Ein Rückblick auf die bevorstehende Zukunft
Im Herbst dieses Jahres beginnt die «Umgestaltung des Gebäudes Salzburger Vorstadt 15»1 in Braunau am Inn zu einer Polizeistation. Höchste Zeit, einen kritischen Rückblick auf die Wettbewerbsentscheidung zu werfen, findet der Wiener Verein DA: Unter dem Titel Gebaute Verdrängung? schufen die jungen Architektinnen und Gestalterinnen eine offen zugängliche, digitale Informationsplattform rund um das Umbauvorhaben. Begleitend zur Vorstellung des Online-Projekts am 15. März in Wien diskutierten eingeladene Expert*innen über alternative Zukunftsszenarien für den geschichtsbelasteten Ort.
Text: Viktoriya Yeretska, 20. März 2023
Gleichgültigkeit: Fehlanzeige. Kaum eine emotionale Reaktion blieb am vergangenen Mittwoch im vollen Festsaal des Wiener Museums für angewandte Kunst (MAK) aus. Die Stimmung im Publikum und auf der Bühne ist aufgeladen, changiert zwischen Beifall, Kopfschütteln, energischen Zwischenrufen. Einem derart polarisierenden Thema wie dem der Nachnutzung des Geburtshauses von Adolf Hitler begegnet der Verein zur Förderung von Diskurs in der Architektur – kurz DA – mit gezielten Fragestellungen. Auf der minimalistisch schwarz-weiss gehaltenen Website seines digitalen Publikationsprojekts Gebaute Verdrängung? richtet sich das sechsköpfige Team an die Wettbewerbsbeteiligten, an die Öffentlichkeit und an die Architekturdisziplin selbst. Das Ziel an diesem Abend: Es soll wieder gemeinsam diskutiert werden.
Ein Haus, das nicht genannt werden darf
Gleichzeitig ist die Sorge gross, zur Popularität des Bauwerks und somit zur Fortschreibung des nationalsozialistischen Propagandanarrativs beizutragen. Vor drei Jahren fiel die Entscheidung über die Zukunft des berüchtigten Hauses, das die staatlichen Institutionen gegenwärtig nur noch mit seiner postalischen Adresse betiteln: «Salzburger Vorstadt 15». Hinter verschlossenen Türen – in einem EU-weiten, einstufigen, nicht offenen Realisierungswettbewerb – wurde damals das Vorarlberger Büro Marte.Marte zum Sieger gekürt. Sein Projekt: eine Rekonstruktionsarchitektur, welche sich stark am Ausgangszustand des Altstadtgebäudes orientiert. Mitte des 17. Jahrhunderts erbaut, waren es ursprünglich zwei separate, ortstypische Bürgerhäuser mit markanten Satteldächern und rechteckigen Fensteröffnungen. Im Zuge späterer Überformungen wuchsen sie unter einer gemeinsamen Überdachung zu einer Einheit zusammen. Der Reichsleiter Martin Bormann stellte das Haus in dieser neuen Erscheinungsform seit 1938 als «Geburtshaus des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler» unter Denkmalschutz, inszenierte und transformierte es fortan für Propagandazwecke der NSDAP. Die baulichen Eingriffe betrafen insbesondere den Sockelbereich der Frontfassade: die Formen und Proportionen der Öffnungen wurden zwecks eines massiveren Ausdrucks angepasst. Jegliche Sinnbilder und Spuren der nationalsozialistischen Herrschaft haben die Architekten von Marte.Marte in ihrem Entwurf gestalterisch entfernt. Der Schandfleck verschwindet – ganz nach dem Wunsch des Auslobers, «Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus [zu] beseitigen»2 – hinter dem schneeweissen Putz der neuen Polizeidienststelle.
Obwohl das Schicksal des Gebäudes damit besiegelt schien, nahmen die Vereinsgründerinnen die Wettbewerbsentscheidung zum Anlass, sich dem schwierigen Baukulturerbe zu widmen. Sie sammelten historische Dokumente, führten Interviews mit Wettbewerbsbeteiligten, trugen verschiedene Perspektiven und Standpunkte zusammen – thematisch und chronologisch strukturiert. Dem 2020 gegründeten Kollektiv geht es aber längst nicht nur um das besagte Bauwerk. Vielmehr ist es eine Protestform gegen eine höchst undemokratische Vorgehensweise.
Weder die Architekt*innen von Marte.Marte noch die Vertreter*innen des Innenministeriums folgten seit der Prämierung des Umbauprojekts der Einladung, sich einer öffentlichen Diskussion zu stellen. Stattdessen tagte auf der Bühne des MAK eine «Alternative Kommission», bestehend aus Expert*innen, die nicht an dem Architekturwettbewerb beteiligt waren: Darunter die Architektin Inge Manka, Historiker*innen Florian Kotanko, Laura Langeder und Florian Wenninger, Kulturtheoretikerin Elke Krasny sowie Kunstvermittlerin Nora Sternfeld. Es ging explizit nicht um Einigkeit, sondern um ein möglichst breites Positionsspektrum als Ideenquelle für «alternative Zukünfte».
Die Polizei als Garantin eines «historisch korrekten» Umgangs?
Darüber, wie die Normalität der oberösterreichischen Kleinstadt am Inn garantiert wird, entschied der Staat. Als neue Nutzerin der Räumlichkeiten soll die Polizei künftig die Attraktivität des Ortes für das rechtsgesinnte Publikum mindern. Die Symbolik der Polizeistation in diesem Kontext ist jedoch fragwürdig. Abgesehen von der strukturellen Verwicklung der Polizei in den NS-Terror steht die Abschreckungstaktik im Widerspruch zur gewünschten Unauffälligkeit. Das Gebäude hat während seiner knapp 350-jährigen Existenz schon allerlei Funktionen beheimatet: Gaststätte, Bücherei, Bildungseinrichtung und die Lebenshilfe Österreich. Die letzte Inhaberin hat der Staat aufgrund des Nichteinhaltens der baupolizeilichen Massnahmen enteignet. Wäre aber eine sozial engagierte und bürgeroffene Aktivität nicht viel mehr ein Dorn im Auge der Rechtsradikalen?
Die Schichten des conflict heritage
Ist ein Geburtshaus Kulturerbe? Im Zentrum dieser Frage steht das komplexe Konstrukt aus Architektur und dem kollektiven Gedächtnis. Conflict heritage ist dabei ein Begriff, der am Veranstaltungsabend oft fällt. Wie wird Architektur zu einer Pilger- oder Kultstätte? Würde der Ort seine Anziehungskraft behalten können, wenn das Gebäude nicht da wäre? Der Topos des Geburtshauses als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts koppelt das Immaterielle der Erinnerung an die Materie der Architektur. Geburtshäuser strahlen «imaginierte Intimität» aus, bestärken damit den Personenkult. Ihrer Mystifizierung zu entgehen ist daher schwierig. Im Falle des konkreten Gebäudes liegt das Problem nicht an der Architektur selbst, vielmehr ist es ein ortsgebundener emotionaler Konflikt. Insofern würde weder «Neutralisieren» noch ein Abriss das Haus verschwinden lassen. Der Versuch jeglicher Erinnerungsverweigerung ist schon deswegen ad absurdum geführt, weil ein Mahnstein vor dem Gebäude stehen bleibt.
Und dennoch – die Erinnerung und die Erinnerungskultur sind ein prozesshaftes Phänomen. Wie lange Braunau den Assoziationen an die NS-Geschichte ausgesetzt sein wird, ist daher ungewiss. Die Veranstaltung macht deutlich, dass es für solche beispiellosen Objekte wie Adolf Hitlers Geburtshaus keine Anleitung in Sinne des How-to geben kann und keine standardisierten Verfahren und Abläufe sich darauf als Blaupause anwenden lassen. Es ist auch der bisher holprige Umgang mit dem Ort, der ihn zur conflict heritage macht: weder wurden die Bürger*innen Braunaus in den Entscheidungsprozess einbezogen noch fanden Erkenntnisse anderer Disziplinen im Umgang mit problematischen Orten Berücksichtigung. Die Kluft zwischen Gedenken und Bedeutungslosigkeit kann Architektur allein jedenfalls nicht überbrücken. Während die Auswirkungen der Initiative auf das Bauprojekt offenbleiben, ist eines klar: Das Geburtshaus von Adolf Hitler ist in seiner Besonderheit kein Einzelfall. An ihm zeige sich, dass der Verdrängungswille «symptomatisch» für die Erinnerungspolitik Österreichs sei.3 Allein aus diesem Grund lohnt es sich, zu diskutieren.
1 Titel der Ausschreibung des Realisierungswettbewerbs mit vorgeschaltetem Bewerbungsverfahren durch die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), Dezember 2019
2 Ebd., S. 7.
3 Vorwort zur Online-Publikation Gebaute Verdrängung?,Verein Diskurs Architektur, März 2023