Eine Kultur der Verzweiflung
Reflektionen über «postmoderne» Architektur
Autor: Howard Harris & Alan Lipman – erschienen in archithese 1988.3 Architektur für's Volk, S. 12–16.
«Den Leuten gefällt die moderne Architektur nicht» – dieses Wort kennen wir alle. Selbst Königliche Hoheiten, die auf Unruhe im Volk ja immer sensibel reagieren, haben die Losung aufgenommen: Der zukünftige Souverän Grossbritanniens hat, einer königlichen Verpflichtung gehorchend, sich die Zeit genommen, seinem Royal Institute of British Architects (RIBA) einige Vorwürfe zu machen:
«... Viele Architekten haben die Gefühle und Wünsche der meisten gewöhnlichen Menschen in unserem Lande ständig ignoriert. ... Warum können wir eigentlich nicht jene Rundungen und Wölbungen haben, die ein gestalterisches Gefühl ausdrücken? Was ist denn so falsch daran? Warum muss alles vertikal, gerade, resolut, rechtwinklig – und funktionell sein?»1
Dass sich hier eine schöne Einigkeit zwischen Prinz und Volk zeigt, ist auch keineswegs unbemerkt geblieben:
«... Die brillante Rede des Kronprinzen am Bankett aus Anlass des 150. Gründungstages des RIBA ... besiegelt das Schicksal der modernistischen Sache in Großbritannien ... Der Prinz hat der Stimme des Volkes Folge geleistet und seine Macht weise dafür benutzt, sich für die Gefühle des Volkes einzusetzen.»2
«... Brot und Zirkusspiele - das funktioniert immer. ... Die Gedanken von Charles Windsor dürften niemanden überrascht haben ... Verachtung und Beleidigung sind im mer wieder die königlichen Münzen, mit denen Ihre Majestäten auf Schmeichelei und Kriecherei herausgeben. ... Indem er simplifizieren sagte, der Architekt sei an allem schuld, bediente sich Charles einer alten königlichen Strategie, die darin besteht, sich scheinbar mit den Massen zu solidarisieren, in Wirklichkeit aber den gleichen Cliquen vom rechten Flügel ... zu dienen, die eine Renaissance der «classic centralist architecture» vorantreiben.»3
Die privaten Schwierigkeiten des Architektenstandes sind wieder einmal öffentlich geworden - wieder einmal sind die Krisen der zeitgenössischen Architektur blossgelegt. Der soziale Inhalt der gestalterischen Praxis – die Frage, die allen Problemen der ästhetischen Form zugrundeliegt – steht wieder zur Diskussion.
Antimodernismus – einer Kultur der Verzweiflung entgegen
Die Moderne ist, so hören wir, gescheitert: Zumindest hierüber besteht Einigkeit, von der Neuen Rechten bis zu einigen Réduits der Linken. Und was für ein reiches Verhältnis, was für eine freundliche Beziehung das ist! Da haben wir Tom Wolfe, den urbanen, geistreichen Vertreter der transatlantischen Rechten; wir haben sein Werk «From Bauhaus to Our House», seinen markanten, seinen voreingenommenen Lauf durch die westliche Architektur des 20. Jahrhunderts. Wir haben, zum Beispiel, seine xenophobische Beschreibung der «nichtbourgeoisen Moderne»; seine gekünstelte Feindseligkeit dem Un-Amerikanischen, der Proletkult-Ästhetik gegenüber.4 Und was noch mehr ist, wir haben die Tribune - manchmal die Stimme einer entschlossenen Linken -, die diesen modischen Konservatismus freudig begrüsst:
«... Der Verfall begann mit der einflussreichen Bauhaus-Gruppe, diesem Verein überra tionaler Europäer (hauptsächlicher Deutscher, aber man vergesse nie den Schaden, den Le Corbusier angerichtet hat), der aus der Architektur statt einer Kunst eine Ideologie gemacht und dabei die Vorstellungskraft verkrüppelt hat.»5
Wir haben Roger Scrutons Parodien des Modernismus in jener anderen Tribüne des Volkes, in der Times:
«... eine der grössten Katastrophen, die die Welt in Friedenszeiten je erlebt hat: Das Aufkommen der modernen Architektur. ... Das Bauhaus, Mies, Fry, Le Corbusier ... Die leninistischen Ideen des russischen Konstruktivismus und das Bauhaus wurden in Architektenschulen gelehrt ... wurden von einer jüngeren Generation gleichgesinnter Verrückter studiert.»6
Und wir haben die Echos von Conrad Jameson, dem früheren Kunst-Redakteur des New Socialist.7 Noch vieles in dieser Art. Wir haben Leon Krier – den Le Corbusier der Neuen Rechten8 –, der seine modernistischen Vorgänger tadelt:
«Der Modernismus hat eine bedeutungslose Uniformität und eine uniforme Bedeutungslosigkeit gezeugt. Mies und Aalto sind wirklich feine Spiessgesellen. Starrer Puritanismus und bizarrer Expressionismus ... sind Symptome der gleichen geistigen Zerrüttung ... Auschwitz, Birkenau und Milton Keynes sind Kinder der gleichen Eltern ...»9
– ein Bild der modernen Architektur, das – wenn auch frei von seiner Hysterie – in alarmierender Weise an Peter Fullers «Ästhetik» erinnert.10 Und das ist noch immer nicht alles. – All dies erhält nun prinzliche Zustimmung in Bürger Charles Windsors Rede am Royal Institute of British Architects und durch die Unterstützung seines neu entdeckten Schreibgehilfen, Jules Lubbock vom New Statesman.
Wer hätte je gedacht, dass sich – in einer Zeit, da wir mit dem Monetarismus kämpfen und der Bedrohung des nuklearen Winters standzuhalten versuchen – die Hoffnung der Menschen auf eine Kritik der modernen Architektur konzentrieren würde! Wer hätte je erwartet, dass eine solche Kritik zur Auflösung des Widerspruchs werden könnte, Balsam für den Klassenkampf, Urheber einer Übereinstimmung! Wer hätte vorausgesehen, dass die radikale Rechte – mit Hilfe aristokratischen, königlichen Nachhilfeunterricht – so leicht Verständnis bei der Linken finden wr de! Wer hätte geahnt, dass dies das Ende der Marxschen «Vorgeschichte der Menschheit» sein könnte, die negierte Nation!
Eine emanzipatorische Zukunft lässt sich weder von der Rechten fassen, die vor ihr zurückschreckt, noch von jenen auf der Linken, die es offenbar aufgegeben haben, nach ihr zu streben. Der Modernismus ist passé, sein Versprechen hat sich als hohl erwiesen. Die moderne Architektur ist jetzt Anathema; ihre Pioniere werden verurteilt, ihre Verfechter fallengelassen, ihre Prinzipien geleugnet, ihre Praxis verunmöglicht.
Natürlich ruft die moderne Architektur tiefe, oft heftige Abneigung hervor. Sie zeigt sich in zwei deutlich unterscheidbaren Linien, die wir im postmodernistischen, im anti modernen Denken finden: einerseits in der Desavouierung der formalen Charakteristiken, der «Ästhetik» des Modernismus:
«... muss alles vertikal, gerade, resolut, rechtwinklig – und funktionell sein?»
und andererseits in der Ablehnung seines sozialen, utopischen Potentials:
«... diesem Verein überrationaler Europäer ..., der aus der Architektur statt einer Kunst eine Ideologie gemacht ... hat».
Solche als selbstverständlich hingenomme nen Trennungen zwischen Form und Inhalt sind nur allzu bekannt. Sie sind alltäglich. Zeitgenössische Architektur-Kritiker und -Theoretiker versuchen ständig, die Architektur aus ihrem sozialen und historischen Kontext zu verdrängen; sie versuchen, die materiellen Produkte - Gebäude - schon rein begrifflich dem sozialen Prozess zu entfremden – jenen Prozessen, aus denen heraus Archi tektur überhaupt erst entstehen kann.11 Wir haben es also ganz einfach mit Ästhetizismus, mit Formalismus zu tun - mit einer Unterdrückung des sozialen Inhalts.
Diese Unterdrückung des Inhalts beginnt mit Philip Johnson: Johnson, der den «International Style» propagierte (er prägte auch den Ausdruck); Johnson, der zusammen mit Mies van der Rohe solche modernistische Monumente schuf wie das Seagram Gebäude; Johnson, der Doyen der post modernen, transnationalen Wolkenkratzer Architektur, der sich nun von der Vergangenheit lossagen will:
«Wir glaubten wirklich, in einem fast religiösen Sinn, daran, dass sich die menschliche Natur vervollkommnen liesse, wir glaubten an die Rolle der Architektur als einer Waffe der sozialen Reform. ... das kommende Utopia, in dem jeder in einem billigen, vorfabrizierten Flachdach-Reihenhaus leben würde - das Paradies auf Erden.»12
Lossagungen dieser Art haben den Weg für eine neue Generation von Anti-Modernisten freigemacht:
«... Ich glaube ..., das gesamte Dogma der modernen Architektur, von den 1920er Jahren bis in die 70er Jahre, war das Werk von Salonrevolutionären, die sehr gut waren in der Produktion von moralistischen, irrelevanten Normen, aber schwach im Hervorbringen von Ideen, wie das Hier und Jetzt verbessert werden könnte. ... Der Ausdruck radikaler Chic ... kann auf einen grossen Teil der sozialen Rhetorik in der modernen Architektur angewandt werden.»13
«Die modernistische Theorie war utopisch ... in ihrer Ausrichtung: Sie wollte durch rationales Denken und die neugefundenen Werkzeuge ihres technisch fortgeschrittenen Zeitalters eine Welt schaffen, die im sozialen Bereich wie der Natur gegenüber eine bessere Welt wäre ... Die vergangenen Jahrzehnte haben eine langsame Erosion solcher ... Vorstellungen gebracht. ... Hinter dieser anti-utopischen Einstellung steht die Überzeugung, dass die Architektur mehr gewinnen kann, wenn sie mit dem arbeitet, was sie «ist», als mit dem, was sie «sein sollte», wenn sie sich mehr mit der Unordentlichkeit und der Unvollkommenheit der Gegenwart beschäftigt als mit der Klarheit und Ordnung einer idealen Welt. Sie widerspiegelt das wachsende Bewusstsein dafür, wie gering der Einfluss der Architektur auf den Geschmack und die Vorlieben ihrer Benützer ist, wie auch dafür, dass das Ziel einer lebenswerteren Umwelt nicht verlangt, die Architektur solle revolutionär sei, sondern sie solle mehr als bisher ein Produkt gemeinsamer Sensibilität sein.»14
Was bleibt, wenn das Streben nach einer besseren Welt aufgegeben wird? Wohin wenden sich die Architekten, wenn Moralität und rationales Denken als veraltet betrachtet werden? Was sollen die Designer tun, wenn ihnen klar wird, dass Hoffnung bedeutungslos ist?
«Das Formalistische in der Post-Moderne kann ... sogar manieristisch sein. Das Problem besteht darin, dass es den Leuten gefällt. ... Es gefällt ihnen so gut, dass sie bereit sind, dafür zu zahlen. Es ist, selbst nach den rigorosen kommerziellen Kriterien, auf denen die amerikanische Gesellschaft beruht, ungeheuer erfolgreich. ... «Der Bauunternehmer hat der Öffentlichkeit und, was wichtiger ist, den Banken bewiesen, dass gute Architektur ein gutes Geschäft ist» ... Die Anti-Modernen ... reagieren nicht auf eine visionäre Beschwörung dessen, was sein könnte, sondern auf das, was ist und was war ... «Es geht darum, den Leuten, die das Sagen haben, zu zeigen, dass es profitabel sein kann, etwas richtig zu tun. Offenbar kann so gar der Kapitalismus dazu gebracht werden, dass er etwas für die Menschen tut. ... Wir sind nicht etwa unmoralisch. Moralität ist ganz einfach nicht das, worum es geht. Architektur hat damit zu tun, Architektur hervorzubringen.»15
Das Vorgehen scheint klar: Bisher hochgehaltene Ideale werden von engagierten Modernisten über Bord geworfen; wer sich trotzdem noch diesen Idealen verpflichtet fühlt, wird gebrandmarkt; der Begriff des Engagiertseins wird fallengelassen - der Weg zum postmodernen Erfolg ist frei. Und die ent sprechende «populäre» Ästhetik liegt auch schon bereit:
«Als nächstes sollten wir das Wesen dieser postmodernistischen Kritik untersuchen. Trotz ihres schrillen Tons ist sie im wesentlichen eher ein evolutionäres als ein revolutionäres Phänomen. Sie postuliert keine radikalen neuen Sehensweisen, keine neuartigen Design-Methoden; im Gegenteil, häufig schaut sie zurück auf die Formen und Prozesse der Vergangenheit und leitet daraus Empfehlungen für die Zukunft ab.»16
Warum regen wir uns darüber so auf? Schliesslich kennen wir doch alle das Wort: «Den Leuten gefällt die moderne Architektur nicht». Wie sollte es auch anders sein; nur wenige hatten etwas zu sagen, als die behelfs mässigen, kitschigen Gebäude errichtet wurden, die man uns angedreht hat. Wenige finden deshalb auch etwas Lobenswürdiges an der wertlosen Architektur des Konsum-Kapitalismus. Unsere Beunruhigung und unser Zorn gründet in der Art, wie die tägliche Ablehnung dieser ordinären Architektur manipuliert wird.
Womit wir es hier zu tun haben, das ist ganz einfach eine populistische Bewegung: Eine idealisierte, meist mythische Vergangenheit wird heraufbeschworen, die eine zerfallende Gegenwart vor einer Zukunft der Angst schützen soll. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Aristokratie hier ihres Amtes waltet - dieses Überbleibsel ohne Zukunft, dessen widersinnige Präsenz der ständig neu en Zurschaustellung von Privilegien ent- springt. In der gleichen Art beschwört Tom Wolfe in den USA für uns die vornehmen, mit Säulengängen dekorierten Landsitze der Plantagenbesitzer herauf, eine Architektur aus «Vom Winde verweht» – eine Ästhetik, die offenbar von der Sklaverei nicht beeinträchtigt wird.17 Bei uns in Grossbritannien, wo die viktorianischen Werte gross in Mode sind, übergeht Jules Lubbock vom New Statesman grosszügig die Trostlosigkeiten des Britischen Empire, um «die grossartige viktorianische Erneuerung der Stadt» hinauszuposaunen, um die Ästhetik des imperialen Bankenbaus des 19. Jahrhunderts zu verteidigen.18 Sein Prinz, der unsere Sehnsüchte nach einer Renaissance-Vergangenheiter kannt hat, plädiert unterdessen für «jene Rundungen und Wölbungen, die ein gestalterisches Gefühl ausdrücken»; mit einer königlichen Empfindsamkeit, die seit Karl I. nicht ihresgleichen hatte, ruft er nach einer «natürlichen Bevorzugung traditioneller Gestaltungsmerkmale», beschwört er die Nostalgie eines Landadels herauf.19 Der Klassizismus der Privilegien und der Aufklärung wird aufgeboten, um die Konsumgesellschaft gegen sozialen Wandel abzuschirmen. Das alles natürlich im Namen «des Volkes». Dies ist das Wesen des postmodernistischen Angriffs, der populistischen Attacke gegen die Architektur des Modernismus.
Es gibt natürlich zwei verschiedene moderne Architekturen. Die eine erscheint in gelehrten Büchern in Form von Werken der Inspiration, in Form von hervorragenden Gebäuden der Moderne, die nur wenige von uns überhaupt je sehen, in denen noch weniger je arbeiten oder wohnen. Dies sind die Avantgarde-Gebäude des frühen 20. Jahrhunderts, aus einer Zeit, da zum erstenmal Architekten sich mit den Problemen der Bevölkerungsmassierungen, der industriellen Produktion und des technischen Fortschritts auseinandersetzten. Es ist dies eine Architektur des Wandels; aus einer Zeit der Revolution, der zusammenbrechenden Reiche, der sozialistischen Hoffnung – der Zukunft. Dies ist die Architektur der Gründer der Moderne; Wirklichkeit gewordene Träume einer kulturellen Elite. Dies sind Gebäude, in denen ihre Schöpfer utopische, sogar sozialistische Ideale versuchten.
Und was ist geschehen? Im «sozialistischen» Osten – Ablehnung, Ausstossung, Exil; der soziale Inhalt gewaltsam von der Form getrennt, deformiert. Im «freien» Westen – Einverleibung: eine Architektur der Niederlage, der ästhetischen Form, die gewaltsam vom sozialen Inhalt getrennt wird. Dies ist natürlich die zweite moderne Architektur, jene, die uns nur allzu geläufig ist, in der wir leben und arbeiten. Dies ist das Wohnviertel der physischen, individuellen, sozialen Isolation – die geplante Siedlung, Nachbar schaft ohne Gemeinschaft. Dies ist Stadter neuerung, neuerrichtetes Stadtzentrum – Banken, Bürogebäude, Finanzzentren ... Einkaufszentren. Dies ist die neue Fabrik: eine feingearbeitete Hülle um ein nacktes, billiges Inneres - Ausbeutung in einem zur Landschaft gewordenen Industrieviertel. Dies ist die Moderne der Spekulanten, die Architektur des Profits, der Freien Marktwirtschaft – aufgeblasene Opulenz für die wenigen und beengten Räume, minderwertige Materialien, Pfuscharbeit für den Rest. Es ist eine miserable Architektur. Allerdings ist es für viele auch eine miserable Gesellschaft.
Und die Reaktion der Post-Moderne? Nun – die Architektur ist dabei, die Architektur populär zu machen.
Post-Modernismus – Architekturen der Entfremdung
Die architektonische Vorstellungskraft, die nun endlich vom Modernismus befreit ist, hat sich an die Arbeit gemacht. Praktiker, Kritiker und Theoretiker sind eifrig dabei, populäre Architekturformen zu schaffen, zu klassifizieren und zu propagieren: vom Neo Produktivismus zum Ad-Hocismus, vom Neo-Rationalismus zum Kritischen Regionalismus, vom Free-Style-Classicism zum Anthropomorphismus, vom Kontextualismus zum Romantischen Pragmatismus, vom Metabolismus zu High-Tech, von Bricolage zu...20 Von diesen taxonomischen Feinheiten abgesehen gibt es für uns im wesentlichen zwei Dimensionen des postmodernistischen Denkens, die offen populistische und die aristokratische.
Die populistische: Las Vegas, Höhepunkt des populistischen Unternehmens, und Robert Venturi, der populistische Architekt par excellence - es ist kaum überraschend, dass er sich gerade Las Vegas zum Vorbild genommen hat. Hier, so lesen wir, ist ein Massstab für die Nicht-Moderne.21 In «Learning from Las Vegas» erklären uns Venturi und seine Mit-Autoren22, dass die Pioniere der Moder ne, nachdem sie sich vom architektonischen Vorbild abgewandt haben, ihre gestalterischen Grundsätze und ihre Praxis vor allem auf technologischen Kriterien abstützten:
«Die Formen der modernen Architektur sind auf Kosten ihrer symbolischen Bedeutung geschaffen worden, die sich von der Assoziation ableiteten ... Die frühen modernen Ar chitekten verachteten das Prinzip der Erinnerung “des Symbolismus” ..., lehnten Eklektizismus und das gewollt Stilvolle ... “in ihrer” beinahe ausschliesslich auf der Technikberuhenden Architektur ab.»23
Diese Ketzerei wurde noch weitergetrieben durch die Modernen der «zweiten Generation», die anscheinend die kommerzielle Ikonographie verachteten:
«Die Symbol-Systeme, die von den kommerziellen Künstlern von Madison Avenue entwickelt wurden und das symbolische Ambiente der wuchernden Stadt darstellten, wurden von ihnen nicht anerkannt.»24
Die schärfste Kritik jedoch attackiert die «gegenwärtige moderne Architektur», die zeitgenössischen Modernisten. Sie verraten offenbar einen hemmungslosen Widerwillen gegen kommerzielle Werte, gegen Symbole des Merkantilen; eine manierierte Aversion gegen das «Konventionelle», gegen das «Gewöhnliche» der alltäglichen Umgebung – sie «lehnen die Alltags-Sprache, die kommerzielle Sprache ... verächtlich ab».25
In Opposition zu den «technologischen», den «heroischen» industriellen Vorurteilen der Modernisten feiern Venturi und seine Kollegen also die populistische Vorstellungswelt, die Vorstellungswelt des Schon Dagewesenen. Die «heutige Alltagssprache» von Las Vegas, das «symbolische Ambiente» der Vorstädte: Das sind die Quellen, aus denen, so fordern sie, die Architekten schöpfen müssen; auf sie werden «die Leute» reagieren: Dies sind die «universalen», die überall erhältlichen Symbole der «Architektur für das letzte Viertel unseres Jahrhunderts».26
Natürlich bedienen sich die Populisten auch noch aus anderen Symbolvorräten. Viele favorisieren Disneyland, «die wichtigste Konstruktion des Westens aus den vergange nen Jahrzehnten»27, «die grösste Errungenschaft der Stadtgestaltung in den heutigen USA».28
«Merkwürdigerweise ist Disneyland, eine öffentliche Stätte, nicht gratis zugänglich; man muss am Eingang eine Eintrittskarte kaufen. Aber andrerseits hat auch Versailles jemanden viel Geld gekostet.»29
«Das Ganze ist ein Wunder der Technik, auf die Massenpsychologie angewandt ... eines der am intelligentesten ausgedachten Architekturzeugnisse Amerikas.»30
«... Walt Disney gibt uns, was die Leute wirklich wollen: Fussgänger-Mass und Strassenlandschaften, altmodisch und doch neu und vollständig geplant, auf sanfte Weise durch höchstentwickelte Technik erschlossen, sauberer und sicherer als die Städte, in denen Menschen wie du und ich wohnen.»31
Während die USA ihre Disneylands und ihr EPCOT (Experimental Prototype Community of Tomorrow) haben, bekommen wir in Grossbritannien bald einmal einen Theme Park (in Chertsey) und ein WonderWorld (in Corby).
«WonderWorld ... wird ein wundervoller Abenteuer-Spielplatz für die ganze Familie sein, es wird dem Leben eine ganz neue Dimension geben, indem es in einem einzigen, wunderschön angelegten Rahmen all die vielen Aspekte und Anwendungsmöglichkeiten der neuen Technik zusammenbringt ... das Morgen für uns alle schon heute lebendig macht.»32
All das ist uns nur allzu vertraut. Man hat uns Coca-Cola, Mac-Donalds und die Ford Produktelinie verkauft – wir haben sie gekauft. Wir haben Kissinger, Reagan und die Haltung des «Resoluten» gekauft – man hat es uns verkauft. Wir besitzen Milton Friedman, den Monetarismus und den ökonomischen Realismus – sie alle besitzen uns. Wir haben Ian MacGregor, John De Lorean, J.R. ... Billy Graham – wir zahlen dafür. Nun kommen Disneyland und Las Vegas mit ihrem kulturellen Ballast:33
«... das sind Denkmäler oder werden es jedenfalls, nicht nur für Ronald Reagan und Margaret Thatcher und die Ara, in der es wie der akzeptabel geworden ist, Reichtum zur Schau zu stellen und die Macht der grossen Wirtschaftsunternehmen zu demonstrieren, sondern auch für eine Epoche, in der die Architektur als eine Volkskunst wiederentdeckt wurde.»34
Der soziale Inhalt der gestalterischen Praxis ist, wir wollen das hier wiederholen, die Frage, die allen Problemen der ästhetischen Form zugrundeliegt.35
Wie andere engagierte Populisten bestehen Venturi et. al. darauf, dass die Gestalter ästhetische Experten bleiben, Schiedsrichter in Fragen der Bedeutung der Architektur. Sie sollen die Bilder auswählen, interpretieren und reproduzieren, die das tägliche Leben der «suburbanites», der Menschen in den reichen Vorstädten, der «Mittel-Mittel-Klasse», der «schweigenden weissen Mehrheit» widerspiegeln:
«... indem der Architekt von der Volkskultur lernt, entfernt er sich keineswegs von seiner Position in der hohen Kultur. Aber dieses Lernen kann die hohe Kultur verändern und sie aufnahmefähiger machen für aktuelle Bedürfnisse und Probleme.»36
Die Lektion ist klar. Die Gestalter sollen ihre verordnende Rolle «dem Volk» gegenüber beibehalten, sie sollen «die Rolle des Architekten für hochstehendes Design» konsolidieren. Sie sollen die «Architektur des Volkes» so definieren, «wie das Volk sie wünscht». Kurz, die Architektur soll ein exklusiver Bereich bleiben, der Bereich einer kulturellen Elite.37
Das postmoderne Denken in der Architektur beschränkt sich nicht auf die Verherrlichung aktueller, «kommerzieller Sprache». Es gibt eine weitere Linie, die aristokratische, die den Populismus der klassischen Form an ruft:
«Uns allen ist mittlerweile klar geworden, dass moderne Architektur und Stadtplanung nicht fähig sind, Stätten zu schaffen, die der Menschenwürde gerecht werden. Die Zeit ist gekommen, aus den Protesten der Bewohner gegen solche Architektur zu lernen. Nie haben die Menschen gegen die Tradition der klassischen Architektur protestiert ... Die Architektur hat ihre höchste Ausformung in den klassischen Prinzipien und in der klassischen Ordnung erreicht, die die gleichen unerschöpflichen Möglichkeiten haben wie die Gesetze, die die Natur und das Universum selbst regieren.»38
Dies ist eine spezifisch europäische Reaktion auf den Modernismus, eine, die sich vor allem auf den klassischen Präzedenzfall beruft. Nirgends sind diese Echos des Klassizismus deutlicher sichtbar als in der räumlichen Planung der neorationalistischen Architektur mit ihren Evokationen von Renaissance-Hierarchie, -Axialität und -Symmetrie. Aber eine solche Planung ist, wie uns die Historiker der Renaissance zeigen, nicht frei von kulturellen Ballast:
«Jeder Plan, ... den mittelalterlichen städtischen Raum wiederherzustellen, so traumhaft seine Ziele auch sein mochten, musste unweigerlich die städtischen Eliten bevorzugen, wenn er nicht gleichzeitig auch fundamentale soziale Änderungen vornehmen wollte. ... Die Umverteilung des Raumes wirkte sich weit überwiegend zugunsten der Vornehmen und Mächtigen aus: weite öffentliche Plätze, breitere, gerade Strassen, grössere Gebäude oder weitere Innenräume. Dies war feudaler Raum: imposante und triumphierende Leeren ... vollkommen beherrscht.»39
Offenkundig weckt die neorationalistische Architektur die Vorstellung der Nostalgie einer Elite, und von dort kommt sie ja auch. Die Neorationalisten möchten die Architektur der Privilegien wiederherstellen.
Dieser wiedererweckte Klassizismus stammt von Leuten, die anscheinend über ganz besondere Kräfte der Einsicht verfügen, «Männer von Kunst und Kultur», die «Zugang haben zu einer privilegierten Art des Sehens, des Beobachtens»40 – sie besitzen eine «totalistische Vision, deren vielleicht nur Künstler fähig sind»41. Worauf beruht denn diese ökumenische Vision? Was enthüllt diese privilegierte Einsicht, was verkünden diese Männer – und Frauen – von Kultur? Nichts anderes als den Begriff der künstlerischen Autonomie, dieses Relikt der Aufklärung. Nichts anderes als die banale Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft, die als selbstverständlich betrachtete Entfremdung des Produkts vom Prozess. Nichts anderes also als den Bruch zwischen Kunst und täglichem Leben:
«... die Stadt als Architektur zu betrachten heisst, die Bedeutung der Architektur als einer Disziplin anzuerkennen, die über eine selbst bestimmende Autonomie verfügt (also nicht im abstrakten Sinne autonom ist) ...»42
«Die morphologische Analyse der Stadt und ihrer Architektur kann nicht durch andere Voraussetzungen als jene ihrer eigenen Form erklärt werden. Es ist deshalb kein Hinweis erforderlich auf das Leben ihrer Einwohner, auf ihre “Gesellschaft”, auf ihren Stils oder ihre “Kultur”, auf all jene Phänomene, die kein materielles Gegenstück haben, das durch Topographie und Kartographie zu entdecken wäre. ... Die Stadt und ihre Architektur sind ... der Ausdruck einiger weniger permanenter und unveränderlicher Elemente ...»43
«Die Architektur ist nicht mehr ein Bereich, der einer hypothetischen “Gesellschaft” gegenübergestellt werden muss, um begriffen und verstanden zu werden; der Ausdruck “die Architektur schreibt Geschichte”, in dem Sinne, dass sie spezifische soziale Verhältnisse einer spezifischen Zeit oder einem spezifischen Ort zuordnen müsste, gilt nicht mehr. Man braucht nicht mehr von der Natur der Funktion zu sprechen, von sozialen Sitten – also von irgendetwas, das jenseits der Natur der architektonischen Form selber liegt... “Die Architektur ist” ... von der Rolle des sozialen Buchs befreit und kann sich ihrem eigenen autonomen und spezialisierten Bereich widmen.»44
Die Architektur ist anscheinend ebenso sehr etwas Selbstbestimmendes wie etwas auf sich selbst Verweisendes. Sie ist, so erfahren wir, eine autonome Disziplin, eine, die beständig die universellen, die transzendentalen, die unveränderlichen Formen des Klassizismus reproduzieren muss. Entsprechend müssen jene, die sie ausüben, jedem Wandel abschwören, denn «Ich habe den Wandel im mer als ein Merkmal von Schwachsinnigen betrachtet, als eine Art von gewolltem Modisch-Sein», und «Ich verabscheue jeden, der von Kunst als einer Befreiung spricht».45 Diese heftigen Ablehnungen kollidieren mit einem feudalen Losgelöstsein:
«Man könnte von jedem Projekt so sprechen, als wäre es ein unvollendetes Liebesverhältnis; es ist am schönsten, kurz bevor es beendet wird. Und für jeden wirklichen Künstler bedeutet dies den Wunsch, etwas wie der neu zu schaffen, nicht um einen Wandel zu bewirken (dieser Wunsch ist das Merkmal der Oberflächlichen), sondern aus einer seltsamen Tiefe der Gefühle für Dinge - um zu sehen, was im gleichen Kontext geschieht, oder um gekehrt, wie der Kontext bei der Handlung Modifikationen hervorruft.»46
Es ist nicht überraschend, dass diese aristokratisch anmutende Losgelöstheit von einem resignierten, einem lebensmüden Einverständnis mit der Wirkungslosigkeit erfüllt ist:
«Man kann gar nichts mehr dagegen tun: Um das Elend der modernen Kultur zu beheben, wäre eine grosse Volksbewegung notwendig, und das Elend der Architektur ist der Ausdruck dieses Wissens. ... Wonach hätte ich also in meinem Beruf streben können? Jedenfalls nach kleinen Dingen, nachdem ich gesehen habe, dass die Möglichkeit grosser Dinge historisch nicht gegeben ist.»47
«Eigentlich spricht dieses Projekt «Villa mit Interieur, wie diese Notizen, von der Auflösung der Disziplin ... Ich bin nicht sicher, wie real diese Auflösung ist. Vielleicht ist sie auch ein Teil meines Bewusstseins, dass etwas Gros ses nicht mehr möglich ist und dass die Begrenzungen des Berufs eine Form des Selbstschutzes sind.» 48
Die Gegenwart verachtend, verzweifelnd an der Zukunft, wenden sich die neorationalistischen Kritiker, Theoretiker und Praktiker ihrer idealisierten Vergangenheit zu – sie versuchen die Architektur in überarbeiteten klassischen Formen aufzuheben. Darin unterscheiden sie sich von den erklärtermassen populistischen Postmodernen. Die letzteren verherrlichen durch ihr Recycling der kommerziellen Umgangssprache den Konsumkapitalismus – sie identifizieren sich mit ihrer Gegenwart. Aber diese Unterscheidung verbirgt eine wichtige Gemeinsamkeit. Sowohl die Aristokraten wie die Populisten lehnen die Utopien des Modernismus ab: Sie haben «Utopias eigentlichen und neugefundenen Raum: Die Erziehung des Wünschens» aufgegeben; sie haben das emanzipatorische Potential der Architektur unterdrückt, ihr Potential, «den Wunsch das Wünschen zu lehren, ihn zu lehren, besser zu wünschen, mehr zu wünschen, und vor allem auf andere Art zu wünschen».49
Sozialismus – die Hoffnung des Modernismus
Das postmoderne Gespräch tendiert zur Wiederholung: Seit mehr als zwanzig Jahren hören wir nun schon, die utopischen Ideen seien naiv und bedeutungslos, der Kampf für eine emanzipatorische Architektur sei aus der Mode gekommen, die Bewegung der Moderne sei gescheitert. In diesen regelmässig auftauchenden Nachrufen fällt uns allerdings ein Unterton der Verzweiflung auf - Warum gibt dieses blöde Ding nicht endlich den Geist auf? Das unvollendete Projekt des Modernismus erhebt beharrlich seine Stimme; die Hoffnung des Modernismus lebt weiter.
Die Vorstellungen und Gewohnheiten, die im Zentrum der europäischen Moderne stehen, wurzeln im sozialen Kontext der ersten zwei Jahrzehnte nach dem ersten Weltkrieg. Das war eine Periode der sozialen Transformation; in Ländern wie Deutschland, Ungarn und vor allem Russland sogar der Revolution. Viele Vertreter der architektonischen Avantgarde identifizierten sich mit diesem emanzipatorischen Wandel und widmeten ihm ihr Werk:
«Von 1914 an hat sich die neue Architektur, die die neuen und wesentlichen Fakten aus drückt, auf denen unsere Zukunft gebaut werden muss, ... ihrer Aufgabe mit der rechten Entschlossenheit angenommen, unsere Welt in Übereinstimmung mit den sozialen Bedürfnis sen von heute neu zu formen. ... Und dies ist eigentlich das, was die Welt vom Architekten erwartet: dass er die Zeichen, die Symbole eines neuen Zeitalters gestaltet.»50
«Wer das Manifest in der letzten Ausgabe von De Stijl liest, kann sich über die Haltung unserer Bewegung zum neuen Kommunismus keinem Zweifel mehr hingeben ... Ich selbst bin überzeugt, dass wir eine Sowjetregierung bekommen werden, wenn auch der Übergang von einigen von uns verlangen wird, dass wir ihm unser Leben zum Opfer bringen. Ich versuche vorzuarbeiten und für die Zeit nach der Revolution bereit zu sein, indem ich Gebäude für die Massenproduktion entwerfe – keine Privatvillen mehr».51
Kurz, prominente Modernisten suchten nach einer neuen Architektur für eine neue Gesellschaft, das heisst, für ihre sozialisti schen Utopien. Sie betrachteten die Architektur als ein Mittel zur sozialen Befreiung; sie versuchten die stilistische Form zu befreien, die sich ändernden sozialen Bedürfnisse vorwegzunehmen. Für sie war der ästhetische Wandel Teil des sozialen Wandels – eine Einheit von Form und Inhalt. Ihre Ästhetik, ihre utopische Vision sollte ein emanzipatorisches Potential verkörpern und zugleich enthüllen: Transformationen in der alten Sozialordnung sollten durch ästhetische Transformationen in der Architektur ausgedrückt, wiedergegeben, ja sogar beschleunigt werden.
Was von dieser Vision übriggeblieben ist, ist bedeutungslos: programmatische Verlaut barungen und Manifeste, Papier gebliebene Pläne und die paar tatsächlich ausgeführten Projekte, die zu Musterbeispielen geworden sind.52 Zusammengenommen illustrieren sie die Verschmelzung von Form und Inhalt, für die viele Modernisten gearbeitet haben. Dies, die Substanz ihrer Ästhetik, wurde als Wunsch ausgedrückt, als «Wunsch, die moderne Architektur nicht einfach als etwas Fertiges zu betrachten, sondern als einen Prozess, der eng mit allen sozialen, politischen und technischen Manifestationen einer ganzen Kultur verbunden ist».53
In Osteuropa sind solche emanzipatorischen Wünsche in den letzten fünfzig Jahren natürlich kaum manifest geworden, während in der «Freien Welt» die politische Praxis sich auf eine ständige Beschimpfung der sozialistischen Hoffnung beschränkt hat. Auf allen Seiten wurden die modernistischen Utopien unterdrückt und zum Schweigen gebracht. Es ist allzu bequem geworden, diese Hoffnungen zu verspotten, jene zu verhöhnen, die sich darum bemühten, eine adäquate Form zu finden für:
«... die Kommune, in der sich eine Gemeinschaft zusammentut, um all ihre Aktivitäten an einem einzigen Ort sich abspielen zu lassen, so dass Arbeitsplätze, Vereinslokalitäten, Restaurants und Wohnungen in einem einzigen Komplex vereinigt sind».54
Es ist heute nur zu einfach, sich lustig zu machen über eine Architektur für ein Leben, in dem:
«... all jene Funktionen, die bisher von Frauen im Haushalt ausgeübt wurden - oder doch der grösste Teil dieser Funktionen - von öffentlichen Einrichtungen übernommen werden sollen: darunter vor allem die Funktionen der Nahrungsmittelbereitstellung und der Kindererziehung».55
Es ist heute («nach dem Scheitern der modernen Bewegung»56) nur zu einfach, die Moralität einfach wegzuwerfen («Moralität ist ganz einfach nicht das, worum es geht»57).
Was ist zu tun? Die Architekten müssen wählen. Wollen sie - wie eine Minorität, eine Handvoll – für eine sozial verpflichtete, eine humane Architektur kämpfen? Oder wollen sie die postmoderne Konsumgesellschaft akzeptieren: ergreifen sie die sich bietenden grossen Chancen, gehen sie aufs grosse Geschäft aus, versuchen sie in die Schlagzeilen zu kommen - Stars zu werden? Wollen sie, wie die Mehrheit, bei der Spekulanten-Moderne bleiben - einer Architektur des Profits, der Freien Marktwirtschaft, der spekulativen Entwicklung? Oder wollen sie ...?
Wie lautet unser Rezept? Wir haben freimütig Kritik geübt; wie sieht denn unsere eigene ästhetische Lösung aus, wo ist unsere Politik, unser Programm? Solchen Fragen, und vor allem der Versuchung, darauf zu antworten, müssen wir widerstehen; denn sie implizieren, dass «Lösungen» von Experten der Ästhetik kommen können. Sie rufen nach einer weiteren Avantgarde, einer weiteren kulturellen Elite. Mehr noch, viel mehr: Sie gründen auf einer aufgezwungenen Trennung der Kultur von der Gesellschaft, der Architektur vom täglichen Leben, des Designs von der Produktion, und sie verstärken diese Tren nung wiederum. Sie beruhen auf der Prämis se, dass Fragen der Ästhetik losgelöst seien und losgelöst betrachtet werden könnten von den Mängeln der kapitalistischen Konsumgesellschaft, aber auch jenen des «real existierenden Sozialismus».
Wir lehnen diese Orthodoxie ab, diesen «gesunden Menschenverstand» der bürgerlichen Gesellschaft. Für uns ist professionelles Expertentum, ist die Ästhetik der Spezialisten nichts anderes als die gelebte, die für selbstverständlich erachtete Entfremdung zwischen jenen, die «schöpferisch» entscheiden, und jenen, die freudlos arbeiten. Die Probleme des architektonischen Stils und der Ästhetik sind eng verknüpft mit der Frage, wie wir leben und wie wir leben könnten. Nehmen wir als Beispiel die Planung einer Fabrik: Ein Architekt kann gar nicht anders als der «Effizienz» der Produktion Form zu geben - der Hierarchie, der Überwachung, der Arbeitsdisziplin – dem Profit. Je angenehmer, je postmoderner der Stil, desto weniger offensichtlich die Unzufriedenheit in der Fabrik; je funktioneller, je spekulanten moderner die Form, desto augenfälliger die Ausbeutung. Natürlich können (und müssen) gewisse Annehmlichkeiten verbessert und erweitert werden; aber die Probleme von Form und Inhalt, die Probleme der Ästhetik – wie wir leben könnten – bleiben bestehen.
Fragen des architektonischen Stils – der sozialen Macht – bleiben ungelöst: Es ist unwahrscheinlich, dass die Architekturen des Sozialismus im Rahmen des überarbeiteten Privilegs des Postmodernismus gepflegt werden:
«Ein für allemal also: Wenn die moderne Welt den Eindruck hat, der Eklektizismus der Gegenwart sei steril und unfruchtbar und sie brauche und wolle einen Architektur-Stil, der – ich muss es noch einmal sagen - nur als Teil eines Wandels existieren kann, der ebenso weit und tief ist wie jener, der den Feudalismus zerstört hat; wenn sie zu diesem Schluss kommt, dann wird der Architektur-Stil historisch im eigentlichen Sinn des Wortes sein müssen; er wird nicht einfach auf die Tradition verzichten können; er kann zumindest nicht beginnen, ohne etwas zu tun, das völlig anders ist als alles, was bisher getan wurde; aber welche Form das auch immer annehmen mag, der darin wohnende Geist wird in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen und Bestrebungen der eigenen Zeit stehen, nicht die Bedürfnisse und Bestrebungen vergangener Zeiten simulieren. Auf diese Weise wird er die Geschichte der Vergangenheit erinnern, Geschichte in der Gegenwart machen und Geschichte in der Zukunft lehren.»58
Dieser Beitrag erschien in: The Sociological Review, Vol. 34, Nr. 4, November 1986
Aus dem Englischen: Kurt Schwob
Howard Harris, Senior Lecturer an der School of History and Theory of Art and Design, South Glamorgan Institute of Higher Education, Cardiff.
Alan Lipman, ordentlicher Professor für Architektur an der Welsh School of Architecture, University of Wales, Cardiff.
Anmerkungen:
1 The Prince of Wales, Give Us Design with Feeling, in: The Times, 31. Mai 1984, S. 16.
2 Jules Lubbock, Lost Cause, in: New Statesman, 8. Juni 1984, S. 29.
3 H. I. Meyer, Letters, in: Building Design, 15. Juni 1984, S. 13.
4 Tom Wolfe, From Bauhaus to Our House, Jonathan Cape, London, 1981.
5 Michael Foss, Dreary Boxes that Everyone Dislikes, in: Tribune, 9. April 1982, S. 6. (Besprechung von Wolfe' From Bauhaus to Our House.
6 Roger Scruton, Keep this Monster in Its Grave, in: The Times, 1. Mai 1984, S. 12.
7 Conrad Jameson, Boiler Suited Buildings, in: New Socialist, Nr. 7, September/Oktober 1982, S. 7-19.
8 Siehe z. B. die Ausgabe von Architectural Design (Vol. 54, Nr. 7/8, 1984), die Krier gewidmet ist; im besonderen die hagiographischen Beiträge von Colin Rowe, Jaquelin Robertson und Demetri Porphyrios, S. 7-19.
9 Leon Krier, The Reconstruction of Vernacular Building and Classical Architecture, in: Architects Journal, Vol. 180, Nr. 37, 1984, S. 55 - 84.
10 Siehe z. B. Peter Fuller, Aesthetics After Modernism, Writers and Readers, London, 1983, S. 24-27; Peter Fuller, The Right Idea, in: New Society, 19. Januar 1984, S. 94-95.
11 Eine eingehende Besprechung findet sich in: P. Harries, A. Lipman und S. Purden, The Marke ting of Meaning: Aesthetics Incorporated, in: Environment and Planning B, Vol.9, 1982, S. 457-466.
12 Philip Johnson, in: Alice Coleman, Utopia on Trial: Vision and Reality in Planned Housing, Hila ry Shipman, London, 1985, S. 3. 13 Denise Scott Brown, On Architectural Formalism and Social Concern: a Discourse for Social Planners and Radical Chic Architects, in: Oppositions, Vol. 5, 1976, S.99-112.
14 Editorial: Beyond the Modern Movement, in: Harvard Architectural Review, Vol. 1, Frühling 1980, S. 4-9.
15 E.M. Farrelly, Cross-currents, in: Architects Journal, Vol. 181, Nr. 24, 1985, S. 46f. Die hier zitierten Auszüge sind einem Vortrag von Michael Graves, einem führenden Praktiker der Post Moderne, entnommen.
16 Editorial, Harvard Architectural Review, op.cit.
17 Tom Wolfe, op.cit.
18 Jules Lubbock, op. cit.
19 The Prince of Wales, op.cit.
20 Siehe z. B. Kenneth Frampton, This Isms of Contemporary Architecture, in: Architectural Design, Vol. 52, Nr. 7/8, 1982, S. 60-83; Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, Academy Editions, London, 1981; SITE, Architecture as Art, Academy Editions, London, 1981, S. 13 – 17.
21 Im folgenden beziehen wir uns auf: Alan Lip man & Peter Parkes, Lessons from Las Vegas Recalled ... and Declined, Design Studies (im Druck, Januar 1980)
22 Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Ize nour, Learning from Las Vegas: The Forgotten Symbolism of Architectural Form, MIT Press, London, 1980
23 Ibid., S. 104.
24 Ibid.
25 Ibid., S. 152.
26 Ibid., S. XVII
27 Charles Moore and Gerald Allen: Dimensions: Space, Shape and Scale in Architecture, Architectural Record Books, New York, 1976, S. 116.
28 James Rouse, in: William Chaitkin, The Metaphysical Themepark, in: Architectural Design, Vol. 52, Nr. 9/10, 1982, S. 14 und 15.
29 Charles Moore, in: Chaitkin, ibid., S. 14.
30 Ibid.
31 Ibid.
32 John Eden, WonderWorld Welcomes Chance, in: Architectural Design, Vol. 52, Nr. 9/10, 1982, S. 38f.
33 Ein Kommentar zum Einfluss dieses hauptsächlich nordamerikanischen Phänomens auf die Praxis der britischen Architektur findet sich bei: Alan Lipman Paul Harris, Working Hard at Looking Good, Space and Society, Nr. 28. März 1984, S. 104 - 110.
34 Deyan Sudjic, 10 Monuments for the Eighties, in: Sunday Times Magazine, 16. Juni 1985, S. 29.
35 Zu unseren weiteren Ausführungen zu dieser Haltung siehe Alan Lipman & Howard Harris, Social Architecture: William Morris our Contemporary, William Morris Today, Institute of Contemporary Arts, London, 1984, S. 43 – 50; Alan Lipman & Howard Harris, Architecture, Socialism, Utopia: William Morris in 1984, in: Chartist, Nr. 102, Nov./Jan. 1985, S. 13 - 15.
36 Venturi et al, op.cit., S. 161; siehe auch Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, Academy Editions, London, 1981, S. 6:
«Ein postmodernes Gebäude ist ... eines, das auf mindestens zwei Ebenen gleichzeitig spricht: zu andern Architekten und einer engagierten Minder heit, die sich um spezifisch architektonische Bedeutung kümmern, und zum grossen Publikum ..., das sich um andere Probleme kümmert, die mit Komfort ... und einer bestimmten Lebensweise zu tun haben. ... Die Architekten können die impliziten Metaphern und die subtilen Botschaften lesen ..., während das Publikum auf die expliziten Metaphern und Botschaften reagieren kann.»
37 Venturi et al, op.cit.
38 Leon Krier: Architectural Design, Vol. 54, Nr. 7/8, 1984, S. 87 und 119.
39 Lauro Martines, Power and Imagination: City States in Renaissance Italy, Allen Lane, London, 1980, S. 382f; siehe auch Richard Goldthwaite, The Building of Renaissance Florence: an Economic and Social History, John Hopkins University Press, London, 1980.
40 Aldo Rossi, A Scientific Autobiography (translated by Lawrence Venuti), MIT Press, Cambridge, Mass., 1981, S. 61.
41 Aldo Rossi, The Architecture of the City (translated by Lawrence Venuti), MIT Press, Cambridge, Mass., 1982, S. 111; siehe auch Krier, 1984, in:
Architects' Journal, op.cit., S. 56, 58, 65.
42 Rossi, ibid., S. 165.
43 Ignasi Solà-Morales, Neo-Rationalism and Figuration, in: Architectural Design, Vol. 54, Nr. 5/6, 1984, S. 14 - 20.
44 Anthony Vidler, The Third Typology, in: Rational Architecture, the Reconstruction of the European City, Archives d'Architecture Moderne, Bruxelles, 1978, S. 28 – 32.
45 Rossi, op.cit., 1981, S.53 bzw. 38. Indem wir Aldo Rossi zitieren, beziehen wir uns auf einen führenden, vielleicht sogar den einflussreichsten neo rationalistischen Praktiker und Theoretiker.
46 Ibid., S. 78.
47 Ibid., S. 23.
48 Ibid., S. 51.
49 E. P. Thompson, William Morris: Romantic to Revolutionary, Merlin Press, London, 1977, S. 791.
50 Erich Mendelsohn, Three Lectures on Architecture: Architecture in a World Crisis, Architecture Today, Architecture in a Rebuilt World, University of California Press, Berkeley, 1944, S. 31.
51 Robert van't Hoff, in: Mildred Friedman (Ed.), De Stijl: 1917 - 1931, Visions of Utopia, Phaidon Press, London, 1982, S. 48.
52 Siehe z. B. Ulrich Conrads (Ed.), Programmes and Manifestoes on 20th-Century Architecture (translated by Michael Bullock), Lund Humphries, London, 1970; El Lissitzky, Russia: An Architecture for World Revolution (translated by Eric Dlu hosch), Lund Humphries, London, 1970; Christina Lodder, Russian Constructivism, Yale University Press, London, 1983; Kenneth Frampton, Modern Architecture, a Critical History, Thames and Hudson, London, 1980.
53 Hans Schmidt, in: Lissitzky, ibid., S. 218.
54 Lissitzky, ibid., S. 62. 55 Ernst May, in: Lissitzky, ibid., S. 194.
56 J. A. Knesl: The Powers of Architecture, Environment and Planning D: Society and Space, Vol. 1, 1984, S. 3-22. 57 Siehe Anm. 15.
58 William Morris, Gothic Architecture, in: G.D. H. Cole (Ed.), William Morris, Nonesuch Press, London, 1944, S. 492.
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> Der Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht in archithese 1988.3 Architektur für's Volk.