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Nicht abreissen! Pritzker-Preis 2021 für Lacaton Vassal

Keine Vernichtung von grauer Energie, keine Luxussanierungen: Diesem Credo folgen Lacaton Vassal seit der Zeit ihrer Bürogründung 1987. Dass sie dafür jetzt den wichtigsten Architekturpreis erhalten, sollte dazu ermutigen, soziale und ökologische Verantwortung in der Architektur ernst zu nehmen.

 

Text und Fotos: Hubertus Adam – 17.3.2021

 

Nicht immer in der Vergangenheit mochte man die Entscheidung der Pritzker-Preis-Jury gutheissen. Doch in diesem Jahr ist die Auswahl auf die Richtigen gefallen: Mit Anne Lacaton, 1955 im französischen Saint-Pardoux geboren, und Jean-Philippe Vassal (Casablanca, 1954) wird ein Architekturduo geehrt, das Fragestellungen, die sich heute mit aller Deutlichkeit stellen, schon seit Jahrzehnten verfolgt. Angesichts der Corona-Krise, die viele Menschen in die räumlich beschränkten vier Wände zwingt, sind Lacaton Vassal mit ihrem humanen und ökologischen Verständnis des Wohnens sozusagen das Büro der Stunde.

 

Ursprünge
Immer wieder verweisen sie auf die Lektion der Jahre, die insbesondere Vassal nach dem Studium an der Ecole Nationale Supèrieure d’Architecture Bordeaux im westafrikanischen Niger verbrachte. Hier entstand 1984 das erste gemeinsame, aus Stroh und hölzernen Pfosten errichtete Wohnhaus, das mit einer runden Hütte, einer diese konzentrisch umgebenden Wand und einem separat stehenden schattenspendenden Dach auf das Klima vor Ort reagiert. Bekannt in der Szene werden sie aber durch die Maison Latapie, ein zweigeschossiges Wohnhaus in Floriac (1993): eine eigentlich simple Box aus einfachen Materialien, deren Wellblechverkleidung sich zur Strasse hin vielfach aufklappen lässt, während sich auf der Rückseite ein luftiges Volumen aus transparenten Wellpolycarbonatplatten anschliesst. Diese geschützte Pufferzone, die wie ein Gewächshaus wirkt, macht den eigentlichen räumlichen Luxus des Projekts aus, das mit mehr als 180 Quadratmetern Wohnfläche lediglich 55'000 Euro kostet und damit lediglich den Bruchteil eines handelsüblichen Fertighauses. Die Landschaft ins Haus zu holen, gelang auch fünf Jahre später mit einem Haus in Cap Ferret, bei dem die auf dem Grundstück stehenden Pinien, welche die Bodenerosion in der Dünenlandschaft verhindern, erhalten blieben und – mit beweglichen Manschetten versehen – die Dachhaut durchstossen. Glashausähnliche Anbauten, die zwischen innen und aussen oszillieren, werden gewissermassen zum Markenzeichen von Lacaton Vassal. Sie finden sich beispielsweise  bei ihren zweigeschossigen Bauten in der Cité Manifeste in Mulhouse (2005), die anlässlich des 150jährigen Jubliläums dieser erster grossen Arbeitersiedlung in Frankreich entstehen. Eine Dekade später errichten Lacaton Vassal einen grossen Geschosswohnungskomplex in einem anderen Viertel der Stadt.

 

Gekonnt saniert
Ihr bisheriges Schaffen aber kulminiert in den Sanierungen von Grosswohnanlagen der Spätmoderne. Wegweisend war der Umgang mit der Tour Boil-le-Prêtre im Norden von Paris: Der 1958-61 errichtete Wohnturm des Architekten Raymond Lopez wurde mit einer raumhaltigen Schicht aus Wintergärten und Balkonen umgeben, welche als thermische Pufferzonen fungiert, herkömmliche Wärmedämmung überflüssig macht und überdies die kleinen Wohnungen durch die differenzierten Aussenräume und den Zugewinn an Wohnfläche aufwertet. Während viel zu oft Abriss und Neubau als unvermeidlich dargestellt werden, beweisen Lacaton Vassal in Paris, aber etwas später auch mit dem Ensemble Grand Parc in Bordeaux (2017), dass es auch anders geht. Die städtischen Figuren der Gebäude bleiben erhalten, die graue Energie gewahrt. Wichtig aber ist auch die soziale Komponente: Dank der kostengüstigen Sanierung mit Standardelementen konnten die Bewohner*innen im Haus bleiben. Keine Luxussanierung also – und keine Privatisierung. Sozial zu bauen, das kann heute nicht mehr bedeuten, Kleinstwohnungen für das Existenzminimum zu erstellen. Wie wichtig Aussenräume sind, wie wichtig eine gewisse Flexibilität ist, hat sich spätestens seit Beginn der Pandemie gezeigt. Inspirationen, wie sich mit dem Verhältnis von innen und aussen sowie mit der Nähe zwischen den Wohnungen umgehen lässt, haben Lacaton Vassal nicht zuletzt in japanischen Städten gefunden, in denen sich Hyperurbanität mit dörflichen Strukturen verbindet.


Einfach und flexibel
Einen weiteren Schwerpunkt im Œuvre der Architekt*innen stellen Kulturbauten dar. Beim Umbau des Palais de Tokyo entkernten sie die bestehende Struktur des Gebäudes von 1937 bis zum Rohbau und zeigten, dass funktionierende Museumsräume auch ohne die heute übliche technische Hochrüstung und elaborierte Materialisierung zu haben sind. Beim FRAC Dunkerque (2013) ergänzten sie die Struktur eines bestehenden Werftgebäudes um ein gläsernes Volumen gleichen Zuschnitts. Äusserst beeindruckend ist überdies die Ecole Nationale d’Architecture in Nantes (2009): Programmatisch klar bestimmte Raumzonen sind hier mit flexiblen Volumina kombiniert, und überdies zieht sich eine integrierte öffentliche Promenadenrampe entlang der Fassaden bis hinauf zum Dach. Ein Betonskelett fungiert als Primärstruktur, grosse Fassadenelemente aus transparenten Polycarbonatplatten sind verschiebbar und erlauben variable Öffnungen.
Mir ihrer strukturell gedachten, auf einfache Materialien fokussierten und sich damit von der auch in Frankreich lange tonangebenden High-Tech-Ästhetik absetzenden Architektur haben Lacaton Vassal grossen Einfluss auf eine jüngere Architekt*innengeneration in Frankreich, zu der unter anderem Bruther oder Muoto zählen. 2017 bis 2020 lehrte Anne Lacaton an der ETH Zürich, und im vergangenen Jahr wurde ihr erstes Schweizer Projekt fertiggestellt, die Tour Opale in Chêne-Bourg.

 

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