonstruktion der mittelalterlichen Altstadt ersetzt zu werden. Trend oder Ablehnung hin oder her: Die Beschäftigung mit den Bauten ist allein schon wegen deren baulichem Zustand dringlich. Die dauerhaft scheinenden Materialien sind schneller gealtert als gedacht. Beton zeigt Risse oder platzt ab, Asbest und Dämmwolle sind gesundheitsschädliche Altlasten, die Haustechnik muss ersetzt werden und die künftige Klimatisierung wirft Fragen auf. Werden die Kosten einer Instantsetzung mit denen eines Ersatzneubaus gegengerechnet, fällt der Entscheid meist zu Ungunsten des Bestandes aus. Das könnte die jetzt noch zahlreich Bauten bald zur bedrohten Spezies werden lassen. Der Brutalismus braucht dringend eine Evaluation seiner architektonischen Werte. Doch wer nimmt sie vor und wie?
Konferenz in Berlin
Die Dringlichkeit rief das Karlsruher Institut für Technologie KIT auf den Plan. Werner Seving (Professor für Architekturtheorie †), Anette Busse (Masterstudiengang Altbauinstandsetzung) und Florian Dreher (Assistent) begeisterten Philip Kurz von der Wüstenrot Stiftung dafür, ein gross angelegtes internationales Brutalismus-Symposium durchzuführen, um die historischen und ideengeschichtlichen Hintergründe genauer zu beleuchten. Der expressive, vorbildlich renovierten Saal der Akademie der Künste im Berliner Hansaviertel – ein Bau von Werner Düttman aus dem Jahr 1960 – und ein Eröffnungsabend in der Tschechischen Botschaft – 1978 von Věra und Vladimír Machonin errichtet – bildeten den stimmungsvollen Rahmen.
Der unterschwellige Aufrag an die Gäste war, die ästhetischen, noch mehr aber die konzeptionellen Qualitäten der Bauten herauszuarbeiten, um eine Sensibilisierung zu erreichen und Entscheidungsgrundlagen für die Unterschutzstellung und Erhaltung zu erarbeiten.
Definitionsversuche
Im Progammheft der Konferenz wurde der Brutalismus-Begriff umrissen: Seit den 1950er-Jahren hatten Architekten in Europa, USA und Japan die dogmatische Moderne und die funktionale Stadt in Frage gestellt. Sie interessierten sich für den soziologischen Kontext von Nachbarschaften und die Organisation der Stadt, suchten nach direkte Materialien, liebäugelten mit Warenhausästhetik und Autodesign. Den Begriff hatte Reyner Banham mit seiner Publikation «Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik.» im Jahr 1966 geprägt. Insbesondere die Werke von Peter und Alison Smithson aus Grossbritannien hatten Vorbildcharakter.
Kontroverse um den Begriff
Die Teilnehmer der Konferenz hingegen waren sich uneinig über diese Definition. Werner Oechslin aus Zürich wies darauf hin, dass bereits die Smithsons und Banham sich nicht über die Bedeutung des Begriffs hatten einigen können. Auch Klassifizierungen wie «Strukturalismus», «Metabolismus» und «Realismus», zu denen das Brutalistischen Bauten viele Überschneidungen zeigt, wurden in Frage gestellt. Klassifizierungen wurden allgemein als problematisch gewertet, da in ihnen – sobald sie einmal etabliert sind – nicht mehr unterschieden werde zwischen den unterschiedlichen kulturellen Kontexten, den Biografien der Autoren und deren individuellen Ansätzen.
Und doch liessen sich Gemeinsamkeiten aufzeigen: Mehrere Referenten zeigten auf, dass der Brutalismus eine individuelle Verarbeitung von Traumatas aus dem II. Weltkrieg war, da eine kollektive Diskussion in der Gesellschaft nicht stattfand. Stanislaus von Moos und Jörg Gleiter strichen entsprechen die Ähnlichkeit mancher brutalistischer Bauten zu Ruinen und Bunkern heraus. Nach 1968 – als die Aufarbeitung des Krieges gesamtgesellschaftlich geführt wurde – sei folgerichtig der Brutalismus verschwunden.
Werner Durth aus Darmstadt versuchte den Begriff ethisch zu erfassen: Eine ganze Generation in Europa hätte – in jedem Land individuell aber geeint im Wunsch zu provozieren – Alternativen zur Nachkriegsmoderne gesucht. Den Architekten wäre es um Wahrhaftigkeit und den Wiederstand gegen eine Ästhetik der Rekonstruktion gegangen. Die unmittelbare Wirkung auf die Nutzer sei allen Architekten wichtiger als Ikonographie und Stilfragen gewesen.
Brutalistische Praxis
Man einigte sich drauf, Brutalismus nicht als Stilbegriff zu verwenden, sondern von einer «Brutalistische Praxis» zu sprechen: von einer sensiblen Nachkriegsmoderne innerhalb derer jede Position individuell zu erforschen und zu werten sei. Doch was heist das für die Denkmalpflege, die akute Entscheidungen zu Abriss, Renovation oder Umbau der Bauten treffen muss? Ingrid Scheuermann aus Dresden plädierte für einen neuen Denkmalbegriff, der auch das «Unreine», «nicht Stilechte» und «Hässliche» einbezieht. Und im Bezug auf Brutalistischen Bauten vor allem: die «Idee». Das klang wie ein Auftrag an die Architekturhistoriker: Denn wenn die Bauten des Brutalismus nicht insgesamt schutzwürdig sind, sondern jedes Objekt einzeln an seinem ideellen Wert gemessen werden muss, muss die Disziplin sich beeilen, dass sie die Einzelnachweise angetreten hat, bevor der Abrissbagger rollt…