Ideologiekritik der modernen Architektur
Die Bauten der Nachkriegszeit im Kreuzfeuer der Disziplinen
Dass Architektur nicht nur eine gestalterische, sondern auch eine politische, gesellschaftliche und gar psychologische Komponente besitzt, zeigt die Debatte um die Wohnsiedlungen, welche in verschiedenen Schweizer Städten in der Nachkriegszeit entstanden sind. Ab den 1960er bis in die 1980er Jahre wurden diese meist grossmassstäblichen Bauten nicht nur kritisch diskutiert, sondern auch zu verschiedenen Zwecken instrumentalisiert. Architekturschaffende wehrten sich anscheinend zunehmend gegen die Einmischung von Soziologen und Psychologen in die gestalterische Entwurfsarbeit, zogen implizit aber am selben Strang: gegen die moderne Stadtplanung.
Text: Angelika Schnell
erschienen in: archithese, 2.2015, Architektur und Soziologie, S. 88–95
Die grünen Kinder
Am 9. Juni 1972 wurde der Schweizer Öffentlichkeit im Fernsehen zur Primetime ein Dokumentarfilm von Kurt Gloor präsentiert: Die grünen Kinder ist ein filmisch-empirisches Soziogramm in Schwarz-Weiss, das von der damals gerade fertiggestellten Wohnbausiedlung Sunnebüel der Ernst Göhner AG im Zürcher Umland für etwa 4 000 Menschen handelt und in deutlich sozialkritischer Absicht Bewohnerinterviews mit Bildern der Fertigteil-Betonblöcke kontrastiert. In wohl dosiertem Rhythmus beginnt der Film mit der scheinbar naheliegenden Erkenntnis, dass die frühen Lebensjahre den Charakter des Menschen prägen. Diese Jahre entschieden darüber, ob er zu «aktiver Lebensgestaltung» fähig sei oder in «passive Resignation» verfalle. Dazu sieht man langsame Schwenks über die Siedlung, die deren ästhetische Gleichförmigkeit unterstreichen, und anschliessend Aufnahmen von einem der bloss elf Quadratmeter grossen Kinderzimmer, in denen mehrere Kinder spielen. «Entscheidend» für ein Kind, so der Sprecher, «ist die Beziehung zur Mutter, entscheidend ist aber auch die räumliche Umwelt». Deshalb können «schlechte Anfangsbedingungen, zum Beispiel Einschränkung des Bewegungsdrangs durch ungenügende räumliche Verhältnisse, später kaum mehr korrigiert werden». Mit anklagender Stimme mahnt er: «Von der Psychologie aber wissen wir, dass unterdrücktes Bewegungsbedürfnis in unkontrollierte Aggressivität umschlägt. [...] Übermässige Aggressivität oder übermässige Anpassung sind mögliche Folgen der Unterdrückung natürlicher Triebäusserungen.» Die Eltern brauchen sich daher nicht zu wundern, wenn diese Kinder «ihnen dann später die Fensterscheiben einwerfen», demonstrieren oder drogensüchtig werden. «So produziert diese Gesellschaft fortwährend beschädigte Menschen für eine Gesellschaft, die beschädigte Menschen braucht», konkludiert der Film.
Freilich sei die geplante Umwelt nicht allein schuld, die Eltern werden als Komplizen identifiziert. Die Kamera wandert durch wohlaufgeräumte Wohnzimmer, in denen Fernseher, Stereoanlagen und andere teure Objekte ein Spielen der Kinder unmöglich machten: «So trägt nicht nur die kinderfeindliche Bauweise, sondern auch der sogenannte moderne Wohnkomfort zur frühzeitigen Verstümmelung kindlicher Initiative bei.» Unterstützt von Experten – eingeblendet werden Zitate des Pädagogen Horst Wetterling, des Sozialpsychologen Klaus Horn, der Ethnologin Margaret Mead oder des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich – deckt der Film nach und nach das ganze Ausmass der Komplizenschaft von Architektur, Stadtplanung und ‹anständigen› Bürgern auf, deren Opfer die Kinder sind. Der Film gipfelt in einem Malwettbewerb, bei dem die Kinder der Siedlung aufgefordert sind, ihren Lieblingsspielplatz zu zeichnen. Über 200 Zeichnungen entstehen, bei denen, so der Sprecher des Films, «eine deutliche Verarmung der Darstellung» auffällt. Man sieht eine Reihe von Kinderzeichnungen mit schematischen Wohnblöcken und Spielplätzen, aber keinen Kindern: «Unbenützte Spielgeräte, leere Sandkästen zeigen, dass Kinder, die ihren liebsten Spielplatz so darstellten, zu diesem Spielplatz keine aktive Beziehung haben. [...] Das Umweltbild setzt sich zusammen aus Blöcken, Parkplätzen und Strassen, die die Spielflächen durchschneiden. Die Beziehung Mensch – Umwelt fehlt fast völlig. Ist ein Mensch dargestellt, dann meist nur am Rand und isoliert. Der sogenannte Mondrian-Effekt, die Reduktion auf quadratische Formen und rechte Winkel wird in der Psychologie als Hinweis auf Angst und Unsicherheit gedeutet.»
Widerstand gegen den Soziologismus
Kurt Gloor war ein bekannter gesellschaftskritischer Filmemacher der Schweiz; nur aus politischen Gründen wurde ihm für Die grünen Kinder der Zürcher Filmpreis verwehrt. Freilich hatte die anhaltende Kritik an der ästhetischen und planerischen Monotonie der Nachkriegsmoderne längst breitere Schichten erreicht. Selbst in Architekturkreisen wurde der Film positiv wahrgenommen. Immerhin ist er als Koproduktion mit, unter anderen, dem Schweizerischen Werkbund und der Vereinigung Schweizer Innenarchitekten entstanden, die Fachzeitschrift werk rezensierte ihn wohlwollend als «eindrücklich».1
Zur gleichen Zeit stand die von der Ernst Göhner AG errichtete Überbauung Sunnebüel im Mittelpunkt der aus einem Studentenseminar hervorgegangenen kritischen Studie Göhnerswil2 über die undemokratische Landnahme und Finanzierung durch einen privaten Bauträger bei der Entwicklung neuer Siedlungen im Umland der Städte. In der ursprünglich durch den Gastdozenten Jörn Janssen an der Architekturabteilung der ETH Zürich initiierten Studie untersuchte dieser mit seinen Studierenden «Ökonomische Kriterien für Planungsentscheidungen am Beispiel Sunnebüel» aus marxistischer Sicht.
Aber nicht überall stiessen diese Darstellungen auf Verständnis. Das fast genau auf den Tag zeitgleiche Erscheinen von Die grünen Kinder und Göhnerswil provozierte heftige Reaktionen – nicht nur in Politik und Wirtschaft. Janssen wurde entlassen,3 und an der Architekturabteilung der ETH Zürich wie überhaupt unter Architekten formierte sich während den 1960er und 1970er Jahren ein zunehmender Widerstand gegen die Einmischung von Soziologen, Psychologen und Pädagogen in die gestalterische Entwurfsarbeit.
Auch wenn dieser Widerstand gegen den «Soziologismus»4, wie Heinrich Helfenstein, Fotograf und ehemaliger Assistent von Aldo Rossi an der ETH Zürich, trefflich das Unbehagen der Architekten benannt hat, die ihren Gegner nicht einmal genau zu identifizieren wussten, manches Mal übertrieben, intrigant oder einfach nur stur erschien, so sind es Filme wie Die grünen Kinder oder Behauptungen über den Mondrian-Effekt, die diesen Widerstand, der sich nicht nur auf die Schweiz beschränkte, zumindest verständlich machen. Wie eine programmatische Gegenaussage wirkt denn auch, was Oswald Mathias Ungers, einer der Vordenker der Autonomen Architektur, bei der Gestaltungsprinzipien aus der architektonischen Vergangenheit und nicht aus sozialen oder politischen Fragen abgeleitet werden sollen, zum selben Thema äusserte: «Diejenigen, die ihre Werke für die Öffentlichkeit planen und bauen, diejenigen, die darüber schreiben oder sie betrachten, diejenigen, die in den Räumen und Bauten leben und sie benutzen, sollten wissen, daß in all ihren Tätigkeiten, Gedanken und Gesten der Einfluß von Ordnungen aus vielen Epochen und Wertsystemen aus einer langen Tradition und Geschichte gewollt und ungewollt sichtbar werden. Die Elemente Quadrat und Kubus sind unvergänglicher Bestandteil der menschlichen Existenz.»5 Ungers behauptete ebenso kühn, dass quadratische und rechtwinklige Formen zeitlos seien und deshalb beruhigend wirken, wohingegen Gloor und eine ungenannte psychologische Schule meinten, dass sie repressiv auf Menschen wirken (der Mondrian-Effekt).
Mit etwas Distanz betrachtet, erscheinen beide Aussagen naiv, auf eine homologische Subjekt-Objekt-Beziehung respektive auf eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem vertrauend, die nicht erst heute mehrfach infrage gestellt ist und auch in aktuellen Architekturdiskursen nicht mehr gilt.6 Quadratische und rechtwinklige Formen können in verschiedenen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes bedeuten oder als Affekt auslösen, weshalb sowohl Gloors Filmaussage als auch Ungers’ Behauptung dogmatisch ist. Interessant ist aus heutiger Sicht vielmehr, dass die vermeintliche Opposition zwischen Soziologismus und Autonomer Architektur bei näherer Betrachtung so direkt gar nicht bestand. Obwohl sie offenkundig gegensätzliche politische Auffassungen vertraten – neomarxistisch die einen, bürgerlich-liberal die anderen –, kämpften beide gegen die «technisch-funktionelle»7 Architektur der Nachkriegszeit, die Standardisierung der Bauelemente, die zu ästhetischer und funktionaler Monotonie und zu Geschichtsverlust führe, und in der Folge für die Wiedergewinnung von Identität durch den Rückbezug auf Tradition.
Ungers’ Widerstand gegen ‹Soziologen› und andere Disziplinen, die sich von aussen in die Entwurfspraxis einmischen wollen, ist sogar in seiner Kritik an der modernen Architektur begründet, als deren Verbündete er sie betrachtete.8 1963 hatte er in einem Vortrag an der Technischen Universität Berlin konstatiert, dass es zu nichts führe, «eine architektonische, d.h. eine gestalterische Konzeption aus den Erkenntnissen der Soziologie heraus zu entwickeln, wie z.B. aus der Lebensweise, der Gesinnung und den Wünschen derjenigen, die das Bauwerk benützen. [...] Erst wenn wir in der Architektur wieder mehr sehen als kleinliche Zweckerfüllung, wird sie ihr wahres Wesen offenbaren, Architektur ist Kunst – nämlich die Kunst zu Bauen».9 Er machte klar, dass die Soziologie, genauso aber auch die Ökonomie und die Technik, ausserarchitektonische Disziplinen seien, die durch die Architekturmoderne in die Entwurfspraxis gelangt seien. Auch wenn diese bedacht werden müssten, könne aus ihnen nicht unmittelbar ein architektonischer Entwurf abgeleitet werden. Er forderte daher eine prinzipielle Trennung zwischen den Gestaltungsaufgaben und den ökonomisch-sozialen Erwägungen, mit denen die ästhetische Erscheinung eines Gebäudes nicht korrespondieren müsse.
Natürlich ist eine solche Trennung aus marxistischer Sicht Teil des bourgeoisen falschen Bewusstseins, welches die inneren Widersprüche der modernen Architektur nicht anerkennen wolle.10 Gloor und die von ihm zitierten Soziologen, Pädagogen und Psychologen griffen explizit die formale Ästhetik der Siedlung Sunnebüel an (und Sunnebüel stand für jede moderne Wohnsiedlung der Nachkriegszeit), die als «Ideologie der Ordnung, der Sauberkeit, der Exaktheit, der Präzision, des rechten Winkels» bezeichnet wurde und folglich von den politisch-ökonomischen Bedingungen gar nicht getrennt werden könne. Dabei waren Aussagen wie die über den Mondrian-Effekt keine naive Küchenpsychologie, sondern die schärfste Munition des linken Soziologismus: eine äusserst wirksame Ideologiekritik an der Ästhetik der modernen Architektur, die auf geschickte Weise die Psychoanalyse in ihren Dienst genommen hatte, um die «unmenschliche» und «lebensfeindliche» Umgebung der modernen Architektur als inhärentes Merkmal nachweisen zu können. Tatsächlich waren es auch eher Psychoanalytiker oder Sozialpsychologen, die Filmen wie Die grünen Kinder ihre Argumente geliefert haben, welche jenen Schlüsseldiskurs über Stadt und Identität mitvorbereitet haben, der bis heute die Architektur- und Städtebaudebatte in Europa beherrscht, und nicht zuletzt auch für die Autonome Architektur gültig ist.
Wie die moderne Architektur pathologisch wurde
Kurt Gloors Film argumentiert auffällig ähnlich wie damals bekannte Vertreterinnen und Vertreter des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, das unter seinem Gründungsdirektor Alexander Mitscherlich zumindest zum weiteren Umkreis der Kritischen Theorie gezählt werden durfte. Diese machte die Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zum Gegenstand, mit der Absicht der Aufdeckung ihrer Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen und mit dem Ziel einer vernünftigen Gesellschaft mündiger Menschen. In dem viel gelesenen Sammelband Architektur als Ideologie schrieb die Soziologin Heide Berndt 1968 explizit: «Neu ist [am Funktionalismus] nicht, dass er die technologischen Bedingungen der industrialisierten Gesellschaft mit funktionsgerechten Strukturen versieht – funktionsgerecht und damit ein funktionaler Städtebau war auch die Architektur im Mittelalter; neu am Funktionalismus als ästhetischer Kunstrichtung ist die bewusste Armut seines Ausdrucksgehalts.»11 Wie Gloor in seinem Film argumentiert Berndt viel mehr psychoanalytisch als soziologisch, denn sie geht weiter davon aus, dass die «eindimensionale» Ästhetik des Zweckrationalismus der modernen Architektur, die bei ihr und ihren Koautoren immer «Funktionalismus» heisst, zur «Deformation primärer Triebregungen» führe und der «libidinösen Energie der Individuen immer weniger Anhaltspunkte für ‹emotionale Ausdehnung› » biete.12 Als Beleg verweist sie gleichfalls auf eine Studie, bei der Zeichnungen angefertigt wurden – diesmal von erwachsenen Hausfrauen, die in einer «modernen, keineswegs billigen Wohn-Monokultur» lebten –, die «eine staunenswerte Armut in der Wiedergabe der Strukturen der täglichen Umgebung» enthüllten.13
Heide Berndt und ihre Koautoren, der Psychiater Alfred Lorenzer und der Sozialpsychologe Klaus Horn, gingen in ihrer Argumentation ein deutliches Stück weiter als Gloor. Nicht nur habe die «demonstrative Ornamentlosigkeit» der modernen Architektur pathologische Folgen für ihre Bewohnerinnen und Bewohner, vielmehr sei sie selbst als pathologisch anzusehen: «Eine glatte Fassade soll darüber hinwegtäuschen, dass nicht alles in Ordnung ist»,14 schrieb Horn, und legitimierte diese Diagnose ausdrücklich durch einen Hauptvertreter der Kritischen Theorie. Horn zitiert Theodor Adorno, der sich in seinem bekannten Werkbund-Vortrag «Funktionalismus heute» mit der Verselbstständigung der Zweckrationalität beschäftigt: «Nützlichkeit», so schreibt Adorno, habe «in der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigene Dialektik», denn auch wenn es eine schöne Hoffnung sei, dass reine Zweckmässigkeit und Nützlichkeit dazu führe, dass die «Menschen […] dann nicht länger leiden [müssten] unter dem Dingcharakter der Welt», so sei diese Hoffnung trügerisch, da die Dinge «um des Profits willen» produziert werden. Deshalb: «Weil das Nützliche, den Menschen zugute Kommende, von ihrer Beherrschung und Ausbeutung Gereinigte das Richtige wäre, ist ästhetisch nichts unerträglicher als seine gegenwärtige Gestalt, unterjocht von ihrem Gegenteil und durch es deformiert bis ins Innerste.»15 Adorno genauso wie Mitscherlich scheuen nicht davor zurück, diesen Drang zum Pathologischen bereits bei den modernen Architekten selbst zu vermuten, allen voran Hannes Meyer und ganz besonders Adolf Loos, Verfasser von ornament und verbrechen [1908].16 Bereits Anfang der 1980er Jahre konstatierte Michael Müller deshalb, dass Adorno «an Loos vor allem Momente der Repression im Sinne rigider Triebunterdrückung und Disziplinierung des Individuums» herausgestellt habe: «An Loos interessierte ihn dessen Hass aufs Ornament und die daraus abzuleitende neue Erkenntnis über die Ausdruckskraft des Ornaments im Zustand seiner Unterdrückung.»17
Nun liesse sich trefflich darüber streiten, ob Loos überhaupt zum Funktionalismus gerechnet werden kann und darf. Es sollen hier jedoch die architekturtheoretischen Argumente weniger interessieren als die Frage, wie die scheinbar ganz selbstverständliche psychosexuelle Diagnose moderner, schmuckloser Architektur als Folge von «Triebverzicht» und «Lustfeindlichkeit», die aufgrund der damit einhergehenden latenten Unterdrücktheit pathologische Folgen für ihre Nutzerinnen und Nutzer haben muss, konstruiert worden ist. Denn dabei handelt es sich nicht einfach um die Anwendung Freud’scher Theorien auf die moderne Architektur. Um diese als pathologisch zu diagnostizieren, bedarf es mehrerer Schritte.
Zunächst kann anscheinend Loos’ Ablehnung des Ornaments mit Sigmund Freuds Kulturtheorie, welche dieser in Das Unbehagen in der Kultur [1929 / 1930] formuliert hat, gelesen werden: «Wie Freud sieht auch [Loos] den Aufbau der Kultur und der Zivilisation nur auf der Grundlage der Unterdrückung der menschlichen Triebe und deren Umwandlung in gesellschaftlich nutzbringende Tätigkeit gewährleistet.»18 In Loos’ «Entfernen des Ornamentes aus dem Gebrauchsgegenstande» mag man die optimistischere Variante von Freuds demütigendem Kulturpessimismus sehen, nach dem Kunst und Wissenschaft lediglich Kompensationen für die Nichterfüllung des Lustprinzips seien. Wenn Loos konstatiert, dass je grösser die Unterjochung (je weniger überflüssiges Ornament), desto fortgeschrittener die Kultur, dann folgt er offenbar dem Realitätsprinzip und nennt es «Evolution der Kultur». Klaus Horn, der mit Adorno folgerte, dass Triebverzicht für den «Hass aufs Ornament»19 verantwortlich sei, hatte anscheinend Recht.
Dennoch gibt es einen gravierenden Unterschied, denn für Horn soll «die glatte Fassade […] darüber hinwegtäuschen, dass nicht alles in Ordnung ist»,20 sie stehe folglich unmittelbar für Unterdrückung und Betrug, während für Loos (und implizit für Freud) damit ein evolutionärer Schritt zu einer höheren Kulturstufe erreicht werden kann. Was berechtigte folglich den Sozialpsychologen Horn, damals Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut, zu einer Deutung, die konträr zur Theorie des Namensgebers des Instituts ist?
Es war in erster Linie ein weiterer Vertreter der Kritischen Theorie, der Soziologe und Philosoph Herbert Marcuse, der 1955 in Eros and Civilisation. A Philosophical Inquiry into Freud zwar Freuds Dialektik zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip folgt, dessen konservativen Kulturpessimismus jedoch in einen revolutionären Kulturoptimismusverkehrte.21 Im Widerspruch zu Freud postulierte Marcuse, dass die Befreiung der Triebe auch zu politischer und kultureller Freiheit führen könne (als Utopie). Sein zentraler Kritikpunkt an Freud ist, dass dieser den Begriff der Arbeit und der Produktivität nur bürgerlich, als Ethos, Leistung, Selbstverwirklichung verstehe. Im marxistischen Sinne sei Arbeit, so wie sie in der kapitalistischen Gesellschaft existiere, jedoch Ausbeutung und Entfremdung, insofern keine Entschädigung für Triebverzicht. Für die unterdrückten Produktivkräfte sei also nur Trieberfüllung die Möglichkeit zur Befreiung. Allerdings bedürfe es einer sexuellen Revolution als Utopie, um die Schaffung einer freien, lustorientierten Gesellschaft zu ermöglichen. Daraus folgt natürlich, dass auch kulturelle Leistungen wie zum Beispiel Architektur von nun an einem anderen Ethos als dem vordem bürgerlichen Ethos des Triebverzichts (durch «glatte Fassaden») entsprechen müssten.
Rückbesinnung auf die Tradition
Marcuses freudomarxistische Deutung ermöglichte den Funktionalismus-Kritikern zunächst eine Ideologiekritik an der modernen Architektur, die das aus ihrer Sicht falsche Bewusstsein pathologisierte. Aber was waren die Folgen für Architektur und Stadtplanung? Wie könnten diese befreit werden? Marcuse liefert auch hier ein wichtiges theoretisches Argument. Da Freuds «Realitätsprinzip die Erkennensfunktion des Gedächtnisses einschränkt» – durch Triebverzicht werde die Erinnerung an die frühe infantile Phase unterdrückt –, könne und müsse durch «die psychoanalytische Befreiung des Erinnerungsvermögens die Vernunfthaltung des unterdrückten Individuums über den Haufen» geworfen werden.22 Erinnerung und Gedächtnis, ja sogar «Regression» haben in Marcuses Argumentation eine «progressive Funktion» und werden damit vom Geruch rückschrittlichen oder nostalgischen Denkens befreit – ein entscheidender Schritt, der auch die Debatte um moderne Architektur und Stadtplanung massgeblich beeinflusst, vermittelt durch die sozialpsychologischen Vertreterinnen und Vertreter der Frankfurter Schule. Für Adorno ist es die «ratio […] der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft», welche «Erinnerung, Zeit, Gedächtnis […] als eine Art irrationalen Rest liquidiert.»23 Und Mitscherlich plädiert in seiner viel gelesenen Publikation Die Unwirtlichkeit unserer Städte dafür, ein Wort wie «Heimat» wieder positiv zu besetzen, indem er die «Fähigkeit, uns beheimaten zu können», das heisst, sich positiv erinnern zu können, als wesentliche Lebensqualität und vor allem soziale Kompetenz darstellt: «Wer nie die Grunderfahrung einer Umwelt hatte, in der er sich aufgehoben fühlte, entwickelt diese Fähigkeit, Erfreuliches zu entdecken, kleine Freundschaften zu entwickeln, kurz diese Leichtigkeit im Umgang später nur mit Schwierigkeiten.»24
In der durch moderne Stadtplanung gestalteten Umwelt ist diese Grunderfahrung aber offenbar nicht möglich: «Die Gesellschaft im Grünen erhält keinen Anschauungsunterricht», moniert der Sprecher im Film Die grünen Kinder. Es gibt dort «keine Arbeitsplätze und beruflichen Vorgänge, die ein tieferes Interesse wachrufen könnten. Es gibt nichts, aber auch gar nichts, was beiläufig zur Erziehung und Ausbildung beitrüge. Neben der Grundschule und dem Fernsehapparat ist der Zeitungskiosk oder der Taschenbuchständer im Supermarkt das Einzige weit und breit. […] Die Kinder und Jugendlichen spüren den Mangel an geistiger Anregung und die unintellektuelle Eintönigkeit ihrer Umgebung meistens kaum. Sie haben selten die Möglichkeit zum Vergleich. Sie halten sich an das Gegebene. Und nur für die wenigen Aussenseiter ist die Lage einigermassen schwierig, wenn nicht verzweifelt.» Ganz nebenbei propagiert Gloor in seinem Film den offenbar logischen Gegenentwurf zu Sunnebüel, nämlich die traditionelle Stadt, die als Umgebung Kinder und Jugendliche besser auf das Leben vorbereiten könne. Sie biete mehr Abwechslung, mehr Nähe, mehr kulturelle Differenz und Geschichte. Die traditionelle Stadt, so lautete offenkundig das Fazit von Gloor, ermögliche eben jene positive Identifikation und damit eine konstruktive Entwicklung des Individuums, von der Mitscherlich gesprochen habe.
Es ist offensichtlich, dass der sich ab diesem Zeitpunkt breit entfaltende Erinnerungs- und Identitätsdiskurs, der für die einen Befreiung vom Rationalitätsdiktat, für die anderen Rückkehr zur Tradition bedeutete, die erstaunliche Koalition von Links und Rechts ermöglichte, die sich während der 1980er Jahre etabliert hat und bis heute ihre Wirkung als Ideologie von der ‹Europäischen Stadt› entfaltet. Wer aufmerksam die Geschichte der Internationalen Bauaustellung [IBA 1987] in Westberlin verfolgt hat, konnte dort erkennen, wie auf der einen Seite die links-alternative Hausbesetzerbewegung als Gegenkonzept zu Kahlschlagsanierung und moderner Stadtplanung die einst so verhasste Gründerzeitblockbebauung neu entdeckte und romantisierte, während auf der anderen Seite die bürgerlich-konservativen Kräfte die Idee der sich aus der Besetzerbewegung entwickelnden Bauausstellung und die damit einhergehende Rückbesinnung auf die traditionelle Stadt und ihre Architektur unterstützten.25 Wenn Kurt Gloor folglich in seinem Film dem wertkonservativen Jeremias Gotthelf das Privileg einräumte, sowohl den Eingangs- als auch den Schlusssatz «Darum muss zu Hause beginnen, was leuchten soll im Vaterland» zu formen, dann erscheint das in diesem Kontext konsequent. Es bedeutet aber auch, dass sich die derzeit an manchen Stellen stattfindende Neubewertung der modernen Nachkriegsarchitektur und -stadtplanung nicht zuletzt mit besagter Links-Rechts-Koalition des Identititäts- und Erinnerungsdiskurses auseinandersetzen muss, will sie tatsächlich ein Umdenken bewirken.
Dr. Angelika Schnell studierte Theaterwissenschaften und Architektur in München, Berlin und Delft. Von 1993 bis 2001 war sie Redaktorin bei ARCH+. Sie hat zahlreiche Texte zur Architekturtheorie und -geschichte veröffentlicht. Seit 2009 ist sie Professorin für Architekturgeschichte, Architekturtheorie und Entwurf an der Akademie der bildenden Künste Wien.
1 Werner Jehle, «Die grünen Kinder. Zu einem Dokumentarfilm von Kurt Gloor.» In: werk 4 / 1972, S. 229 – 230.
2 Autorenkollektiv an der Architekturabteilung der ETH Zürich, «Göhnerswil» – Wohnungsbau im Kapitalismus. Eine Untersuchung über die Bedingungen und Auswirkungen der privatwirtschaftlichen Wohnungsproduktion am Beispiel der Vorstadtsiedlung «Sunnebüel» in Volketswil bei Zürich und der Generalunternehmung Ernst Göhner AG, Zürich 1972.
3 Eine detaillierte Beschreibung der politischen und architekturtheoretischen Implikationen dieses Konflikts an der Architekturabteilung der ETH Zürich findet sich in: Angelika Schnell, «Von Jörn Janssen zu Aldo Rossi. Eine hochschulpolitische Affäre an der ETH Zürich.» In: ARCH+ 215, Frühjahr 2014, S. 16 – 23.
4 Heinrich Helfenstein, «‹Un revolver, c’est solide, c’est en acier›. Zu einem wenig bekannten Entwurf Aldo Rossis für das Berner Klösterliareal.» In: Ákos Moravánszky / Judith Hopfengärtner (Hg.), Aldo Rossi und die Schweiz. Architektonische Wechselwirkungen. Zürich: 2011, S. 108.
5 Oswald Mathias Ungers, «Verpackung für die Phantasie. Würfelgedanken.» In: Daidalos 35, März 1990, S. 110. Zitiert nach: Jasper Cepl, Oswald Mathias Ungers. Eine intellektuelle Biographie. Köln: 2007, S. 460.
6 Siehe zum Beispiel auch den Beitrag der Architektursoziologin Heike Delitz , «Jenseits von Krise und Repräsentation – zum Verhältnis von Architektur und Gesellschaft.» In: ARCH+ 204, Oktober 2011, S. 22 – 23.
7 Zusammen mit Reinhard Gieselmann veröffentlichte Ungers ein Manifest «Zu einer neuen Architektur», in dem die beiden Autoren festhalten: «Folgt man den Methoden der technisch-funktionellen ‹Architektur›, so ergibt sich Uniformität, Einförmigkeit. […] Die so entstehende ‹Architektur› ist Ausdruck einer materialistischen Gesellschaftsordnung, deren Prinzipien Primat der Technik und Gleichmachung sind.» Reinhard Gieselmann / Oswald Mathias Ungers, «Zu einer neuen Architektur». In: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Gütersloh / Berlin / München: 1971 (1964), S. 158.
8 Diese Haltung gilt gleichermassen für andere Vertreter der Autonomen Architektur wie zum Beispiel Aldo Rossi oder Peter Eisenman.
9 Oswald Mathias Ungers, «Prinzipien der Raumgestaltung» [1963]. In: ARCH+ 65, Oktober 1982, S. 41 und 48.
10 Dass die moderne Architektur an ihren inneren Widersprüchen und nicht an äusseren Widrigkeiten gescheitert sei, darauf hat Michael Müller schon früh hingewiesen: «Die Gründe des Scheiterns [wurden jetzt] bei der Avantgarde selbst gesucht und nicht etwa im Stalinismus oder im Faschismus deutscher Prägung.» Michael Müller, Architektur und Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der Moderne? Frankfurt am Main: 1984, S. 7. Müller bezieht sich hier unter anderem auf Peter Bürgers Schrift Theorie der Avantgarde.
11 Heide Berndt, «Ist der Funktionalismus eine funktionale Architektur? Soziologische Betrachtung einer architektonischen Kategorie.» In: Heide Berndt / Alfred Lorenzer / Klaus Horn, Architektur als Ideologie. Frankfurt am Main: 1968, S. 40.
12 Ebd., S. 40 – 42.
13 Ebd., S. 40 – 41.
14 Klaus Horn, «Zweckrationalität in der modernen Architektur. Zur Ideologiekritik des Funktionalismus.» In: Heide Berndt / Alfred Lorenzer / Klaus Horn, Architektur als Ideologie. Frankfurt am Main: 1968, S. 113.
15 Theodor W. Adorno, «Funktionalismus heute» [1966]. In: Ders., Gesammelte Schriften 10 / 1, Kulturkritik und Gesellschaft I (Prismen. Ohne Leitbild). Frankfurt am Main: 1977, S. 392.
16 Mitscherlich nennt Loos’ Forderung des umgehenden «Entfernens des Ornaments aus dem Gebrauchsgegenstand» ein «Wunschdenken», ja sogar «eine ‹überwertige Idee›, also ein pathologisches Gedankenprodukt.» Alexander Mitscherlich, «Vom möglichen Nutzen des Sozialpsychologie für die Stadtplanung.» In: Stadtbauwelt 39 / 40, 29. September 1966, S. 871.
17 Michael Müller, Architektur und Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der Moderne? Frankfurt am Main: 1984, S. 137.
18 Michael Müller, Die Verdrängung des Ornaments. Zum Verhältnis von Architektur und Lebenspraxis. Frankfurt am Main: 1977, S. 123.
19 Theodor W. Adorno, a.a.O. 1977, S. 379.
20 Klaus Horn, «Zweckrationalität in der modernen Architektur. Zur Ideologiekritik des Funktionalismus.» In: Heide Berndt / Alfred Lorenzer / Klaus Horn, Architektur als Ideologie. Frankfurt am Main: 1968, S. 113.
21 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud [Eros and Civilisation, Boston 1955]. Frankfurt am Main: 1968.
22 Ebd., S. 24.
23 Theodor W. Adorno, «Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit.» In: Ders., Erziehung zur Mündigkeit.Frankfurt am Main: 1971, S. 13.
24 Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main: 1965 [1969], S. 125.
25 Bereits 1977 gab es eine von Josef Paul Kleihues und Wolf Jobst Siedler initiierte Artikelserie «Modelle für eine Stadt» in der Berliner Morgenpost, die zum Axel-Springer-Konzern gehörte, der noch wenige Jahre zuvor im Kontext der Studentenunruhen als grösstes Feindbild galt, in der prominente Architekten und Architekturhistoriker wie Carlo Aymonino, Heinrich Klotz oder Rob Krier mit emotionalen Appellen die Berliner Bevölkerung aufriefen, für den historischen Baubestand zu kämpfen. Vgl. Josef Paul Kleihues, «Die Anfänge der Bauausstellung.» In: Idee. Prozess. Ergebnis. Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt, Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau im Berichtsjahr der Internationalen Bauausstellung 1987. Berlin: 1984, S. 199 – 206.
Siehe auch: Angelika Schnell, «Wat met geschiedenis bedoeld wordt [What is Meant by History].» In: OASE 87, 2012, S. 57 – 76.
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