Materialisierung des Bauens. Zum Tod von Ernst Gisel
Das Werk mancher Architekt*innen, die in den 1950er-Jahren ihre Karriere begannen, ist als zeitgebunden in Vergessenheit geraten. Nicht so das von Ernst Gisel, das nichts von seiner Aktualität verloren hat. Gisel ist eigenständig geblieben und blieb vom deutschschweizer Architekturdiskurs der vergangenen 50 Jahre weitgehend unberührt.
Text und Fotos: Hubertus Adam – 11.5.2021
1949 gewann der gerade einmal 27-jährige Ernst Gisel den Wettbewerb für das Parktheater in Grenchen, das nach seiner Fertigstellung 1955 weithin als Fanal einer neuen Schweizer Architektur gefeiert wurde. Das Gebäude zeigt sich ebenso funktional wie flexibel, mit den Dachschrägen reagierte es gewissermassen auf den französischen Ortsnamen Granges, die Scheunen. Und wies doch weit über regionale Bodenständigkeit hinaus: Nach den vom Landi-Geist geprägten selbstbezogenen Jahren der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit öffnete sich die Schweizer Architekturszene. Als internationale Fixsterne, die Orientierung verhiessen, galten Le Corbusier, Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright. Doch neben diesem Triangel wehte Wind aus dem Norden, enge Kontakte seitens Schweizer Architekt*innen bestanden insbesondere nach Stockholm und Helsinki. Immer wieder wurde der Bau in Grenchen mit Aaltos Rathaus in Säynätsalo in Verbindung gebracht; doch da beide Projekte zeitgleich entworfen wurden, ist eine direkte Abhängigkeit auszuschliessen. Nichtsdestotrotz hatte Gisel seinen erfolgreichen finnischen Kollegen vermutlich 1948 anlässlich von dessen Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Zürich erstmals getroffen und unterhielt zeitlebens Kontakt zu ihm. Bezüge zum Werk Aaltos sollten sich immer wieder einmal im Werk Gisels finden, etwas die fächerförmigen Grundrisse, die in Aaltos Konzept für das Hochhaus Neue Vahr in Bremen wurzeln. Wie immer bei Gisel zeigen sich diese Referenzen aber eher versteckt, niemals so ostentativ wie etwa bei den Kirchenbauten des Schweizer Aalto-Schülers Walter Moser in Zürich-Leimbach oder Heiden mit ihren tiefblau glasierten Keramikfliesen.
Orte der Gemeinschaft
1922 in Adliswil geboren, hatte Gisel zunächst eine Bauzeichnerlehre bei Hans Vogelsanger in Zürich absolviert, jedoch anschliessend an der Kunstgewerbeschule bei Wilhelm Kienzle und Willy Guhl studiert, um Maler zu werden. Doch er kehrte zur Architektur zurück und arbeitete 1942 bis 1944 im Büro von Alfred Roth – der übrigens schon im Pariser Büro von Le Corbusier 1928 (und damit wohl als erster Schweizer Architekt) auf Aalto getroffen war.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit unterhielt Gisel ein Büro zusammen mit Ernst Schaer und war als architektonischer Berater für die SVIL tätig, die Schweizerische Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft, machte sich aber 1947 selbständig.
In Zürich setzte Gisels Karriere mit dem Schulhaus Letzi (1953–1955) am Espenhofweg in Albisrieden ein, einer gemäss Alfred Roths in Das neue Schulhaus (1950) dargelegten Postulaten funktional differenziert gegliederten Anlage mit streng orthogonalem Grundriss, in deren Mitte sich der identitätsstiftende Baukörper mit Sing- und Zeichensaal befindet. Sichtbackstein und Sichtbeton, die von Gisel favorisierten Materialien, prägen das Ensemble. Deutlich klingt schon hier ein expressiver Gestus an, der sich in der Folgezeit verstärken sollte. Höhepunkt in dieser Hinsicht ist die Reformierte Kirche in Effretikon (1958-61), eine stark plastisch geprägte Komposition aus einem gestaffelten zeltartigen Volumen und dem in mächtige Pfeiler und Platten aufgelösten Glockenturm – noch bildhauerischer geht in der Schweiz zu dieser Zeit nur Walter M. Förderer in seinen Kirchenbauten vor.
Sein grösstes Projekt kann Gisel wenig später in Westberlin realisieren: Im Rahmen der von Werner Düttmann, Georg Heinrichs und Hans C. Müller ab 1963 geplanten, insgesamt 400 Hektar umfassenden Grosssiedlung Märkisches Viertel im Norden der Stadt entsteht nach seinen Plänen eine Gruppe von 7- bis 16-geschossigen scheiben- und punktförmigen Bauten in Grosstafelbauweise (1965–1969). Etwas früher baut er in Stuttgart das Gemeindezentrum Sonnenberg (1964–1966), dem 1967–1969 ein grosser Baukomplex für die Evangelische Studentengemeinde in Mainz folgt. Immer wieder sind es Hofsituationen, mit denen Gisel hervortritt, baulich gefasste Orte der Gemeinschaft. Dies gilt auch in den Innenräumen: Aussen ondulierend mit Holz verkleidet und skandinavisch im Ausdruck, ist das Innere des ökumenischen Kultraums im Kinderdorf Pestalozzi Trogen von der konzentrischen Sitzanordnung im antiken Theater inspiriert. Als Ort der Begegnung mit einer kalkulierten Abstufung öffentlicher Freiräume zeigt sich auch das Rathaus in Fellbach bei Stuttgart (1983–1986).
Anerkennung über Generationen hinweg
Dass Bauen mit Materie zu tun hat, bleibt in Gisels Architektur stets spürbar. Es sind nicht die Visionen, es ist nicht das Immaterielle, das ihn antreibt; seine Bauten streben weniger zum Himmel empor, sie bleiben der Erde verbunden. Gisel ist kein Theoretiker, er ist Macher und er baut kontinuierlich, mehr als ein halbes Jahrhundert. Der theoretische Diskurs, der zunächst in den Siebzigerjahren den Aufschwung der jungen Tessiner Architekturszene beflügelt und der dann auch die Deutschschweiz erreicht, bleibt ihm, dem Älteren und schon Erfolgreichen, eher fremd. Entwurfsdozenturen an der ETH 1968/69 und 1969–1971 in Karlsruhe sind akademische Intermezzi. Gisel ist kein Kommunikator oder Missionar, seine Sprache ist die Architektur. Auch in seinem Blauen Atelier, das er 1999 der ETH Zürich schenkt, irritiert seine Schweigsamkeit mitunter die vielen Mitarbeitenden, die über die Jahrzehnte hier tätig sind. Und doch geniesst er, anders als manche seiner Zeitgenoss*innen, deren Werk zum historischen Phänomen geworden ist, Anerkennung über Generationen hinweg. Jacques Herzog, mit Gisels Sohn befreundet, hat mehrfach anschaulich über die Arbeit in Gisels Büro und die Aufenthalte in dessen Sommerhaus auf der Rigi berichtet.
«Anstatt Golf zu spielen», so Gisel selbst, beschäftigte er sich im Wohnhaus an der Zürcher Ilgenstrasse (1996/97) bis ins hohe Alter weiterhin mit der Architektur. Am 6. Mai ist er dort im Alter von 98 Jahren gestorben.