Lachen um nicht zu weinen
Interview mit Robert Venturi und Denise Scott Brown
erschienen in: archithese 13.1975, Las Vegas, S. 17–26.
1. Über Eklektizismus, Ironie und einige funktionalistische Mythen
Stansilaus von Moos: Vieles von dem, was Sie in den letzten Jahren projektiert und gebaut haben, hat einen eklektischen Beigeschmack. Architekten empfinden das irgendwie als frivol, als verwirrend. Denn sie gehen davon aus, dass Qualität in der Architektur zuallererst eine Frage der Originalität sei, dass, mit anderen Worten, ein Bau dann gut ist, wenn seine Form möglichst ohne Umschweife auf die Anforderungen des Programms Bezug nimmt. – Sie aber schämen sich nicht, beim Projektieren auf zahlreiche Vorbilder verschiedenster Herkunft zurückzugreifen, historische ebensogut wie volkstümliche oder kommerzielle Vorbilder – bis hin zu Las Vegas.
Robert Venturi: Zunächst eine allgemeine Bemerkung: jeder Architekt, jeder Künstler lernt von zahlreichen verschiedenen Quellen und Vorbildern, bewusst oder unbewusst und in verschiedenen Phasen seines Schaffens, und ich glaube nicht, dass man sagen kann oder dass man davon ausgehen kann, dass gewisse Quellen «richtig» seien und andere nicht. Was mich betrifft, so glaube ich, dass eine Architektur umso reicher und vielfältiger sein wird, je mehr Quellen ein Architekt hat, und ich würde niemals zum vornherein festlegen, dass eine Quelle besser sei als eine andere. Freilich, für uns waren bestimmte Quellen in bestimmten Phasen unseres Schaffens wichtiger als andere. Als wir – in den Jahren um 1960 – das Haus meiner Mutter projektierten, standen wir sehr stark unter dem Einfluss italienischer Architektur, besonders der Architektur des Manierismus; aber auch der «Shingle Style»1 spielte – mehr hintergründig – eine Rolle. Wir liessen uns anregen von so verschiedenen Bauten wie der Villa Barbara in Maser (Ich liebe ganz besonders die Rückwand des giardino segreto: ein geschwungener Giebel ohne Unterbau), von der Porta Pia und auch von der Villa Savoie, einem Bau, der trotz seiner strengen Hülle ausserordentlich komplex ist. Ich habe davon in meinem Buch Complexity and Contradiction in Architecture gehandelt. Seither haben wir dazugelernt. Das Gewöhnliche und die Folklore ist immer stärker in unseren Gesichtskreis getreten, und heute gehört die anonyme kommerzielle Architektur zu unseren wichtigsten Quellen.
Freilich, wir sind nach wie vor genügend orthodoxe «moderne Architekten» vom alten Schlage, um uns zu hüten, einen bestimmten Stil allzuwörtlich und vollumfänglich zu kopieren. Das ist einer der Gründe für unser Misstrauen gegenüber der sogenannten «White School»2 Diese Architekten kopieren Le Corbusier (den Le Corbusier der Zwanzigerjahre) noch wörtlicher als je ein eklektischer amerikanischer Architekt um 1900 beim Bau eines Wohnhauses oder einer Bank Bauernhäuser der Normandie oder italienische Palazzi kopiert hat. Ich glaube – auf die Gefahr hin, dogmatisch zu sein – dass die Einflüsse verschiedenartiger und weniger direkt sein müssen, um wirkliche und intensive Kunstwerke hervorzubringen.
S.v.M.: Mit anderen Worten: die Quellen selbst und die Werte, die sie verkörpern, scheinen Ihnen weit weniger wichtig als die Verarbeitung dieser Quellen zu etwas Neuem.
R.V.: Das ist richtig. Und das ist auch der Grund, warum wir Pop Art lieben: dem Pop Künstler kommt es nicht so sehr auf die gewöhnliche Realität an, derer er sich bedient, als auf ihre Verarbeitung – indem er den Kontext, den Masstab, die Proportionen verändert.
S.v.M.: Ist es das, was Sie im Auge haben, wenn Sie von Ironie sprechen?
R.V.: Nun, all das ist zum Teil ein bisschen als Spiel, als Scherz zu verstehen. Das heisst: wir arbeiten nicht wie jene «Battle-of-the Styles»-Architekten, die Stile für propagandistische Zwecke gebrauchten. Die Beobachtung von Stilen ist eine Art, über Architektur nachzudenken, die uns besonders anregend scheint, das heisst, die unser Schaffen stimuliert.
Denise Scott Brown: In unserem Buch über Las Vegas haben wir auf einen Aufsatz von Richard Poirier hingewiesen3, der davon handelt, dass in Joyce's Ulysses beinahe keine Stimme ertönt, die nicht irgendeine andere Stimme nachahmt. Die Summe dieser verfremdeten Stimmen ist Joyce. Joyce benützt ein Amalgam, eine Collage von Mimikry, um sich auszudrücken. Trotzdem käme es wohl niemandem in den Sinn, zu sagen, Ulysses sei nicht Joyces eigenes Werk, bloss weil es seiner Struktur nach «eklektisch» ist.
R.V.: Wissen Sie, wir sind gerade erst dabei, zur Symbolik in der Architektur zurückzukehren. Es ist sehr schwierig für uns, und neu. Wir wissen noch gar nicht, wie wir Symbolik in der Architektur handhaben sollen. Wir wurden als moderne Architekten im traditionellen Sinne ausgebildet: d. h. wir lernten, Symbolik und Ornament tunlichst zu vermeiden. So tasten wir im Dunkeln.
In meinem Falle spielt vielleicht die Tatsache eine Rolle, dass ich meine Ausbildung als Architekt in den Vierzigerjahren in Princeton bekommen habe – und nicht etwa in Harvard. In Princeton spielte Kunstgeschichte eine wichtige Rolle. Die Architekturabteilung war dem Fach Kunstgeschichte untergeordnet. Ich hatte ein natürliches Interesse an Kunstgeschichte. Aber zu jener Zeit herrschte an anderen Architekturschulen die Bauhaus-Methode, das heisst man schenkte historischen Bauten nicht allzuviel Aufmerksamkeit – abgesehen vielleicht von jenen, die Giedion als Vorfahren der Moderne legitimiert hatte.
S.v.M.: Als Kunsthistoriker fühle ich mich natürlich angesprochen durch das, was Sie sagen. Wäre ich ein Architekt mit einer traditionell modernen Ausbildung, so hätte ich vielleicht mehr Schwierigkeiten. Unter zahlreichen Architekten und Theoretikern herrscht heute ein geradezu ikonoklastischer Puritanismus, ein tiefes, grundsätzliches Misstrauen gegenüber Bildern schlechthin. Vor allem in Deutschland kann man etwa Dinge hören wie: Form lügt immer, Kunst lügt immer: sie ist Vorspiegelung, Verschleierung, und insofern Symbol – vielmehr: Instrument – der Unfreiheit. In einer solchen Perspektive bedeuten formale Spielereien in der Architektur nichts anderes als einen Versuch, den Fortschritt in Richtung auf ein Endziel sozialen Glücks aufzuhalten, eines Zustandes, wo die Menschen nackt sein werden und weder Kunst noch Rhetorik benötigen werden.
R.V.: Ich habe keine besonderen Kenntnisse auf dem Gebiet der Psychologie, aber es scheint mir doch ein unmöglicher menschlicher Zustand zu sein, in einer Umwelt zu leben, die keine Bezüge zu vergangenen Erfahrungen aufweist. Menschen scheinen ein grosses Verlangen nach der Sicherheit, dem Vergnügen und der Annehmlichkeit zu haben, die von Dingen ausgehen, die nicht absolut wesentlich sind. Das ist es doch, was zu einem Teil den Sinn von Kunst ausmacht, und was das Leben erträglich macht. Überdies: alles, was man lernt, lernt man durch Nachahmung. Schauen Sie einem kleinen Kinde zu. Was bisweilen so lustig und komisch ist im Verhalten von Kindern, das ist, dass sie die Form rascher und unmittelbarer verstehen als den Inhalt. Sie kapieren die Form, aber nicht den Inhalt, und die fehlende Korrespondenz zwischen Form und Inhalt ist es, was fasziniert und was uns lachen macht.
Wäre nicht Nachahmung ein so wichtiges Element im Zusammenleben der Menschen, so wäre jede Generation absolut primitiv – im unerfreulichen Sinne des Wortes.
D.S.B.: Das ist auch, warum wir den Aufsatz von Alan Colquhoun so gut finden.4 Ihm geht es darum, zu zeigen, dass Architekten, die glauben, sie könnten die Form unmittelbar von der Funktion ableiten – vielleicht mit einem kleinen Zustupf an Intuition – dass solche Architekten sehr naiv sind. Denn das Gehirn arbeitet ganz einfach nicht so. Um es mit seinen Worten zu sagen: Nicht nur sind wir alles andere als frei von Assoziationen an unsere Erfahrungen der Vergangenheit, wir würden auch eine wichtige Dimension unserer Kreativität lahmlegen, wollten wir versuchen, uns von diesen Assoziationen zu befreien. Dazu ist blass zu sagen, dass Architekten, die glauben, sie seien tatsächlich frei und unabhängig vom Einfluss bestehender Formen und Formensprachen in Wirklichkeit geradezu tyrannisiert werden von Formensprachen, die sie unreflektiert übernehmen; Formensprachen, die vielleicht gar nicht besonders geeignet sind im Hinblick auf die funktionellen Aufgaben, denen sich diese Architekten gegenübergestellt sehen.
2. Über Pop Art, Warenwelt und "Advocacy Planning"
S.v.M.: Sie haben einige Ihrer historischen Ouellen erwähnt und auch davon gesprochen, wie wichtig in den letzten Jahren die anonyme Sphäre des kommerziellen Bauens für Ihre Arbeit geworden ist. Können Sie noch etwas näher auf Ihre Quellen im zwanzigsten Jahrhundert eingehen? Welches sind die zeitgenössischen Künstler, welche Sie im Hinblick auf Ihre Arbeit als besonders wichtig erachten?
R.V.: Sie meinen Künstler, die heute arbeiten, und die wir schätzen?
S.v.M.: Ja, oder solche, die zwischen 1950 und 1970 arbeiteten und deren Werk sich als irgendwie bedeutsam für Ihr eigenes Schaffen erwiesen hat.
R.V.: Wir haben natürlich sehr viel von den Meistern gelernt: Aalto, Mies, Le Corbusier, Kahn. Überdies haben wir sehr viel von den Pop Künstlern gelernt: Warhol, Oldenburg, Johns, Rosenquist, Lichtenstein. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich Pop Art für mich «entdeckte». Als es aber soweit war, lernte ich sehr viel. Besonders wichtig war mir ihre Motivwelt, das gewöhnliche Element und seine Beziehung zu unserer Sensibilität. – Andererseits haben wir von den abstrakten Expressionisten nicht viel gelernt, im Gegensatz zu den NeoRealisten, die uns sehr interessieren. Die Konzeptkünstler wiederum interessieren mich nicht, in meinem schöpferischen Bereich. Aber ich versuche hier nicht, ein Kritiker zu sein: wir beobachten diese künstlerischen Bewegungen ganz eigennützig und benützen sie als Teil unserer persönlichen Lern-Umwelt.
D.S.B.: Um ein paar weitere Namen zunennen: da sind die – nach Fotographien gemalten – Architektur-Bilder von John Bader. Wir haben zusammen eine Sammlung alter Ansichtskarten angelegt und er hat seinerseits von Steve lzenour eine Reihe alter Originalaufnahmen von «White Towers» ausgeliehen, als Vorlagen für eine Reihe von Bildern.5 Ich sollte auch Mahaffey erwähnen, ein Maler aus Philadelphia, der schöne Architektur-Ansichtskarten als Vorlagen für seine Gemälde benutzt, z.B. eine Ansichtskarte nach dem Art Deco-Versicherungspalast gegenüber dem Museum in Philadelphia. Und vor allem Ed Ruscha aus Los Angeles, dessen Vision und dessen Interesse an kommerzieller Kunst dem unseren sehr nahekommen.
S.v.M.: Aus alledem könnte man schliessen, dass Sie mehr interessiert sind am amerikanischen Status Quo als daran, Möglichkeiten zu erproben, diesen Status Quo zu verändern. Auch von dem opulent aufgemachten Las VegasBuch geht dieser Eindruck aus. Aus europäischer Sicht will es nun doch scheinen, dass wer nach Las Vegas geht und Zeit darauf verwendet, den kommerziellen «Strip» zu studieren, schon ein merkwürdiges, ausgesprochen erotisches Verhältnis zur Konsumgesellschaft, zur Warenwelt haben muss. Ulrich Franzen – um nur ihn zu nennen – hat dieses Verhältnis «Nixonite» genannt.6 Ihm und vielen anderen modernen Architekten, die verkünden, dass es die Aufgabe des Architekten sei, für eine bessere, humanere, usw. Welt zu bauen, erscheinen Sie als Exponenten einer systemstabilisierenden Intelligenzia. Wie fühlen Sie sich in dieser Rolle?
D.S.B.: Das ist eine sehr lange Frage, umso schwerer zu beantworten, als sie so viele Gedanken auf einmal ins Bewusstsein ruft. Wir glauben, dass unsere Ideen im Sozialen verwurzelt sind und auf soziale Besserung abzielen. In unserem Buch sagte ich, im Rahmen einer ausführlichen Diskussion dieser Frage: «Werft uns nicht Mangel an sozialer Gesinnung vor. Wir versuchen, sozial wirklich relevante Kenntnisse und Fähigkeiten zu erlernen». – Aber unsere Kritiker zitierten nur die erste Hälfte dieser Feststellung: «Werft uns nicht Mangel an sozialer Gesinnung vor». Überdies wurde unsere gesamte Argumentation, die diese Feststellung unterstützt und ihr ihren Sinn gibt, einfach ignoriert.
Um Ihre Frage zu beantworten: es ist zunächst einmal wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der amerikanische Kontext sehr verschieden ist vom europäischen. Wir glauben, dass unsere sagen wir neo-populistische Position innerhalb des amerikanischen Kontexts eher eine Iinke Position ist als eine rechte. Andererseits tönen die Argumente unserer Kritiker wie linke Argumente in Europa – aber innerhalb der Situation in USA sind es nicht wirklich linke Argumente. In Wirklichkeit stellen sie eine Flucht vor der Realität dar, denn hier in Amerika fehlt ganz einfach die soziale und verwaltungstechnische Organisation, die dazu notwendig ist, um die vielen europäischen Ideen zur Sozialreform mit Hilfe von Architektur zu realisieren. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden in den Vereinigten Staaten im Durchschnitt ungefähr 20 000 Wohnungen pro Jahr im Sozialen Wohnbau gebaut. In den Siebzigerjahren liegt dieser Durchschnitt wahrscheinlich noch tiefer. In Anbetracht dieser Tatsache scheint uns die übliche moderne Architektur-Rhetorik über das «Bauen für die Armen» usw. als ein Umgehen der Realität, als eine Flucht. Und sobald man versucht, Ausschau zu halten nach Möglichkeiten, näher an die Realität heranzukommen, stellt man fest, dass es einfach nichts anderes gibt als innerhalb des Systems zu arbeiten – oder aber aufzugeben und Utopien zu entwerfen. Aber wenn man versucht, hier und jetzt Verbesserungen zu erzielen, so tönt das nach konservativer Politik, besonders wenn man versucht, mit Hilfe privaten Unternehmertums soziale Ziele zu erreichen. Es ist eine komplexe Situation, die wenig zu tun hat mit dem erhobenen Zeigefinger der neo-linken Architektur-Elite.
S.v.M.: Man könnte also sagen, dass die Aesthetik und die Ethik der modernen Bewegung direkt abhängt von der Möglichkeit, oder zumindest von der Hoffnung auf die Möglichkeit, unter einer Bürokratie arbeiten zu können, die imstande ist, umfangreiche Aufträge auf dem Gebiete des sozialen Wohnbaus zu vergeben. Da aber diese Möglichkeit in den Vereinigten Staaten nicht existiert, ist der soziale Reformismus der modernen Bewegung in Amerika auf weite Strecken irrelevant.
D.S.B.: Nicht nur irrelevant: er wird vom Establishment dazu missbraucht, sozial repressive Bauprogramme zu rechtfertigen. Ich kann Ihnen dazu ein Beispiel geben. Als wir von den Bewohnern eines ziemlich ärmlichen Stadtteils in Philadelphia aufgefordert wurden, ihnen bei dem Versuch zu helfen, den Bau einer Expresstrasse zu verhindern, sagte man uns: wenn Ihnen Las Vegas gefällt, so vertrauen wir auch darauf, dass Sie nicht versuchen werden, South Street auf unsere Kosten zu «sanieren». Wir wurden beigezogen, weil die Leute den Eindruck hatten, dass wir zunächst einmal daran interessiert sind, wie Städte tatsächlich aussehen, und dass wir verstehen möchten, woran es liegt, dass sie so und nicht anders aussehen – ohne allzuviele ästhetische und moralische Wunschvorstellungen. Diesen Leuten schien dies zumindest ein guter Anfang zu sein. Aber für viele Architekten ist das natürlich grundfalsch. Sie finden, der Architekt müsse «hingehen und dem Volk» kühne, saubere, moderne Wohnungen hinstellen. Nun haben wir ja gesehen, was passiert ist in den Vereinigten Staaten, wo diese kühnen, neuen Wohnungen aufgrund der entsprechenden sozialen Rhetorik gebaut wurden – nur leider nicht für die richtigen Leute. In der Tat spielte sich das ja im Allgemeinen so ab, dass die Bewohner eines armen Stadtteils das Feld räumen mussten, während ein vermöglicheres Publikum in neue, nach CIAM-Grundsätzen aufgestellte Wohnblöcke einzog. Sosehr die Modeme Bewegung sich dafür einsetzte, arme und benachteiligte Bevölkerungsgruppen in guten Wohnungen unterzubringen, so selten hat sie das auch tatsächlich zustandegebracht – und daher versuchen einige von uns, andere Methoden auszuprobieren. Wir haben Las Vegas studiert unter anderem weil die Leute (zumindest Leute, die dem Mittelstand und den unteren Schichten angehören) Las Vegas zu schätzen scheinen, jedenfalls mehr als sie jene Architektur schätzen, von der ihnen die Architekten sagen, dass sie sie eigentlich schätzen sollten. Eine sehr konfuse Antwort auf Ihre Frage ...
S.v.M.: Vielleicht eine konfuse Frage ...
D.S.B.: Nein, nicht Ihre Frage, die Sache selbst ist konfus. Unsere Antwort darauf ist, dass wir versuchen, so gut wir können der Verwirklichung unserer sozialen Anliegen näherzukommen, und zwar in der unmittelbaren Zukunft und mit Hilfe der Instrumente, die uns die Gesellschaft, die uns umgibt, zur Verfügung stellt. Als Künstler benützen wir im Hinblick auf diese Situation Ironie – vielleicht in einem ähnlichen Sinne wie jenem, den Poirier in seinem bereits erwähnten Artikel im Auge hatte, als er schrieb, dass der Künstler das Material für seine Kunst jener Welt entnimmt, die ihn umgibt. Wenn der Künstler mit seiner Welt im Einvernehmen ist, dann benützt er dieses Material geradeheraus und unmittelbar; wenn nicht, dann ironisch. Wir glauben, dass wir es ironisch verwenden: wir lachen, um nicht zu weinen. Wir sehen Ironie als ein Mittel, das dem Einzelnen helfen kann, in einer kulturell bunt durcheinandergewürfelten Gesellschaft zu überleben. Wir glauben, dass die Rolle eines sozial engagierten Künstlers oder Architekten in unserer Gesellschaft gar nicht so weit entfernt zu sein braucht von derjenigen eines Spassmachers.
Da haben Sie nochmals unser zwiespältiges Verhältnis gegenüber der Gesellschaft. In vieler Hinsicht ist sie entsetzlich, in vieler Hinsicht wunderbar – und dieser Zwiespalt schlägt sich in unserer Arbeit nieder als Ironie.
S.v.M.: - Also eine Art Galgenhumor, wie es ein deutscher Kollege, Michael Müller, in seiner Erwiderung auf Ihren Vortrag in Berlin7 ausdrückte?
D.S.B.: Ja, aber es ist zärtlicher, weniger böse als Galgenhumor. Wir sind nicht ganz und gar gegen diese Gesellschaftsform. Wir glauben, dass nicht nur unsere Position als amerikanische Architekten eine kompromittierte Position ist, sondern dass die Position der gesamten industrialisierten Welt kompromittiert ist – gegenüber der restlichen Welt. Daher sind wir gegen viele Aspekte unserer Gesellschaft ...
S.v.M.: ... aber Sie sind nicht apokalyptisch.
D.S.B.: Nein, schon aus Veranlagung nicht.
3. Über Monumentalität heute … oder: Probleme einer alternden Revolution
S.v.M.: Woran liegt es, dass die moderne Architektur mehr und mehr zu einem heroischen Habitus neigt? Wie kommt es, dass so viele neue Bauten, insbesondere in den Vereinigten Staaten, in Charakter und Tonart immer deutlicher an die Monumentalität, die Theatralik und den Pomp der Architektur der «City Beautiful»-Bewegung erinnert – trotz der anti-Beaux-Arts Theorie, die sie immer noch mit sich schleppt? Wie erklären Sie dieses Phänomen? – Ich stelle Ihnen diese Frage, weil mir scheint, dass Sie innerhalb der heutigen Architekturszene eine dem post-brutalistischen Heroismus extrem entgegengesetzte Position vertreten.
D.S.B.: Ich glaube, dass das, was wir heute zum Teil beobachten können, mit zwei Dingen zusammenhängt: mit dem revolutionären Eifer der modernen Bewegung einerseits und mit der Stosskraft einer Revolution, die in die Reaktion umkippt andererseits. Das heisst: der Eifer ist geblieben, aber die Revolution selbst ist zur Reaktion geworden. Ich glaube, das ist einer der Gründe für den heroischen Habitus der Modeme. Ich erinnere mich z.B. an das, was der italienische Architekt Albini einmal gesagt hat: dass die moderne Architektur das strahlende Licht gewesen sei, das ihm während der faschistischen Periode und während des Krieges am Leben erhalten habe. Nun, die Glut, die diesem Gefühl zugrunde liegt, wurde nun während mehreren Generationen weitergegeben, aber die Revolution selbst ist alt geworden und ins Lager des Establishments übergegangen.
Ausserdem ist die Architekturausbildung ausserordentlich autoritär, speziell in Amerika mit seinem Beaux-Arts-Hintergrund – mehr so als zum Beispiel England, wo es Schulen wie etwa die Architectural Association gibt. Architekten werden dazu ausgebildet, Führerfiguren zu werden. Sie haben soziales Prestige und halten sich für Gurus der Gesellschaft. Insofern sind sie genauso schlimm wie die Psychiater, jene andere grosse, autoritäre Berufsgruppe. Wir sind informiert, und Du kannst das nicht verstehen. Wenn du glaubst, dass du autofahren willst und draussen in der Vorstadt wohnen willst, so beweist das nur, dass du nichts verstehst: du solltest zu Fuss gehen und in einer Megastruktur wohnen. Das ist weitherum die typische Attitüde eines Architekten. Dazu kommt noch etwas anderes: in Amerika war Architektur von alters her eine Angelegenheit der Oberklasse, und eine Angelegenheit der Männer; das hängt zum Teil damit zusammen, dass, wer ein eigenes Architekturbüro eröffnen will, über ein zweites Einkommen verfügen muss. Es scheint uns auch, dass Gropius, als eine Art Preusse unter den modernen Architekten, sehr gut zu den Brahmins von Boston passte; dass hier eine Allianz von zwei verwandten Typen vorliegt. Und in der Tat hat sich die moderne Architektur in und um Harvard herum besonders fest etabliert und wurde auch von dort aus über das Land verbreitet.
Ein weiterer Grund für die gegenwärtige Arterienverkalkung in der Architektur liegt darin, dass sich die Architektenausbildung mehr und mehr vom Erlernen handwerklicher Fähigkeiten entfernt hat. Amerikanische Hochschulen haben keine Zeit mehr für eine sorgfältige Grundschulung in Baukonstruktion und Bauhandwerk; und eine Folge davon ist, dass wir eine moderne Architektur ohne traditionelle konstruktive Finesse und ohne Details bekommen. Ein Mann wie Mies aber war durch und durch Handwerker. Die nächste Generation hat dann diesen Sinn für das Handwerk bereits weitgehend eingebüsst; in der darauffolgenden Generation ist fast nichts mehr davon übriggeblieben. Es scheint mir, dass dieser Verlust der Grundlage im Handwerklichen ziemlich aufgeblasene Architekten und eine ziemlich aufgeblasene Architektur zur Folge hat.
S.v.M.: Ich verstehe Ihre Kritik an Gropius nicht ganz. Ich sehe ihn eigentlich nicht als den grossen, autoritären «Preussen» (ganz abgesehen davon, dass er wahrscheinlich dem, was Sie über den Verlust des Handwerks sagen, beipflichten würde). Er sagte einmal, dass die Farbe, die er am meisten liebe, «bunt» sei. Das ganze Bauhaus wäre undenkbar gewesen ohne seine im Grunde unautoritäre, pluralistische Einstellung.
D.S.B.: Ich spreche natürlich nicht von Gropius als Person, ich spreche von seinen Überzeugungen als Architekt.
R.V.: Seine Vorschriften für eine «totale» und «objektive» Umweltgestaltung8 haben einen stark puritanischen Zug; sie zielen auf eine Welt, in der architektonische Führerfiguren die «totale Landschaft» entwerfen, um eine totale Einheit zu erreichen, und zwar eine Einheit, die von oben, vom Experten her für die restliche Menschheit verordnet wird.
Ich bin ganz einverstanden mit dem, was Denise über die progressive, aber in Wirklichkeit rückläufige revolutionäre Glut gesagt hat. Es ist heroisch, ein Revolutionär zu sein; man riskiert sein Leben damit. Mir scheint, dass dieses heroische Gefühl irgendwie noch immer fortlebt, diese rhetorische Qualität, das Dogma einer Revolution. Wir leben in einer expressionistischen Periode, ich weiss eigentlich nicht warum; aber es ist eine Periode, die sich zum Teil in Form von Übertreibungen früherer Dogmas ausdrückt.
S.v.M.: Es scheint mir neben alledem noch etwas anderes eine Rolle zu spielen. Die Menschen scheinen sich wohlzufühlen in einer Umgebung, in der es auch Monumente gibt, die an heroische Ereignisse und Auseinandersetzungen erinnern. Das ist zum Teil der Sinn jener Tradition klassizistischer Formen in der amerikanischen «Staatsarchitektur» - oder zumindest der Tradition klassizistischer Strenge in der Architektur: sie will den Triumph von Ordnung und Gesetz, von staatlicher Kontrolle über Unordnung und Laissez-faire symbolisieren, und zwar vom 18. Jahrhundert bis hinauf zum Rathaus von Boston.
R.V.: Was Sie über Monumentalität sagen scheint mir richtig zu sein. Die Menschen wollen Rhetorik, sie wollen Ausdruck, sowohl in ihrem Leben als auch in ihrer Umwelt, und sie wollen die grosse, zur übersichtlichen Form zusammengefasste Aussage. Und das ist auch durchaus richtig so. Aber es könnte sein, dass heute, in dieser speziellen Epoche, niemand so ganz sicher weiss, was diese grosse Aussage sein könnte. Vielleicht sind die Grosskonzerne ihrer Sache ganz sicher gewesen – zumindest bis vor ein paar Monaten. Aber selbst sie sind etwas diskreter geworden; oft bemühen sie sich sogar, nicht allzusehr aufzufallen.
Ich bin mit Ihnen einverstanden, dass die Gesellschaft immer wieder grosse öffentliche Aussagen in Form von Architektur machen wollte – aber ich weiss ganz einfach nicht, was unsere grossen Aussagen in Amerika, heute, sein könnten. Es gibt eigentlich blass zwei Arten von volkstümlichen, leichtverständlichen Aussagen: Einerseits die architektonischen Bilder der Grosskonzerne, des Big Business, andererseits die Freizeit-Bilder, a la Las Vegas. Ich würde nicht sagen, dass wir heute dermassen verwirrt sind, dass wir darüber hinaus keine öffentlichen Aussagen – grosse, rhetorische Aussagen – haben können. Das wäre etwas zu einfach. Ich würde nicht so weit gehen, obwohl es klar ist, dass wir heute keine grosse, zur Form zusammengefasste architektonische Aussage machen können wie etwa diejenige von Chartres im 12. Jahrhundert. Das können wir aus verschiedenen Gründen hier in Amerika nicht haben. Schon deshalb nicht, weil wir nicht alle katholisch sind; wir haben eine extrem heterogene Gesellschaft, und wir befinden uns in einer Zeit der Verwirrung, wir sind in einer Art manieristischen Periode. So oder so: ich vermute, dass das Medium unserer öffentlichen Aussagen in Zukunft nicht Architektur sein wird. Unsere grossen öffentlichen Statements werden nicht im gleichen Sinne architektonisch sein wie etwa in Chartres, auf der Akropolis oder in Versailles – und auch nicht im gleichen Sinne wie das etwa noch in der amerikanischen Stadt des 19. Jahrhunderts möglich war, mit ihren Bahnhöfen und Rathäusern. Ich weiss nicht, wie sie tatsächlich aussehen werden – vielleicht werden es gewaltige öffentliche Plakatwände sein, oder gewaltige, 100 Meter hohe Skulpturen, a la Oldenburg, entsprechend dem neuen räumlichen Masstab und der Geschwindigkeit in unseren Städten. Jedenfalls glaube ich, dass die Lösung des Problems nicht mehr reine Architektur sein wird (natürlich war es auch in der Vergangenheit nicht reine Architektur). Und ich glaube auch, dass die Monumente der Grosskonzerne irgendwie irrelevant sind. Ich glaube, dass sehr vieles auf dem Gebiet unserer heutigen Architektur-Monumentalität leere Pose ist, im Gegensatz zu wirklich wirksamer Rhetorik.
D.S.B.: Man hat jahrelang nach einer «Aussage» gesucht für die amerikanische Zweihundertjahrfeier (1976): aber man hat nichts Überzeugendes gefunden.
S.v.M.: Wird es eine Multi-Media-Veranstaltung werden?
R.V.: Nun, das ist eine interessante Art, das Problem anzugehen – denn in den vergangenen hundert Jahren waren Weltausstellungen eher Mono- als Multi-Media-Veranstaltungen, nicht wahr? Jedenfalls waren es Veranstaltungen, welche die industrielle Revolution verherrlichten, mit Hilfe einer fortschrittlichen, technischen Architektur – wie sie von Giedion beschrieben wurde. Heute ist das nicht mehr so: wir haben keinen Kristallpalast, keine Galerie des Machines und keinen Eiffelturm. Heute sind auch Buckminster Fuller und Frei Otto ziemlich langweilig. Die wirklich interessanten Dinge an unseren Weltausstellungen ereignen sich auf dem Gebiet des Films und des Fernsehfilms; demgegenüber sollte die Architektur nichts weiter sein als ein zurücktretender Hintergrund für die nationalen und internationalen Darbietungen einer derartigen Messe. Die Architektur sollte das, was sie ausdrücken will, nicht mit Hilfe ihrer Formen ausdrücken, sondern mit Hilfe ihrer Zeichen. Die Zeichen und die Botschaften sollten ein «Applique» sein. Sie konstituieren eine Umgebung, die aus Mitteilungen, und nicht aus «reiner» Architektur besteht. Die verspätet heroischen ArchitekturMonumente, die wir zuvor erwähnt haben, sind nicht mehr als die letzten Züge der reinen Form, die überaus langweiligen letzten Atemzüge.
D.S.B.: Die grossen öffentlichen Aussagen oder Bekenntnisse könnten Dinge sein wie z.B. der Versuch, endlich einmal das Problem der Armut anzupacken. Philadelphia schlug im Hinblick auf die Zweihundertjahrfeier vor, dass ein grosser Teil der städtischen Ausgaben Sozialprogrammen zufliessen sollte, um die schlimmsten Misstände in der Stadt zu beseitigen. Aber Washington wollte davon nichts wissen. Seither herrscht hier ein Gefühl, dass es 1976 nicht besonders viel zu feiern geben wird, sofern nicht zuerst diese sozialen Massnahmen ergriffen werden. Unsere eigenen Vorschläge für eine Zweihundertjahrfeier-Ausstellung, bestehend aus Ausstellungsschuppen und Zeichen, sind vor diesem Hintergrund zu verstehen
(Philadelphia, Oktober 1974)
1 «Shingle-Style»; der Begriff charakterisiert eine Reihe entwicklungsgeschichtlich wichtiger amerikanischer Wohnhäuser des späten 19. Jahrhunderts, die in der Tradition der «Arts and Crafts»-Bewegung stehen. (Vgl. Vincent Scully, The Shingle Style, New Haven, 1955).
2 Oder: die sog. «New York Five»: Peter Eisenmann, Michael Graves, Charles Gwathmey, John Hejduk, Richard Meier; vgl. versch. Autoren, Five Architects, New York, 1972.
3 Richard Poirier, «T. S. Eliot and the Literature of Waste», in The New Republic, 20. Mai 1967.
4 Alan Colquhoun, «Typology and Design Method», in: Arena, Juni, 1967, S. 11-14; abgedr. In: Charles Jencks und George Baird, Meaning in Architecture, New York, 1969.
5 Vgl. Paul Hirshorn und Steven lzenour, «Learning From Hamburgers», in: Architecture Plus, Mai 1973.
6 Ulrich Franzen, «Letter to the Editor», in: Progressive Architecture, April, 1970, S. 8.
7 «Functionalism Yes, But ... ». Vortrag im Rahmen eines vom Internationalen Design Zentrum (IDZ) Berlin veranstalteten Symposions zum Thema «Das Pathos des Funktionalismus», Sept. 1974.
8 Vgl. Walter Gropius, Scope of Total Architecture, New York, 1943 ff.
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese 13.1975 Las Vegas.